zum Hauptinhalt
Märkische Lagune. Türkisblaues Wasser, leise plätschernde Wellen, metertiefe Sicht. Am Stechlin lässt sich's durchatmen.

© kebox - Fotolia

Auf Fontanes Fährte (4): Unterwegs am Großen Stechlinsee: Der Schöne lässt tief blicken

Er ist Norddeutschlands größter Klarwassersee. Lupenrein sauber wie kein anderer. Entzückt widmete ihm Fontane einen Roman.

Die Herren saßen  im offenen „Pürschwagen“, wärmende Decken griffbereit. Es war ja schon Ende September, und sie wurden, holterdiepolter, in der zweispännigen Jagdkalesche hinauf zur bewaldeten Anhöhe kutschiert. Der Jüngere, dunkler Vollbart, kräftige Statur, hatte sich bereits mit 47 Jahren als Unternehmer in Neuruppin einen Namen gemacht. Der Ältere, ein Journalist und Schriftsteller, Markenzeichen: üppiger Schnauzer, ging aufs 55.Lebensjahr zu. Ein letzter Ruck, Alexander Gentz und Theodor Fontane sprangen vom Wagen. Sie standen an einem Abhang und schauten auf eine weite, glitzernde Wasserfläche tief unter ihnen. „Wasser, Himmel, Stille“,  erinnert sich Fontane später in seinen literarischen Wanderungen durch die Mark Brandenburg. „Nur Grün, Blau und Sonne (...) Das ist der Stechlin.“

Die literarische Liebeserklärung machte den See bekannt

Während einer Reise durch die Grafschaft Ruppin im Jahr 1873 hat Theodor Fontane den „Stechlin“ zusammen mit seinem Freund Alexander Gentz erstmals besucht. Er war tief beeindruckt. „Glänzend und blinkenden fast, liegt die Nachmittagssonne auf dem Wasser“, notierte er. Mehr als zwanzig Jahre später widmete Fontane dem See sogar eine literarische Liebeserklärung: seinen  Roman „Der Stechlin“. 

Kaum war das Alterswerk des Dichters 1897/98 erschienen, da verhalf es dem See zu einem touristischen Aufschwung ohnegleichen. Schon die dritte Auflage seiner Wanderungen durch "Die Grafschaft Ruppin", in die er den See aufnahm, hatte seit 1875 erste Neugierige in die Gegend  gelockt. Aber nun kamen noch mehr.

Seit 120 Jahren reisen Gäste teils von weither an, um Fontanes Liebling zu entdecken. Meist wandern sie zuerst auf etwa 14 Kilometern rund um den Stechlin, dessen buchtenreicher Saum aus der Luft besehen, einem  Kleeblatt ähnelt. Oder sie spazieren zumindest ein Stückchen den Uferweg entlang. Einen aktuellen Reiseführer braucht man dazu nicht. Es reicht ein Blick in Fontanes Schilderungen. Der See ist von zeitloser Schönheit.

Kein Motorenlärm, nur Segler und Paddler dürfen hinausfahren

Gewiss, in Neuglobsow kann es heutzutage an den Wochenende schon mal trubelig werden. Doch wenige Kilometer weiter kehrt Ruhe ein. „Rundum ist er von Buchen eingefasst, deren Zweige, von ihrer eigenen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren“, schwärmt Fontane. Genauso ist es geblieben, der Wind rauscht weiter durchs Geäst uralter Eichen und Buchen. Die Bäume  stehen so dicht an den Ufern, als wollten sie den Stechlin  schützend in ihre Mitte nehmen. Mal steigt ein  Hang steil auf, mal verlocken Sandstrände zum Baden. Der Weg schlängelt sich am Wasser entlang, hinter jeder Windung neue Aussichten. Gut vier Quadratkilometer ist der Stechlin groß, genug Platz, um der Stille zu lauschen. Nirgends Motorenlärm. Nur Segler, Paddler und Ruderer dürfen hinauszufahren. Einzig der Fischer sowie das Team des Leibniz-Institutes für Gewässerökologie am südlichen Ufer legen motorisiert mit Sondererlaubnis ab. Der See steht seit 1938 unter Naturschutz.

Wo geht's zum Wasser? Egal, in jede Richtung. Hier in Altglobsow am Globsowsee ganz in der Nähe des Stechlin.
Wo geht's zum Wasser? Egal, in jede Richtung. Hier in Altglobsow am Globsowsee ganz in der Nähe des Stechlin.

© Christoph Stollowsky

Päuschen in der Sonnenbucht. Fischadler kreisen am Himmel. Plopp schnappt ein Barsch nach Fliegen. Das Wasser ist klar wie ein Kristall. Fische schwärmen am Grund, ein gestochen scharfes Bild. In punkto Wasserqualität schlägt der Stechlin nahezu alle Rekorde. Er  ist der größte Klarwassersee Norddeutschlands. Daher rührt auch sein Name „steklo“ bedeutet auf slawisch glasklar. Wie kommt es zu diesem Wunder?

Die ungewöhnliche Tiefe verhindert eine Eutrophierung

Die Gewässerexperten erklären es so: Zum einen wird der Stechlin aus Quellen gespeist.  Außerdem umringen ihn dichte Wälder, es gelangt kaum landwirtschaftlicher Dünger hinein. Und senkt man das Lot an den tiefsten Stellen, so reicht es bis zu 70 Meter hinab. Auch das verhindert die Eutrophierung. Abgestorbene Algen, die zum  Grund sinken, sind in dieser Tiefe als Nährstoff  für ungebremstes Algenwachstum nicht mehr verfügbar.

Als Theodor Fontane den See entdeckte, holperte er in der Kutsche erst mal eine ganze Weile „über Stubben und Wurzeln hinweg“. Es ging durch einen „prächtigen Forst“, vorbei an tiefen Waldseen, (...) die ihr schmalen Arme polypenhaft-phantastisch durch den Wald strecken.“ So schildert er „die Menzer Forst“, ein damals menschenarmes Waldgebiet, das zu seiner Zeit weit mehr als die Gemarkung des Dorfes Menz umfasste. Es reichte von Rheinsberg bis Fürstenberg/Havel. Seit 2001 gehört es zum Naturpark Stechlin-Ruppiner Land.

Der Stechlin ist das Herzstück des einstigen Menzer Forstes, eine in der Eiszeit geborenen, hügeligen Endmoränenlandschaft. Nur eine Fahrstunde nördlich von Berlin steckt man mittendrin in urwüchsiger Natur und Einsamkeit.  Zwanzig Quadratkilometer Moore und Laubwälder, durchzogen von kleineren, gleichfalls glasklarer Seen. Streng geschützte Tiere und Pflanzen leben hier. Der Moorerlebnisweg rund um den Roofensee führt mitten hinein in dieses Naturabenteuer.

Tümpel, Birken, glucksende Wasser. Unterwegs auf dem Moorerlebnisweg am Roofensee.
Tümpel, Birken, glucksende Wasser. Unterwegs auf dem Moorerlebnisweg am Roofensee.

© Christoph Stollowsky

Vielleicht paddelt eine Sumpfschildkröten gerade vorbei, flitzt  der Eisvogel übers dunkle Wasser,  schwirren Mosaikjungfern, eine seltene Libelle, wie Helikopter durch die Luft. Man lernt den insektenfressenden Sonnentau und  die rosarot blühende Moosbeere kennen, „torfbildende Schwingdecken oder Kolke werden auf Infotafeln erklärt. Sinkt die Dämmerung herab, ließe sich hier ein Krimi drehen. „Erschlagen, erschossen, ertrunken“, so fasste Fontane einst seine gruseligen Moor-Phantasien zusammen. Und blickte zurück: „Hundert Jahre haben hier wenig geändert.“

Ende des 18. Jahrhunderts war der Menzer Forst kahlgeschlagen

Aber da irrt der Dichter. Gut hundert Jahre vor seinem ersten Stechlin-Besuch war der Menzer Forst großteils kahlgeschlagen. Verwüstet durch Teeröfen und Kohlenmeiler, durch den Hiolzhunger Berlins und die Waldglashütte in Altglobsow, in der seit 1752 grünlich gefärbte Glasballons und Flaschen aus  eingeschmolzenem Quarzsand, Salz, Kalk und Pottascheglas hergestellt wurden. Deren Öfen fraßen jede Menge Holz, bis dies zum Schutz des Waldes ab 1779 verboten wurde. Nun heizten die Glasmacher mit Torf, ein paar Jahre später verlegte die damalige Chefin der Hütte, Johanna Pirl, ihren Betrieb ans noch unberührten Ufer des nahen Stechlin- und Dagowsees - und taufte den künftigen Standort Neuglobsow.

Gut hundert Jahre lang „lag bei Nacht ein Feuerschein und bei Tag eine Rauchsäule über dem Wald“, resümiert Fontane. Bei seinem ersten Besuch brodelte und waberte in den Öfen noch flüssiges Glas, als er 1893 letztmals vorbeikam, spazierte er bereits durch einen Sommerfrischeort. Etwa um 1880 war die letzte Hütte stillgelegt worden.

Spannende Glasgeschichten. Anschaulich wird im Museum im Glasmacherhaus in Neuglobsow vom Leben der damaligen Arbeiterfamilien und der "Glashütten-Aristokratie" erzählt.
Spannende Glasgeschichten. Anschaulich wird im Museum im Glasmacherhaus in Neuglobsow vom Leben der damaligen Arbeiterfamilien und der "Glashütten-Aristokratie" erzählt.

© Christoph Stollowsky

Heute ist Neuglobsow ein nettes Dorf mit altehrwürdigen Villen und etlichen langgestreckten Fachwerkhäusern der früheren Glasmacherfamilien. Wie diese in der Abgeschiedenheit ärmlich lebten, gesundheitlich miserabel versorgt waren und sogar ihre Kinder hart arbeiten mussten, das wird im Museum im Glasmacherhaus eindrücklich dokumentiert Wie der Ort danach von Künstler und wohlhabenden Berlinern entdeckt wurde, in welchen Häusern sie logierten oder auf Dauer lebten, wie sie dort schöpferisch tätig waren und sich vergnügten, sozusagen das einstige Who’s Who von Neuglobsow bis in die Zwanziger, dies erzählt der Historische Pfad „Spurensuche“.

Im "Haus der Sieben Wälder" lebten Lola Landau und Armin T. Wegner

Hans Fallada erlebte im "Waldhaus" skurrile Ferienabenteuer, er erzählt sie im Buch "Damals bei uns daheim". Im "Haus der Sieben Wälder" suchten die jüdische Schriftstellerin Lola Landau und der pazifistische Autor Armin T. Wegner ihr Glück als Paar auf dem Lande - bis sie vor den Nazis fliehen mussten. Das "Haus Heimatliebe" nutzte Franz Goerke, seit 1907 Direktor der Berliner "Urania".

Der Pfad führt auch am „Haus Bernadotte“ vorbei. War diese schlossähnliche Villa vielleicht Fontanes Vorbild für das Schloss Stechlin im Roman?  Keineswegs. Schloss und Dorf Stechlin entsprangen Fontanes dichterischen Fantasie. Die Villa an der Stechlinseestraße 2 wurde erst zu Beginn der 30er Jahren gebaut. Zumindest eine Reminiszenz an Fontanes „Stechlin“ gibt es aber seit 1998: In diesem Jahr schlossen sich die Dörfer Menz, Dalgow und Neuglobsow zur „Gemeinde Stechlin“ zusammen.

Erinnerung an die Glashüttenzeit. In diesen heute denkmalgeschützten Fachwerkhäusern lebten jeweils zwei Arbeiterfamilien.
Erinnerung an die Glashüttenzeit. In diesen heute denkmalgeschützten Fachwerkhäusern lebten jeweils zwei Arbeiterfamilien.

© Christoph Stollowsky

Es ist ein extrem dünn besiedelter Flecken: Vierzehn Einwohner pro Quadratkilometer, insgesamt 1220 Einwohner, darunter mehr und mehr Berliner und andere Zugezogene.  Für stadtmüde Menschen ist die Gegend so unwiderstehlich wie einst für Theodor Fontane. Frank Rumpe (58) erging es so. Der Schweizer Agraringenieur kontrollierte lange Zeit ökozertifizierte Plantagen in Übersee, doch vor fünf Jahren kam er bei einem Ausflug auf dem Radweg Berlin-Kopenhagen in Altglobsow vorbei, sah an der Seestraße ein Schild: Gehöft zu verkaufen – und krempelte sein Leben um. Er erwarb und sanierte das Anwesen. Seither wohnt er dort mit seiner Berliner Lebensgefährtin, der Tai Chi Chuan & Qi Gong-Lehrerin Pia Bitsch, gründete die „Biogärtnerei Kepos“ und kümmert sich nun in dem weltabgeschiedenen Dorf am Globsowsee in einer großen Gärtnerei um Pimpinelle, Sauerampfer, Borretsch, Mangold & Co.. Kräuter und Gemüse können  Kunden bei ihm selbst ernten. Der Name des Biohofes erinnert an die „offene Schule des Gartens“ des griechischen Philosophen Epikur.

Maskottchen vom "Biohof Kepos": Die Esel Fridolin und Marlin. Von Pia Bitsch und Frank Rumpe gibt's gerade was Leckeres.
Maskottchen vom "Biohof Kepos": Die Esel Fridolin und Marlin. Von Pia Bitsch und Frank Rumpe gibt's gerade was Leckeres.

© Christoph Stollowsky

Französisches Savoir-vivre brachten hingegen Aurore Prieur  aus der Bourgogne nach Menz. Am Rand des Dorfes, direkt am Stechlinsee-Radweg, serviert die quirlige 32-Jährige in ihrem frankophilen Café „Bric à Brac“ Quiche Lorraine mit Salat aus dem eigenen Garten.  2010 zog sie mit  dem Berliner Liedermacher Jan Koch nach Menz, die beiden verwandelten den einstigen Stall ihres restaurierten Gehöfts in ein gemütliches Café, dekoriert mit vielen schönen kleinen Dingen - Krimskrams heißt auf französisch Bric à Brac.

Nicht zugezogen, sondern zurückgekehrt ist hingegen Martin Böttcher, der Fischer vom Stechlinsee. In Neuglobsow wuchs er auf, lernte nach der Schule in Chemnitz Lebensmitteltechniker, doch es zog ihn zurück zu seinen Wurzeln. Längst wohnt er wieder in der Heimat und hat die Ausbildung zum Fischermeister mit Bravour absolviert. Ein Fahrweg am Rand von Neuglobsow führt zum Fischerhof. Große Schuppen, Fangnetze an der Wand, daneben ein Imbiss, von dessen Plötzen am Spieß und frisch geräucherte Maränen Fischgourmets schwärmen. Am Steg springt Martin Böttcher aus dem Boot. Ein drahtiger Typ, Jeans, Sweatshirt, Wollmütze. Die Fischerei seiner Familie führt der 30-Jährige in der dritten Generation. Er liebt seine Arbeit – und den Stechlin.

Savoir-vivre in Menz. Aurore Prieur in ihrem frankophilen Café "Bric à Brac.
Savoir-vivre in Menz. Aurore Prieur in ihrem frankophilen Café "Bric à Brac.

© Christoph Stollowsky

Keine Angst vor dem sagenhaften Roten Hahn, Herr Böttcher? Laut Fontane droht ja Ungemach, falls ein Fischer am falschen Ort sein Netz auswirft. „Ein Murren klingt herauf. Ist ein Waghals im Boot, steigt rot und zornig der Hahn herauf, der am Grund Wache hält. Greift das Boot an und kräht, dass es die ganze Menzer Forst durchhallt, von Dagow bis Altglobsow.“ Böttcher bleibt gelassen. Er hat sogar einen großen Hahn aus Metall auf seinen Schuppen montiert. Aber die Sage charakterisiere den See gut. Der sei tatsächlich launenhaft. „Soeben noch still glatt,  peitscht zehn Minuten später ein Sturm die Wellen hoch.“

Frühstart. Stechlin-Fischer Martin Böttcher fährt zum Fang raus. Na klar, mit Kaffee.
Frühstart. Stechlin-Fischer Martin Böttcher fährt zum Fang raus. Na klar, mit Kaffee.

© Sophie Kirchner

Am liebsten fährt der Fischer „in aller Frühe“  raus auf den See, mit einer Kanne Kaffee, wenn der Himmel erst in lila, dann tiefrot und schließlich goldgelb leuchtet und der erste Rote Milan das Wasser im Gleitflug nach Beute absucht. Bis zu zehn Meter in der Tiefe sieht er den grünen Pflanzenteppich, es sind seltene Armleuchteralgen, die nur in sauberen Gewässern leben. Dieser Reinheit des Wassers verdankt er seine „Brotfische“ – den Hecht, aber vor allem die Maräne, ein Schwarmfisch, der tiefe, klare Gewässer braucht. Böttchers Stellnetze reichen deshalb bis zu 30 Meter hinab.

Ein neuer Fisch wurde im Stechlin entdeckt - die Fontane-Maräne

2003 entdeckten Forscher des Leibnizinstitutes für Gewässerökologie im Stechlin sogar eine noch unbekannte Maränenart, die nur dort lebt. Das war eine Sensation. Eine neue Wirbeltierart mitten in Deutschland, von der man nichts wusste. Mögen andere Orte dem großen märkischen Schriftsteller ein Denkmal setzen, am Stechlin verewigte man ihn mit dem neuen Fisch: der „Fontane-Maräne“.

Die Wissenschaftler des Leibnizinstitutes treibt allerdings nicht die Romantik an den See. Es sind die Folgen des Klimawandels für Binnengewässer. Diese untersuchen sie mit einem schwimmenden Seelabor, weshalb der Stechlin zu den ökologisch bestüberwachten Gewässern der Welt gehört. Seit einigen Jahren stellen sie fest, dass Nährstoffgehalt und Trübe geringfügig zunehmen. Vermutlich durch die langsame Klimaerwärmung.

Wie heißt es im Roman? „Vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen.“ Die Sage vom roten Hahn, der auch schlimme Ereignisse auf dem Globus vermeldet, bringt das so auf den Punkt. „Wenn es draußen in der Welt was Großes gibt (...) dann steigt (...) ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein.“ Man kann es als Weckruf verstehen.

Zur Startseite