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Die Friedhöfe in Armenien sind zurzeit voll von trauernden Menschen.

© Thore Schröder

Armenien und der Krieg um Berg-Karabach: „Mein Sohn wird seinen Vater nur von Fotos kennen“

Arman Arzumanjan war Vater von acht Kindern, ein kerniger Typ. Er starb im Krieg um Berg-Karabach. Seine Familie fühlt sich von der Welt im Stich gelassen.

Auf dem Altar in der Ecke des kalten Wohnzimmers brennen Kerzen. Das gerahmte Foto zeigt Arman Arzumanjan, Vater von acht Kindern, ein kerniger Typ mit starrem Blick vor der armenischen Trikolore, rot, blau, orange. Um das Foto des Toten herum liegen seine Dienstpässe, Urkunden, eine goldsilberne Jesusikone; dazu Zigarettenpackungen und zwei Rollen Verbandszeug. „Das war noch in seinen Taschen, als sie ihn fanden“, erklärt seine Witwe Gajane. „Viel mehr bleibt uns nicht von ihm.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Auf dem Sofa sitzt ihr ältester Sohn, der 21 Jahre alte Azat, eigentlich hätte er in den Krieg gegen Aserbaidschan ziehen sollen. Jetzt ist er das Familienoberhaupt, plötzlich verantwortlich für seine Mutter und die sieben Geschwister. Hier in Armenien gibt es keine ausreichenden Hinterbliebenenrenten, die Zahlungen sind gerade für große Familien vollkommen ungenügend. Doch es ist nicht bloß die wirtschaftliche Not, die seine Mutter traurig und wütend macht: „Es geht darum, dass mein jüngster, zweijähriger Sohn seinen Vater nur von Fotos kennen wird.“

Warum, fragt sie, hat man all die Männer sterben lassen, wenn doch schon früh im Krieg klar wurde, dass die armenischen Kräfte gegen den alten Feind aus Aserbaidschan hoffnungslos unterlegen waren? „Ich werde meinen Kindern erklären müssen, dass der Körper ihres Vaters gesprengt wurde, um das Land, für das er kämpfte, unseren Feinden zu geben.“

Für die Menschen in Armenien sind die vergangenen Wochen zum doppelten Trauma geworden. Viele haben Familienmitglieder und Freunde im Krieg verloren. Zur militärischen Niederlage kommt das Gefühl, wieder einmal von der Welt im Stich gelassen worden zu sein.

Gajane Schachnazarjan trauert um den Vater ihrer acht Kinder.
Gajane Schachnazarjan trauert um den Vater ihrer acht Kinder.

© Thore Schröder

Dabei hatten die Arzumanjans gerade Hoffnung geschöpft, als der Krieg ausbrach. 15 Jahre hatten sie in ihrem Dorf nördlich der Hauptstadt Jerewan in einer Blechhütte gewohnt, vor einem Jahr bezahlte die Regierung ihnen ein Steinhaus, bald sollte auch der neu errichtete Stall aus Tuffstein ein Dach bekommen. Sie hatten noch immer keinen Anschluss an das Abwassersystem, aber Raum für ein paar Träume, erzählt Gajane, die mit Mädchennamen Schachnazarjan heißt und nach dem Tod ihres Mannes auch wieder so genannt werden will. „Wir dachten, bald können wir nicht mehr nur uns selbst versorgen, sondern auch etwas mehr auf dem Markt verkaufen. Eier, Milch, Wolle“, sagt sie.

Am 27. September endeten diese Träume. Aserbaidschanische Truppen, massiv unterstützt von türkischen Kräften und syrischen Milizionären, greifen die von Armeniern bevölkerte Teilrepublik Berg-Karabach an. Es ist der Beginn des dritten Krieges um das kleine Südkaukasusgebiet seit dem Zerfall der Sowjetunion. Dieses Mal haben sich die Machtverhältnisse aber entscheidend verändert.

Milliarden für modernste Waffensysteme

Nicht nur hat der Staat von Aserbaidschans Diktator Ilham Alijew den Beistand seines Brudervolks in der Türkei, er hat auch über Jahre Milliarden an Petrodollars in modernste Waffensysteme investiert, darunter vor allem in Drohnen. In den 90er Jahren, im blutigen Aufteilungskrieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, waren die Armenier nach schweren Verlusten noch als Sieger hervorgegangen, hatten nicht nur Karabach selbst, sondern auch umliegende aserbaidschanische Territorien besetzt. Völkerrechtlich gehörten all diese Gebiete weiterhin den Azeris, den Bewohnern von Aserbaidschan. Die sannen seit bald drei Jahrzehnten auf Rache.

Im Spätsommer des Pandemiejahres war die Gelegenheit für den Gegenschlag günstig. Nicht nur waren durch Covid-19 viele Staaten mit sich selbst beschäftigt, auch die US-Wahl zog viel Aufmerksamkeit auf sich, vor allem die der Amerikaner. Die Türken und Azeris hatten Schwachpunkte der armenischen Kräfte ausgemacht, nun hielten sie gemeinsame Manöver ab, unter deren Deckmantel sie Kriegsgerät nach Aserbaidschan verschiffen konnten.

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Alleingelassen und umgeben von Feinden: Die Realität deckte sich abermals mit dem Selbstbild der Armenier. Sie sind tief traumatisiert, der Völkermord von 1915 – begangen, aber nie anerkannt von den Türken – ist fast so sehr Bestandteil ihrer Identität wie der christliche Glaube. Der junge Azat Arzumanjan trägt beim Gespräch neben dem Foto seines gefallenen Vaters ein T-Shirt, das an den hundertsten Jahrestag des Genozids erinnert. Das Symbol dafür ist eine Blume: Vergissmeinnicht.

Azat Arzumanjan ist plötzlich das Familienoberhaupt.
Azat Arzumanjan ist plötzlich das Familienoberhaupt.

© Thore Schröder

Vater Arman war als 16-Jähriger in den ersten Krieg gegen das Nachbarland gezogen und als Held zurückgekehrt. Der Triumph über den viel größeren Nachbarn und die Eroberung der seit vielen Jahrhunderten von ihren Landsleuten besiedelten Territorien halfen den Armeniern dabei, ihren Opferstatus ein wenig abzulegen, sich auch einmal als Sieger zu fühlen. Gleichzeitig gab das damals vergossene Blut Berg-Karabach noch mehr Bedeutung – bei umgekehrten Vorzeichen natürlich auch für die Azeris.

„Wir sind unseren Vorfahren verpflichtet, wir dürfen dieses Land niemals aufgeben“, sagt Witwe Gajane. Wie die meisten benutzt sie den armenischen Begriff für Karabach: „In Artsach verteidigen wir unsere Familien und auch den Westen.“

"Ich konnte ihn nur an seinen Füßen erkennen"

Am zehnten Tag des Krieges gerät Arman Arzumanjan in einen Drohnenangriff. Vier Tage lang gilt er als verschollen, dann wird sein Leichnam geborgen. Weil die Familie zu arm ist, um die Aufbahrung im Trauersaal der Gemeinde zu bezahlen, steht der Sarg im Wohnzimmer. Nachbarn, Freunde und Familie nehmen Abschied. Entgegen armenischen Brauchtums bleibt der Sargdeckel aber geschlossen. „Ich habe mich erst nicht getraut, hineinzuschauen“, sagt Gajane, „doch als nachts alle gegangen waren, habe ich doch hineingeblickt. Ich konnte ihn nur an seinen Füßen erkennen.“

Die überlebenden armenischen Soldaten berichten nach dem Krieg von nahezu pausenlosem Beschuss. Von enormen Truppenstärken, die gegen sie in die Schlacht geworfen wurden. Von den fast lautlosen Killern aus der Luft. Neben türkischen Drohnen hatten die Azeris auch „Kamikazedrohnen“ aus israelischer Produktion im Einsatz. Gleichzeitig wurde die armenische Zivilbevölkerung in der Karabach-Hauptstadt Stepanakert und in anderen Orten mit Artillerie und Streumunition beschossen. Die Armenier feuerten zurück, auch ihre Geschosse töteten Zivilisten.

In der ersten Novemberwoche herrschte in Stepanakert bereits Untergangsstimmung. David Babajan, Berater des Karabach-Präsidenten Arajik Harutjunjan, forderte im Speisesaal des Hotels Armenia unumwunden „dramatische Konsequenzen“ in den eigenen Reihen, während er mit der Faust auf den Tisch schlug: „Der Feind wird nun den wahren Kampfgeist Artsachs erleben. Jedes Gebäude hier wird zur Festung!“

Zur selben Zeit kamen im nahen Hauptkrankenhaus immer mehr Schwerverletzte aus der Stadt Schuscha an, die die Armenier Schuschi nennen. In dem Ort auf dem Fels, im dichten, von schwarzem Pulverrauch geschwängertem Nebel, tobte der Endkampf um Karabach. „Die Granaten schlugen immer wieder wenige Meter neben uns ein, der Himmel war voller Drohnen, von allen Seiten kamen die Schwadronen des Feindes, wir waren chancenlos“, erinnerte sich einer der Verteidiger wenige Tage danach.

Der Status von Karabach bleibt undefiniert

Am späten Montagabend erklärte Premier Nikol Paschinjan seinem Volk, dass es vorbei ist. Der Regierungschef hatte gemeinsam mit dem Artsach-Führer einem Abkommen zugestimmt, das zwar unter Vermittlung von Kremlchef Wladimir Putin zustande kam, sich aber eher wie ein Diktat von Ilham Alijew und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan liest und dabei die Prämissen des in den vergangenen Jahren multilateral geführten Friedensprozesses fast ganz außer Acht lässt: sofortige Entsendung russischer Friedenstruppen für mindestens fünf Jahre, phasenweise Rückgabe umfangreicher Territorien in Karabach und Umgebung, dazu ein aserbaidschanisch-türkischer Korridor über armenisches Gebiet bis in die Exklave Nackchivan. Der Status von Karabach bleibt undefiniert.

Tausende Armenier gehen nun gegen die eigene Regierung auf die Straße.
Tausende Armenier gehen nun gegen die eigene Regierung auf die Straße.

© Dmitri Lovetsky/dpa

Paschinjans Erklärung wird von vielen Armeniern als bedingungslose Kapitulation aufgefasst. Noch in der Nacht nach der Erklärung stürmen Demonstranten den Regierungssitz am Platz der Republik und das Parlament in Jerewan. Über die Werbebildschirme in der Stadt flimmert zu diesem Zeitpunkt immer noch die Parole: „Wir werden siegen.“

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An dieser Losung hatte sich nichts geändert, auch während immer mehr Tote vom Schlachtfeld zurückgebracht wurden und der Heldenfriedhof Jerablur auf das Doppelte seiner Größe anwuchs. Paschinjan muss sich nun vor allem für seine Kommunikation, für das desolate Erwartungsmanagement verantworten.

In der Konsequenz könnte sich Armenien vom Westen abwenden. Dabei hatte sich das Volk gerade erst in der „Samtenen Revolution“ von 2018 auf einen Weg in Richtung Freiheit begeben – und hatte dafür von den Machthabern in Europa viele warme Worten geerntet. Die Enttäuschung über die demokratischen Staaten ist jetzt groß in Armenien.

Auch bei Baru Dschambarijan, der die christliche Hilfsorganisation Diaconia leitet. Dschambarijan trägt Schiebermütze, Brille und einen buschigen Kinnbart, seine Biografie ist typisch für einen aus der Diaspora ins Land gekommenen Armenier: geboren im Libanon, früh geflohen vor dem Bürgerkrieg, aufgewachsen im mittelhessischen Wetzlar, mit Ende 20 kam er nach Jerewan. Die Hauptstadt Armeniens war zu diesem Zeitpunkt noch sehr traditionell. „Hier habe ich damals meine Wurzeln und meine Identität entdeckt“, sagt Dschambarijan in akzentfreiem Deutsch.

Die Verbundenheit zu Deutschland, dem Land seiner Kindheit und Jugend, ist geblieben, auch wenn sie schwer erschüttert wird: „Vor zwei Jahren haben uns alle auf die Schultern geklopft, doch wo sind diese Leute in den letzten sechs Wochen gewesen?“, sagt er. Zumindest den Einsatz von geächteten Waffen und Söldnern hätten die Regierungen des Westens anprangern müssen, findet Dschambarijan.

"Am Ende steht unsere Sicherheit an erster Stelle"

Russland sei in seiner Kommunikation zumindest klar gewesen: „Hätten die Azeris auf unserem Staatsterritorium angegriffen, wären sie da gewesen.“ Deshalb müssten sich alle Armenier jetzt erst mal sehr genau überlegen, „wohin sie sich in Zukunft orientieren möchten. Denn am Ende steht unsere Sicherheit an erster Stelle.“

Doch Krieg hat natürlich auf allen Ebenen Konsequenzen. Durch die Pandemie war das Land in eine Rezession gerutscht, nun sind die Infektionszahlen außer Kontrolle. Die wirtschaftlichen Kosten des Krieges waren gewaltig, die menschlichen sind kaum zu beziffern. Von rund 1400 Kriegstoten war offiziell die Rede, Gerüchten zufolge könnte diese Zahl fast dreimal so hoch sein. „Jede Familie hier im Land hat ein Opfer zu beklagen, jeder kennt zumindest jemanden, der gefallen ist“, erklärt Baru Dschambarijan.

Das schlimmste aber ist, dass die Waffenruhe zwischen Armeniern und Aserbaidschanern kaum von Dauer sein könnte. Es ist kein belastbarer, nicht mal ein kalter Frieden. „Mit dem Abkommen, das nun beschlossen wurde, besteht die Gefahr, dass wir in fünf oder zehn Jahren wieder in einen Krieg ziehen werden“, sagt Baru Dschambarijan.

Thore Schröder

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