zum Hauptinhalt
Protestieren und feiern. Der New Yorker Pride-Umzug führt am Stonewall Inn vorbei. Arte zeigt am 28. Juni um 21.45 Uhr eine Doku über die Ereignisse vor 50 Jahren.

© Spencer Platt/Getty Images

50 Jahre Stonewall: Urknall der queeren Emanzipationsbewegung

1969 wehrten sich Homosexuelle und Transgender in New York gegen eine Polizeirazzia im Stonewall Inn – Erinnerungen an einen historischen Moment der Befreiung.

Jede Bewegung erzählt sich durch einen Schöpfungsmythos. Einen Moment, in dem Fesseln gesprengt und Verbote übertreten wurden, der Moment, in dem Licht in die Dunkelheit tritt und Befreiung beginnt. Und je stärker dieses Licht, desto dunkler fallen die Schatten auf die Zeit davor und alles, was nicht zur heroischen Meistererzählung passt.

Erzählt und erinnert wird weniger eine Wahrheit als eine Vision einer kollektiven Identität, die durch Selbstermächtigung geboren wird. So wurde die Erstürmung der Bastille zum Beginn der Französischen Revolution erklärt und Rosa Parks Weigerung, ihren Sitzplatz im Bus an einen weißen Fahrgast abzugeben, markiert die Geburt der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

Ein passenderer Vergleich für den Urknall der modernen Homosexuellen- und Transsexuellenbewegung ist aus heutiger Sicht der Thesenanschlag Martin Luthers, der sich gegen den korrupten Ablasshandel des Papstes wendete und die Reformation einer Weltreligion auslöste. Die zentrale These dabei ist „Gay is good!“ oder heute eher „Queer is good!“, die die Weltreligion der Heteronormativität infrage stellt.

Wohnungslos, arm, nicht weiß

Vor einem halben Jahrhundert, in den Morgenstunden des 28. Juni 1969, widersetzten sich Lesben, Schwule und Transgender in der New Yorker Christopher Street der Polizeigewalt. Anlässlich der anstehenden Bürgermeisterwahlen fand in dieser Nacht bereits die vierte Razzia in einer Bar statt, die überwiegend von homosexuellen und transgender Prostituierten sowie Jugendlichen besucht wurde. Viele von ihnen waren wohnungslos und arm, viele nicht weiß und nicht privilegiert.

Das Stonewall Inn wurde von der Mafia betrieben, was häufig der Fall war bei Bars, in denen sich queere Menschen hinter geschlossenen Türen vermeintlich sicher treffen konnten. Die Mafiosi bestachen Polizisten, um unbehelligt ihren Geschäften nachgehen zu können. Dazu gehörten auch Erpressungen von reichen, schwulen, weißen Freiern, die von jungen Sexarbeitern in eine Falle gelockt worden waren.

Ein perfides Bekleidungsgesetz

Das Publikum des Stonewall Inn nahm für die kleine Freiheit, der täglichen Schikane wenigstens für einige Stunden entkommen zu können, zusammen zu tanzen, Zärtlichkeiten auszutauschen, einen schäbigen Raum mit noch schäbigeren Getränken in Kauf. Denn Homosexualität war genauso strafbar wie der Ausschank von Alkohol an Homosexuelle.

Diese wurden zudem durch ein perfides Bekleidungsgesetz drangsaliert: Personen, die mit weniger als drei zu ihrem zugewiesenen Geschlecht passenden Kleidungsstücken angetroffen wurden, konnten jederzeit verhaftet werden. Dies betraf besonders Transgender, Drag Queens und Butches, also sich männlich gebende Lesben.

Eine dieser Butches war die afroamerikanische Sängerin und Türsteherin Stormé DeLarverie, deren wütender Widerstand gegen ihre Verhaftung die Menge aus der passiven Schicksalsergebenheit riss. Es war bekannt, dass Lesben nach ihrer Verhaftung ein Gefängnisaufenthalt im nahe gelegenen Frauengefängnis New York City House of Detention for Women drohte, das für seine unmenschlichen Zustände berüchtigt war und auch „Höllenloch“ genannt wurde. Inhaftierte Lesben mussten zudem Vergewaltigungen durch Polizisten befürchten.

Doch nicht an diesem Abend, der Geburtsstunde des Gay Prides, des homosexuellen, queeren Stolzes.

Zeitgleich brach im Frauen-Gefängnis eine Rebellion aus

Anstatt sich der Übermacht zu beugen, begannen die Besucherinnen und Besucher der Bar sowie Umstehende die Polizei zu beschimpfen und mit Münzen zu bewerfen. Die Gejagten drehten Gewaltverhältnisse um, und bald hatte sich das Scharmützel um eine ganz normale Polizeirazzia in einen Aufstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse über das gesamte Viertel ausgebreitet. Viele wohnungslose queere Menschen, die am Washington Square in einer Art Freiluft-WG lebten, beteiligten sich an den Kämpfen.

Nur wenig Erwähnung in der Stonewall-Erzählung findet die zeitgleich ausgebrochene Gefängnisrebellion der Insassinnen des „Höllenlochs“. Die Frauen, geschätzt davon die Hälfte Lesben, viele davon nicht weiß, verwüsteten die Räume, setzten ihre Matratzen in Brand, warfen Klopapier durch die Gitterstäbe und riefen in Anlehnung an den Slogan der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung „Gay Power! Gay Power!“.

So entstand der Christopher Street Day

Als zwei weitere zentrale Protagonistinnen des Stonewall-Aufstandes gelten die beiden trans Frauen Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera, deren Rolle nach vielen Jahren der Exklusion aus der Erfolgsgeschichte inzwischen stärker beachtet wird. Beide haben in Interviews zwar abgestritten, direkt am ersten Funkenflug beteiligt gewesen zu sein, jedoch ist beider Bedeutsamkeit für den weiteren Verlauf, das neue Lebensgefühl und Selbstverständnis der wachsenden queeren Bewegung heute unstrittig.

Schon 1970 gründeten die Lesben Ellen Broidy und Linda Rhodes gemeinsam mit den Schwulen Craig Rodwell und Fred Sargeant die jährliche Erinnerungsdemonstration unter dem Namen „Christopher Street Liberation Day“. Auf die ebenfalls beteiligte bisexuelle Aktivistin Brenda Howard geht die Bezeichnung des „Pride“ zurück.

Seither sind auf der ganzen Welt in Erinnerung an die New Yorker Ereignisse Pride- oder Christopher-Street-Paraden ins Leben gerufen worden. Der Berliner Umzug findet Ende Juli unter dem Motto „50 Jahre Stonewall – Jeder Aufstand beginnt mit deiner Stimme“ statt.

Das geschah vor Stonewall

In den Jahrzehnten, die seit dem Aufstand vergangen sind, ist dessen Geschichte immer wieder erzählt worden, mal mehr, mal weniger akkurat, aus verschiedenen Perspektiven, Mehrfachdiskriminierungen einzelner Gruppen beachtend, neue Forschungsstände einarbeitend oder einfach zu einer einseitigen Formel verknappt. Immer entsteht dabei ein Streit um die Deutungshoheit und Textauslegung. So wurde etwa Blockbuster-Regisseur Roland Emmerich 2015 heftig für seinen „Stonewall“-Spielfilm kritisiert, dessen Sichtweise vielen aus der Community zu weiß und zu schwul geraten war.

Stonewall war im Übrigen gar nicht der erste Fall, in dem es zu Widerstand gegen transphobe, lesben- und schwulenfeindliche Polizeigewalt gekommen war. Schon 1966 war es zu dem Compton’s Cafeteria Riot in San Francisco gekommen. Und in Philadelphia hatten sich im Jahr 1968 Lesben und Schwule gemeinsam organisiert, nachdem die Lesbenkneipe Rusty’s einer Razzia zum Opfer gefallen war.

[Mehr Neuigkeiten aus der queeren Welt gibt es im monatlichen Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel - hier geht es zur Anmeldung.]

Gut vernetzte Organisationen in den USA wie die „Daughters of Bilitis“ und „The Mattachine Society“ wählten schon Jahre vor Stonewall die Strategie der Integration in die heteronormative Gesellschaft anstatt eine andere Gesellschaft zu fordern. Wobei das Sich-Neu-Erfinden ohne die Erfahrungen der Frauenbewegung, der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Anti-Kriegs-Bewegung wohl kaum möglich gewesen wäre.

Der Kampf ist noch nicht vorbei

Stonewall ist längst zu einer Chiffre für Hoffnung und Gemeinschaft geworden. Die queere Schriftstellerin Kathy Acker (1947-1997) lässt ihre Heldin Don Quixote im gleichnamigen Roman auf ihrer Reise durch die USA über die Macht der Erinnerung sinnieren: „Die Welt ist Erinnerung, ich erinnere mich nicht mehr, weil ich mich weigere, mich an irgendetwas zu erinnern, weil alle meine Erinnerungen mich schmerzen.“ Mit der Konsequenz, dass die Weigerung sich zu erinnern, also geschichtslos zu bleiben, aus der Welt entbindet. Stonewall ist das Gegenteil davon.

Durch das ritualhafte Erzählen geschieht etwas Magisches: Gefühle wie Einsamkeit, Schwäche und Scham, die mit dem Anderssein verbunden sind, verwandeln sich in Stolz, Stärke und Solidarität. Eine Affirmation des Überlebens. Und diese ist weiterhin dringend nötig, will man sich nicht ausgeliefert in einer dunklen Bar um ein kleines bisschen bedrohtes Glück scharen, sondern mit allen gleichberechtigt sichtbar, sicher und an sich selbst glaubend die Straßen teilen. Denn der Kampf um den öffentlichen Raum ist noch lange nicht vorbei.
[Stephanie Kuhnen arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Zuletzt erschien von ihr der Sammelband „Lesben raus! Für mehr lesbische Sichtbarkeit“ (Querverlag)]

Stephanie Kuhnen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false