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Lucas Raase und sein Roboter im Christa-und-Peter-Scherpf-Gymnasium in Prenzlau

© Kitty Kleist-Heinrich

Anwesend trotz Krankheit: Wie ein Roboter Lucas im Klassenzimmer vertritt

Seine Krankheit hinderte Lucas Raase so oft am Schulbesuch, dass sein Abschluss gefährdet war. Dann wurde ein Roboter sein Vertreter – trotz Widerständen.

Die letzten Prüfungen liegen nun hinter ihm. Lucas Raase hat es geschafft. Die Schule, seinen Abschluss – trotz aller Widrigkeiten. Eine weiße Plastikfigur, 30 Zentimeter hoch, hat den 15-Jährigen dabei unterstützt. Der kleine Roboter war Auge und Stimme für ihn im Klassenzimmer, wenn es dem chronisch kranken Jugendlichen zwischendurch so schlecht ging, dass er die Schule nicht selbst besuchen konnte.

16 solcher Geräte der norwegischen Firma No Isolation sind derzeit in Deutschland im Einsatz. Lucas Raase erhielt vor mehr als einem Jahr eines der ersten. Für das Prenzlauer Scherpf-Gymnasium, dessen Schüler er war, ergaben sich daraus einige Herausforderungen. Sie werden Lucas Raase vermutlich auf seinem weiteren Bildungsweg begleiten. Denn sein Roboter ist ein Musterbeispiel für den Konflikt zwischen den praktischen Vorteilen einer neuen Technologie und den Bedenken vor Missbrauch und Überwachung.

„Herr Neitzel, der Roboter blinkt!“

Ein Besuch im Englischunterricht. Plötzlich blinkt der weiße Plastikkopf des Avatars, immer wieder leuchtet die kahle Schädeldecke grün auf. Der Lehrer bemerkt das erst nicht, doch die Mitschüler rufen: „Herr Neitzel, der Roboter blinkt!“ Lucas Raase sitzt derweil in seinem Kinderzimmer in Gramzow in der Uckermark, rund 20 Kilometer vom Gymnasium entfernt. Auf seinem Tablet-Computer kann er jedes Wort seines Englischlehrers verfolgen. Denn der kleine Roboter in der ersten Reihe, gleich vorne an der Tafel, filmt den Unterricht mit einer Kamera, die in der Stirn über den leuchtenden Augen versteckt ist. In seinem Bauch befinden sich ein Lautsprecher und ein Mikrofon.

Will der dünne Junge mit den glatten, strohblonden Haaren den Kopf des Roboters bewegen und sich umschauen, drückt er auf ein Symbol in der Steuerungsleiste, die am unteren Rand des Bildschirms auf seinem Tablet erscheint. Will er sich melden, tippt er auf ein Handsymbol. Viel lieber würde er dafür ganz normal seinen Arm heben und anschließend in der Pause mit seinen Freunden herumalbern. Doch Lucas Raase darf an diesem Tag mal wieder nicht in den Unterricht. Seit Monaten geht das zu diesem Zeitpunkt schon so.

Anderthalb Jahre zuvor haben die gesundheitlichen Beschwerden angefangen. Mit seinen Eltern fährt er zu verschiedenen Ärzten und Kliniken, um den Grund für seine permanenten Magenprobleme zu finden. Am 11. Januar 2018, Lucas weiß das Datum noch genau, folgt dann die bittere Diagnose: Er leidet an Morbus Crohn, einer unheilbaren Stoffwechselkrankheit, die in Schüben auftritt. Weil die Medikamente zwar die Entzündungen im Darm lindern, aber auch die Abwehrkräfte schwächen, heißt das: Sozialkontakte phasenweise meiden, also auch die Schule.

„Am Anfang fand ich es gar nicht so schlecht, mal nicht zur Schule zu gehen“, sagt Lucas. Doch als aus fünf Wochen zehn werden und aus denen fast das ganze Schuljahr, wandelt sich seine Freude ins Gegenteil. Schließlich ist auch seine Freizeit betroffen. Lucas ist mit einer seiner beiden jüngeren Schwestern bei der Jugendfeuerwehr aktiv. Die Wache liegt gegenüber vom Haus der Raases. Er sagt: „Es war deprimierend, die anderen aus dem Fenster zu sehen.“

Obwohl Freunde ihn besuchen, Aufzeichnungen aus dem Unterricht und Hausaufgaben vorbeibringen, stellt sich bald die Frage, wie Lucas mit der Krankheit die Schule schaffen soll. Das Abitur hat der Neuntklässler schnell abgeschrieben, doch zumindest den Mittleren Schulabschluss will er schaffen.

Der Schachweltmeister hat investiert

Die Lösung dafür findet die Familie in Norwegen. Dort sind sie schon häufiger zum Angelurlaub gewesen, in der Küche hängt ein großes Poster mit den verschiedenen in Skandinavien heimischen Fischen. Lucas’ Vater Steffen Raase erinnert sich an einen Bericht über die norwegische Firma No Isolation. Die hat 2015 begonnen, mit der Universität Oslo und der norwegischen Krebshilfe einen Roboter zu entwickeln, der kranken Menschen oder auch älteren, die allein zu Hause sind, helfen soll. Schachweltmeister Magnus Carlsen und sein Manager haben später in das Start-up investiert. „Inzwischen sind mehr als 850 Avatare in Norwegen, Schweden, Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden im Einsatz“, sagt die Erfinderin Karen Dolva.

Wall-E hat seine Schwester Lucas’ Figur getauft, nach dem Roboter im gleichnamigen Pixar-Animationsfilm.

Am Anfang sorgt sich die Familie vor allem um die Finanzierung. Etwa 3000 Euro kostet es pro Jahr, den Roboter zu mieten. Die Raases geben zu dem Zeitpunkt jeden Monat schon hunderte Euro für Nachhilfe in Mathe und Physik aus. Auch den Roboter hätten sie zur Not noch selbst gezahlt. „Der ist schließlich mehr wert als jede Nachhilfe“, sagt Steffen Raase. Doch der Landkreis übernimmt die Kosten. Stattdessen haben sie plötzlich ganz andere Sorgen. „Am Anfang habe ich noch gescherzt, hoffentlich gibt es nicht irgendwelchen Ärger mit dem Datenschutz“, erinnert sich Stefanie Raase. Ihre Befürchtungen erweisen sich als berechtigt.

Kaum ein Land nimmt es mit dem Datenschutz so genau wie Deutschland. Teilweise exportiert es seine Standards sogar, so wie bei der seit einem Jahr europaweit gültigen Datenschutzgrundverordnung, als deren Vater der Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht gilt. Er und andere hoffen, durch mögliche Millionenstrafen Großkonzerne wie Google und Facebook endlich zu einem verantwortungsbewussteren Umgang mit Nutzerdaten zwingen zu können. Das ist die eine Seite. Die andere sind so strenge oder unklare Vorgaben, dass Kitas und Vereine Fotografierverbote verhängen oder Ärzte von ihren Patienten eine schriftliche Einwilligung verlangen, dass sie diese noch mit Namen ansprechen dürfen.

Auch bei der Entwicklung von Innovationen oder der Nutzung neuer, praktischer Dienste steht der deutsche Datenschutz schnell im Weg. Man dürfe dabei nicht überziehen, sondern müsse die richtige Balance zwischen Datenschutz und innovativen Anwendungen finden, predigt der Präsident des Digitalverbandes Bitkom, Achim Berg, immer wieder. Das gelte beispielsweise für Künstliche Intelligenz (KI): „Ohne Daten ist KI wie ein Schwimmbad ohne Wasser.“ Natürlich sei es wichtig, die Grundsätze des Datenschutzes zu berücksichtigen. „Aber das darf nicht dazu führen, dass die Digitalisierung an Schulen ausgebremst wird“, sagt Berg.

Eltern widersprechen dem Einsatz des Roboters

Genau das geschieht zunächst in Prenzlau. Als erste Hürde erweisen sich dabei nicht einmal Lehrer, denen ein Roboter als Schülervertreter in ihrem Unterricht unheimlich ist, sondern andere Eltern. Denn auch die Familien aller 28 Mitschüler müssen zustimmen, dass der kleine weiße Avatar an Lucas’ Stelle am Unterricht teilnehmen darf. Ein Roboter, der den Unterricht mit Kamera und Mikrofon von Prenzlau nach Gramzow überträgt und dabei womöglich auch ihre Kinder filmt, ist einigen Eltern suspekt. Selbst wenn das Gerät keinerlei Aufzeichnungen anfertigt.

Die Schüler hingegen haben keine Berührungsängste: Wenn „Wall-E“ im Einsatz ist, kommen einige vor oder nach dem Unterricht auch gern mal nach vorn in die erste Reihe, winken in die Kamera und rufen: „Hi Luci!“

„Zwei Mitschüler von Lucas haben sogar mit ihren Eltern diskutiert, um sie umzustimmen“, sagt Stefanie Raase. Vergeblich. Sie appelliert an die anderen Eltern: „Wenn ihr wüsstet, was eure Kinder auf Instagram alles preisgeben, würden wir hier gar nicht diskutieren, habe ich auf der Elternversammlung gesagt.“ Es nutzt nichts – bis sich eine unkonventionelle Lösung in der Schule findet.

Die Ängste der Lehrer

In der ersten Etage des Scherpf-Gymnasiums liegt das Büro des Schuldirektors Ludger Melters. In der Zimmerecke neben der Tür steht der Roboter in einem Stoffbeutel auf dem Boden. Daneben ein Aufsteller aus Pappe. Die werden gewöhnlich als Sichtschutz benutzt, damit die Schüler bei Klassenarbeiten nicht vom Banknachbarn abschreiben können. Nun werden sie im Bedarfsfall neben dem Avatar aufgestellt.

Der Direktor ist ein Pragmatiker und unterstützt Familie Raase, wo es geht. Er bemüht sich auch zunächst beim Schulamt, Lehrer für den Unterricht bei Lucas zu Hause freizustellen – doch die Möglichkeiten sind begrenzt. Lucas hat zehn Lehrer in zwölf Fächern. „Die kann ich ja nicht alle nach Gramzow abkommandieren“, sagt Melters. Er findet den Roboter als technische Hilfe daher von Anfang an gut. „Ich bin auch ein bisschen stolz, dass wir als Uckermärker Vorreiter beim Einsatz so einer Technik sind.“

Viele Lehrer sind allerdings weniger aufgeschlossen als der 56-Jährige. Sie weigern sich erst mal, dass ihr Unterricht über eine Kamera live weitergegeben wird. Lucas’ Eltern unterschreiben sogar extra noch eine Vereinbarung, in der sie garantieren, dass keinerlei Aufnahmen gemacht werden, indem etwa das Tablet abgefilmt wird. Lucas darf deswegen auch sein Smartphone nicht mit im Zimmer haben, wenn er den Avatar benutzt.

„Ich hatte nie Bedenken, dass Lucas Schindluder damit treibt“, sagt seine Geografielehrerin Anna-Maria Maciej. „Sein Los ist schon schwer genug, der Junge ist doch froh, wenn er überhaupt Anteil nehmen kann.“

Auch Probleme in anderen Schulen

Allerdings verstehe sie auch, wenn Kollegen sich unwohl fühlen, weil sie permanent von einer Kamera beobachtet werden und statt eines Menschen eine Maschine vor ihnen sitzt, bei der sich nicht erahnen lässt, was der Mensch „am anderen Ende“ macht.

Die Hersteller von No Isolation hatten zunächst überlegt, beim Roboter einen Bildschirm einzubauen, auf dem der Nutzer zu sehen ist. Da es sich dabei aber oft um Krebspatienten oder andere Kranke handelt, die im Bett liegen und sich in ihrer Verfassung nicht zeigen wollen, gibt es so ein Display nicht.

Lucas Raase hat die Möglichkeit selten genutzt, aus der Ferne Fragen zu stellen. „Ich melde mich aber sowieso nicht so viel“, sagt er. Umso überraschter sind Lehrer und Mitschüler, als er sich im Englischunterricht dann doch mal per Blinksignal bemerkbar macht. Als säße er mitten unter ihnen, erklingt seine Stimme – durch Wall-Es Bauch.

Englisch und Erdkunde sind anfangs Ausnahmen. In den meisten Fächern darf er das Gerät nicht verwenden, da die Lehrer trotz aller Beteuerungen fürchten, auf Youtube zu landen und womöglich zum Gespött im Netz zu werden. Erst in diesem Schuljahr wird es besser, da in einigen Fächern die Lehrer wechseln und andere ihre Bedenken ablegen.

„Ich kann nicht verstehen, dass der Datenschutz Vorrang hat, wenn es darum geht, kranken Kindern zu helfen“, sagt Stefanie Raase. Beim Schulamt beruft sie sich auf das Grundgesetz. Schließlich stehe dort, jeder habe ein Recht auf Bildung. Sie lernt, dass der Datenschutz das gleiche Gewicht hat. Verständnis hat sie dafür trotzdem nicht: „Wenn in Bussen oder Bahnen Videokameras installiert werden, müssen das die Fahrer doch auch akzeptieren, warum Lehrer nicht?“

Neue Regeln für Videosysteme in Schulen gefordert

Mit ihren Fragen wendet sich die Familie in ihrem Kampf auch an die Ministerinnen für Bildung und Familie, Anja Karliczek (CDU) und Franziska Giffey (SPD). „Es muss eine neue rechtliche Grundlage geben, damit man mit einem ärztlichen Attest solche Geräte in der Schule nutzen darf“, fordert Steffen Raase. Nach Schätzungen leben 75.000 Kinder in Deutschland, die über längere Zeiträume nicht in die Schule gehen können. Sie haben auch schon von anderen Betroffenen in Magdeburg und Frankfurt/Oder gehört, wo der Einsatz von solchen Robotern abgelehnt wurde. In Berlin soll der Avatar an einer Privatschule eingesetzt werden. Der Streit darüber, ob und wie das möglich ist, dauert schon ein halbes Jahr.

Besondere Hoffnungen setzt die Familie in den Staatssekretär von Ministerin Giffey, Stefan Zierke, der selbst aus Prenzlau stammt. Antworten von ihm und aus anderen Ministerien bekommen sie auch. Doch sie werden immer wieder vertröstet oder auf Datenschutzregeln hingewiesen. „Das wurde hin und her delegiert“, sagt Steffen Raase.

Ähnlich verhält es sich nach Anfragen des Tagesspiegels: Das Bundesbildungsministerium verweist darauf, dass Schule Ländersache sei. „Wir haben hier keinerlei Zuständigkeit“, heißt es auch aus dem Bundesfamilienministerium. Daher darf sich auch Zierke nicht in seiner Funktion als Staatssekretär äußern, sondern nur als Abgeordneter im Bundestag. „Es ist schon traurig, dass wir so eine Diskussion führen“, sagt der SPD-Politiker. Er könne nicht nachvollziehen, warum Lehrer oder Eltern von gesunden Kindern dagegen sein können, dass ein erkranktes Kind den Unterricht so miterleben könne. „Ja, ich denke, es muss Ausnahmeregeln geben.“

Womöglich könnte man den Einsatz auch mit der jetzigen Gesetzeslage genehmigen, glauben Datenschutzkenner. Schließlich liegt die Einhaltung der Schulpflicht und Teilnahme am Unterricht auch im öffentlichen Interesse. Die Brandenburger Datenschutzbeauftragte Dagmar Hartge kennt den Konflikt um Lucas’ Roboter nicht, bietet betroffenen Eltern, Lehrkräften oder Schulbehörden aber an, die Zulässigkeit des Einsatzes von Avataren in konkreten Fällen zu bewerten.

Lucas Raase und seine Eltern hoffen, dass sie Wall-E mitnehmen dürfen, wenn Lucas im Herbst an die Berufsschule wechselt. Und dass es dort weniger Komplikationen gibt. Lucas hat eine Ausbildungsstelle bei einem Elektrobetrieb. Und vielleicht wird er irgendwann trotz aller Widrigkeiten in seinem Traumberuf arbeiten können – und als Berufsfeuerwehrmann anderen Menschen helfen.

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