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Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt: „Der Herbst wird arbeitsreich.“ Es geht, das ist zu spüren, hier auch um ihr Vermächtnis.

© John Macdougall/AFP

Angela Merkel wird persönlich wie selten: Und plötzlich geht es um Tomatenmark

Die Kanzlerin steht stark da nach turbulenten Tagen. Nun spricht sie übers Klima, das Verständnis füreinander und Hamsterkäufe in der DDR. Aus Kalkül?

Angela Merkel entschuldigt sich für eine „etwas ausschweifende Antwort“. Die Kanzlerin hat selbst für ihre Karriere ungewöhnliche Wochen hinter sich, von Zitterattacken bis zu überraschenden Personalrochaden, die zur ersten Frau an der EU-Spitze führten und zu einer Nachbesetzung im Wehrressort, die alle überraschte. Und nun redet Angela Merkel plötzlich über Tomatenmark.

Aber hier liegt ihr etwas am Herzen. So sehr, dass sie für ihre Verhältnisse ungewöhnlich persönlich eintaucht in ihr früheres Leben. Das hinter der Mauer.

Es geht darum, was zerbrochen ist, warum es diese Wut gibt bei vielen Bürgern in Ostdeutschland – die kaum jemand so zu spüren bekommen hat wie sie, die nun schon seit 4987 Tagen Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ist. „Wir“, setzt Merkel an. Dann wechselt sie blitzschnell ins Unbestimmte: „Man war ja fleißig in der DDR. Aber viele dieser Fähigkeiten, um durchs Leben zu kommen, sind heute einfach nicht mehr notwendig.“ Und das bekümmere sie. „Das Problem eines Lebens in der DDR ist einfach, dass man so vieles gemacht hat, was in der alten Bundesrepublik nicht mehr gebraucht wird.“

Sie macht einen Exkurs in den Alltag des untergegangenen Landes, das Miteinander, die Solidarität, das Improvisieren, die Tauschbörsen. „Man hat halt im Winter Sommersachen gekauft, man hat Techniken fürs Leben entwickelt, die brauchen sie heute nicht“, sagt die Kanzlerin. „Schnell gucken, ob es noch Tempo-Taschentücher gibt, und dann zugreifen. Oder Tomatenmark hamstern.“

„Dieser Zusammenbruch lag nicht an der Treuhandanstalt“

Merkel sitzt im roten Blazer vorne auf dem Podium der Bundespressekonferenz. Es ist ihr 24. Besuch beim Verein der Hauptstadtkorrespondenten. Hier sagte sie einst: „Wir schaffen das.“ Und stichelte: „Herr Rösler ist gerne Vizekanzler.“ Persönlich ist Angela Merkel in solchen Runden nur selten geworden, und wenn, dann standen meist Wahlen an. So wie an diesem Tag, bald wählen die Bürger in drei ostdeutschen Bundesländern neue Landtage.

Es sei auch gar nicht so ungewöhnlich, sagt Merkel, dass nach sehr schnellen, radikalen Veränderungen 30 Jahre danach noch einmal ein starker Aufarbeitungsprozess einsetze. „Viele Menschen, die arbeitslos geworden sind, sagen: Wir haben doch auch gerackert, waren fleißig, was können wir heute noch beitragen für diese Gesellschaft?“

Sie hat es geschafft, andere nicht. Ein „Wir schaffen das“ mit Blick auf eine Überwindung der gesellschaftlichen Brüche ist von ihr nicht zu hören, aber eine Analyse, wie sie sich das alles erklärt.

Merkel zieht aber eine klare Linie zur aktuellen Stimmungsmache der AfD: „Dieser Zusammenbruch lag nicht an der Treuhandanstalt, sondern an der schlechten ökonomischen Situation der DDR-Wirtschaft.“ Zudem sei heute die Bevölkerung im Osten vielerorts davon geprägt, dass junge Leute, die erfolgreich in die Deutsche Einheit hineingewachsen sind, weg sind.

Die neue große K-Frage

Wenn sie heute etwas als zu selten vorkommend empfinde, dann, dass man sich nicht genug voneinander erzählt. Sich füreinander interessieren, statt hinter Vorurteilen verschanzen, Kontakte aufbauen, um wieder Verständnis füreinander zu entwickeln. Wenn sie zu einem Europatag in eine Schule in Berlin-Neukölln gehe, „da ist Hellersdorf immer noch weit weg“.

Neulich habe sie mit jungen Leuten im Naturkundemuseum über die Umwelt- und Klimapolitik diskutiert, da sei es darum gegangen, mit wem sie Klimapartnerschaften in Europa schließen könnten. „Da hab’ ich gesagt, schließt doch einfach mal eine von Berlin nach Vorpommern. Denn dort stehen die Windräder, da sind die Leute sauer, dass die Krach machen, die kriegen keine Abstandsregelungen und ihr wollt alle Ökostrom.“

Am 1. September wird in Sachsen und Brandenburg gewählt, am 27. Oktober in Thüringen. Der national-völkische Flügel der AfD um Björn Höcke wird immer stärker, auch Merkel muss sich fragen lassen, was in 14 Jahren Kanzlerschaft falsch gelaufen ist, warum sich trotz Fördermilliarden nicht mehr Unternehmen angesiedelt haben – hat sie sich selbst vielleicht zu sehr vom Osten emanzipiert?

Das überwölbende Thema ist an diesem Tag aber die neue große K-Frage – die nach einem neuen Wurf in der Klimapolitik.

„Es muss jetzt passieren“

Einen Kilometer Luftlinie entfernt sagt das Gesicht der Fridays-for-Future-Bewegung, die aus Schweden mit dem Zug angereiste Greta Thunberg, fast zur gleichen Zeit: „Es sind die Menschen an der Macht, die Politiker, die Führungskräfte in der Wirtschaft und die Medien, die nicht genug tun.“ Tausende Schüler haben sich trotz Ferien im Invalidenpark versammelt. „Wir jungen Menschen sind nicht jene, die die Welt retten werden. Wir haben nicht genug Zeit, um aufzuwachsen und das Sagen zu bekommen. Denn es muss jetzt passieren.“

Merkel sagt in der Bundespressekonferenz zu Greta und ihren Mitstreitern: „Sie haben uns sicherlich zur Beschleunigung getrieben.“ Das Thema fordert jetzt die ganze Kraft der Koalition, damit am 20. September rechtzeitig vor einem wichtigen UN-Gipfel ein großes Klimapaket vom Kabinett beschlossen werden kann.

Die Lage neu bewerten, flexibel sein, zur Not alles auf eine Karte setzen. So hat es Merkel schon bei der milliardenteuren 180-Grad-Wende nach dem Gau von Fukushima 2011 gehalten. Erst die Laufzeiten verlängert, dann einen abrupteren Ausstieg auf den Weg gebracht, als es Rot-Grün je geplant hatte. Die Steuerzahler kostete es Milliardensummen an Entschädigungen.

Auch damals wurde sie getrieben von einem Höhenflug der Grünen. Die Klimapolitik geriet zuletzt in den Hintergrund, das Thema hatte nicht so Konjunktur – und die Erinnerung an die Bilder von Angela Merkel und ihrem Umweltminister Sigmar Gabriel im roten Anorak vor schmelzenden Eismassen in Grönland verblassten. Bis zum nächsten Hoch der Grünen. Nun kehrt Merkel gewissermaßen zu ihren politischen Anfängen zurück.

Eines der größten Aufforstungsprogramme der Geschichte

Als Umweltministerin kämpfte sie in den 90er Jahren nächtelang für das erste große Klimaabkommen von Kyoto, nun soll es hier eine in sich stimmige Lösung geben, um die Klimaziele auch wirklich zu erreichen. Das deutsche Klimaziel 2010 wurde noch erreicht, weil viele CO2-intensive Kraftwerke und Betriebe der DDR nach der Wende einfach geschlossen wurden. 2020 wird das Ziel gerissen – oder wie Merkel es formuliert: „Wir haben 2020 eine Schwachstelle. Bis 2030 sollen es 55 Prozent weniger an Treibhausgasen sein als 1990.“

Merkel macht deutlich, dass an einem Preisschild für CO2, also einer Bepreisung des Ausstoßes, kaum ein Weg vorbeiführen wird. „Wir wollen nicht mehr Geld einnehmen als Staat, sondern andere Anreize setzen.“

Das kann dazu führen, dass Braunkohlekraftwerke im Osten nicht erst spätestens 2038 geschlossen werden, sondern viel früher, weil sie wegen der CO2-Kosten unrentabel werden. Da drohen die nächsten Strukturbrüche. „Wir müssen verstehen, dass es keinen kostenlosen Weg gibt“, sagt Merkel. Um mehr CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen, will sie zudem eines der größten Aufforstungsprogramme der deutschen Geschichte durchsetzen. Es gebe durch Unwetter und Brände, „sehr sehr große Waldschäden“ – und der Wald sei eine wichtige Klimasenke. Es geht hier auch um ihr Vermächtnis, das ist zu spüren.

Amtsmüde? Keine Spur. Merkel betont mehrfach, dass ihr die Arbeit noch Spaß macht. Dennoch: 2021 ist Schluss. Zu ihrer Gesundheit versichert sie, alle könnten davon ausgehen, dass auch ihr diese am Herzen liege – und sie nach der Kanzlerschaft noch einige Jahre den Ruhestand genießen will.

Ein Bild für die Geschichtsbücher

Sollte sie dann in ihrem Haus bei Templin ihre Memoiren schreiben, wird dieser Juli 2019 ein spannendes Kapitel werden: Galt sie Anfang des Monats noch als „lame duck“, als eine Kanzlerin, die ihren Zenit überschritten hat, strahlt sie nun wieder. Wie sagte Helmut Kohl einst? „Entscheidend ist, was hinten raus kommt.“

Und hinten kam raus, was Merkel selbst nicht erwartet hatte. Bei den Verhandlungen in Brüssel habe sie erkennen müssen, dass es unter den EU-Staats- und Regierungschefs keine Mehrheit gab für den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermans als EU-Kommissionspräsident. „Dann muss man auch neue Wege gehen können in der Politik.“

So ergab das Eine das Andere – anschaulich zu sehen auf jenem Foto vom vergangenen Mittwoch, ihrem 65. Geburtstag. Es ist ein Bild für die Geschichtsbücher: Die derzeit drei mächtigsten Frauen Deutschlands sitzen im Schloss Bellevue in einer Reihe bei der Entlassung der neuen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der Ernennung der neuen Verteidigungsministerin, CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Sie mag es, zu überraschen. Wie zum Beispiel am Dienstag, als sie in der abendlichen Telefonschalte des CDU-Präsidiums ihrem Widersacher Jens Spahn attestiert, als Gesundheitsminister einen „Bombenjob“ zu machen. In das Verteidigungsressort rückt zur Überraschung fast aller aber Kramp-Karrenbauer auf – dezent wurde das von beiden vorbereitet. Es gab ja zwei Wochen zwischen Nominierung und Wahl von der Leyens für das EU-Spitzenamt – aber kaum einer bekam mit, wie Kramp-Karrenbauer doch zu grübeln begann, neben dem Partei-, noch ein Staatsamt zu übernehmen.

„Er schafft ’ne Menge weg“

Es ist der zweite Coup der beiden Frauen. Im Februar 2018 wirkte Merkel fast befreit, als ihr unter großem internen Druck stehend Kramp-Karrenbauer sagte, sie wolle Generalsekretärin werden. Doch das half ihr nur ein paar Monate, bevor sie nach dem schwachen Abschneiden der CDU bei der Landtagswahl in Hessen etwas tat, was sie nie wollte: Parteivorsitz und Kanzlerschaft zu trennen. Sie hatte das Glück, dass Kramp-Karrenbauer sich gegen Friedrich Merz und Spahn durchsetzte.

Wie es heute um Merkel stünde, wenn Merz gewonnen hätte? Vielleicht wäre sie gar nicht mehr im Amt. Heute lauert der eine Unterlegene, Friedrich Merz, weiter am Spielfeldrand. Spahn erarbeitet Gesetz um Gesetz, legt sich mit Lobbyverbänden an und ist einer der angesehensten Aktivposten im Bundeskabinett.

Für den größten Lacher sorgt Merkel in der Bundespressekonferenz, als es um Jens Spahn geht, der als Kandidat fürs Verteidigungsministerium gehandelt wurde. Über ihn sagt sie nun: „Er schafft ’ne Menge weg.“

Nun hat Merkel ihre Verbündete AKK in einer weiteren Schlüsselposition. Von einem Journalisten wird sie zu einer Rechenaufgabe aufgefordert: Bisher wollte sich „AKK“ zu hundert Prozent für die CDU einsetzen, nun zu hundert Prozent für die Soldaten der Bundeswehr. Wie gehe das zusammen? Antwort Merkel: „Wo immer sie arbeitet, arbeitet sie mit 100 Prozent.“

Nach dieser Woche, in der die „taz“ mit Blick auf die drei Frauen titelte: „So haben wir uns das Ende des Patriarchats nicht vorgestellt“, haben viele im politischen Berlin gefragt: Ist Merkel nun doch eine heimliche Feministin?

Schon als Studentin hat Merkel Männer als dominant erlebt

Sie hält es da eher mit der niederländischen Königin Maxima, hat Merkel mal in einem Interview gesagt. Die hatte erklärt, Feminismus sei, „wenn ich dafür bin, dass Männer und Frauen die gleichen Lebenschancen haben“. Schon als Physikstudentin hat Merkel Männer an der Uni als sehr dominant erlebt – und in der Politik geht es sicher nicht sanfter zu.

Auf dem Podium sagt sie nun: „Die Frage der Geschlechtergerechtigkeit ist eine wichtige Frage.“ Aber „nicht die einzige, die mich als Bundeskanzlerin beschäftigt.“ Sie sei froh, dass man zum Beispiel bei den höchst besoldeten Stellen im Kanzleramt eine Mann-Frau-Parität erreicht habe. „Als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es keine einzige Frau auf einer B9-Stelle.“

Es bleibt ein Erfolgsgeheimnis von Merkels Kanzlerschaft: Entscheidungen diskret vorbereiten, sich auf loyale Mitarbeiter eines kleinen Zirkels verlassen können. Das sind längst nicht nur Frauen, alle ihre Kanzleramtschefs waren und sind Männer, ebenso ihre beiden wichtigsten Berater und Gipfel-Verhandler. Immer dabei auch ihr Sprecher Steffen Seibert. Merkel hat jetzt kabinettsfrei bis zum 7. August – dann kommt wieder ein Herbst der Entscheidungen, begleitet von der Frage, wie lange die Koalition mit der labilen SPD noch hält. „Das Wichtigste ist, dass man immer neugierig auf Menschen bleibt“, sagt sie. Und auf die kürzeste Frage des Tages, „Wie geht’s Ihnen, Frau Bundeskanzlerin?“, gibt sie auch die kürzeste Antwort: „Gut“.

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