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Unter Druck: Angela Merkel muss sich nach den Terroranschlägen erklären.

© Tobias Schwarz/AFP

Angela Merkel nach den Terroranschlägen: Eine Kanzlerin im Belagerungszustand

Silvesternacht in Köln, Aufstieg der AfD, Putsch in der Türkei, Attentate in Bayern – vorbei die Zeit, in der Angela Merkel über allem schwebte. Doch sie steht zu ihrem bekanntesten Satz.

Von Robert Birnbaum

Die Freitreppe hinauf zum Saal der Bundespressekonferenz erscheint zum Schreiten wie gemacht: schwerer, anthrazitgrauer Stein, ein luftiges Geländer – schon imposant. Doch am Donnerstag um halb eins ist nichts mit Schreiten. Die Stufen stehen voll von oben bis unten. Die Berliner Hauptstadtpresse ist vollzählig angetreten, außer den Urlaubern, die aber vom Corps der Pensionierten ersetzt werden. Das kann man sich doch nicht entgehen lassen!

Vor elf Monaten hat Angela Merkel genau in dem Saal da oben den berühmtesten Satz ihrer Amtszeit gesagt. Umstritten war der von Anfang an. Doch seit zwei Flüchtlinge zu Attentätern geworden sind, stellt sich die Frage schärfer denn je, ob der Satz stimmt, ja ob er jemals gestimmt hat. So gesehen gibt die rappelvolle Treppe also fast ein Sinnbild ab: eine Kanzlerin im Belagerungszustand.

Das Sinnbild ist ihr, was Wunder, nicht recht. Aber dass die Regierungschefin ihre übliche Sommer-Pressekonferenz vorverlegt hat, ist ja Zeichen genug für dringlichen Erklärungsbedarf. Angela Merkels Flüchtlingspolitik wurde vom ersten Tag an angegriffen. Seither wird sie belauert.

Zwingt Horst Seehofer sie zur öffentlichen Abkehr vom „Wir schaffen das?“ Nein? Dann vielleicht die Kölner Silvesternacht? Nein, auch nicht? Dann aber die Sturheit der Europäer? Der rasante Aufstieg der AfD, die Landtagswahlen, der Putsch in der Türkei und Erdogans Gegenputsch? Immer noch nicht? Und was ist jetzt, an einem Tag, an dem der bayerische Innenminister Joachim Herrmann mit seiner dunklen Stimme und ernster Miene sagt: „Der islamistische Terrorismus ist bei uns in Bayern leider angekommen“ – was jetzt?

Merkel: Die Attentäter wollen den Zusammenhalt im Land zersetzen

Merkel liest vom Blatt ab. Mit öffentlicher Emotion tut sie sich immer schon schwer. Die Taten in Würzburg, auch in München, in Ansbach, an Orten, „an denen jeder von uns sein könnte“ – „erschütternd, bedrückend, auch deprimierend“. Die Täter – sie „verhöhnen das Land, das sie aufgenommen hat“. Ihre Hintermänner und geistigen Anstifter – „sie wollen unseren Zusammenhalt und unser Miteinander zersetzen“.

Sie sagt wirklich: zersetzen. Das Wort stammt aus der Chemie, es hat von da den Weg gefunden ins Unwörterbuch der Stasi. So ernst ist die Lage also. „Wir haben es mit einer großen Bewährungsprobe zu tun“, sagt Merkel, verspricht „alles Menschenmögliche“, zählt neun Punkte auf, vom Bundeswehreinsatz bei Terror-Katastrophen bis zu Geld für Präventionsforschung.

Ganz zum Schluss erinnert sie selber an den Satz vor elf Monaten. Keine ihrer Grundentscheidungen würde sie anders treffen. „Ich bin heute wie damals davon überzeugt, dass wir es schaffen, unserer historischen Aufgabe – und dies ist eine historische Bewährungsaufgabe in Zeiten der Globalisierung – gerecht zu werden.“ Das ist die Langfassung. Die Kurzfassung folgt, das eigene Zitat: „Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.“

Das wäre also klargestellt. Aber ob das reicht? Gründliche Analyse, dann nach Handlungsmöglichkeiten suchen, „wo es Lücken gibt“? Das klassische Merkel’sche Politikschema: Große Probleme in handhabbare Portionen aufteilen, Schritt für Schritt abarbeiten, nicht mehr versprechen, als man halten kann, Unaufgeregtheit als oberste Maxime. Und wenn sich etwas als Fehler erweist, dann ganz still den Kurs beidrehen, dass es möglichst keiner merkt.

Bisher hat die Methode funktioniert. Aber in Merkels bisherigen Krisen haben die Menschen höchstens mal entfernte Angst ums Bankkonto gehabt. Die Angst jetzt, die vor Terrortod in der Kleinstadtkneipe oder auf dem Münchner Stachus, ist von anderem Kaliber. Merkel sieht den Unterschied selbst: „Jetzt haben wir etwas, was in den Kern der Gesellschaft geht.“

Daran gemessen bleibt es ja übrigens erstaunlich ruhig im Land. Vielleicht nur wegen der Ferien? Na ja, überall im Land hält die Ruhe nicht. In St. Quirin am Tegernsee, sonst einem ausgesprochenen Idyll, trifft sich die bayerische Landesregierung zur Klausur. Zufällig steht „Innere Sicherheit“ auf der Tagesordnung. Wie passend!

Dazu muss man wissen, dass sie ganz im Stillen in Berlin ja bei allem Schrecken froh gewesen sind, dass die Attentate nicht in, zum Beispiel, Nordrhein-Westfalen passiert sind. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie die CSU dann nach kurzer Pietätspause über den angeblichen rot-grünen Schlendrian hergezogen wäre. Würzburg, München und Ansbach liegen aber unzweifelhaft im bayerischen Hochsicherheitsgebiet. Die Pause dauerte deshalb diesmal etwas länger.

Aber nicht lange. Am Dienstag ist Horst Seehofer zurück in dem Tonfall, der doch nach dem inszenierten Versöhnungstreffen mit Merkel in Potsdam abgehakt sein sollte. „Wir haben in allen unseren Prophezeiungen recht bekommen“, räsoniert Seehofer. „Ich bin nicht mehr bereit, nur um des Friedens willen die Dinge nicht so zu behandeln, wie sie behandelt werden müssen.“ Das hat er fast aufs Wort vorigen Herbst schon mal verkündet. Was folgte, ist bekannt: Drohungen mit „Notwehr“, Verfassungsklage und mit Bruch der Unionsfamilie, die „Herrschaft des Unrechts“ und der Parteitag, bei dem er die Kanzlerin schurigelte.

Rein sachlich betrachtet könnte Merkel auf das neuerliche bayerische Gedröhne ungefähr Folgendes antworten: Lieber Horst, der Bombenbauer von Ansbach ist zu einer Zeit nach Deutschland gekommen, als die Flüchtlingszahlen noch deutlich unter deiner „Obergrenze“ von 200.000 Menschen lagen, er ist nach allen Regeln deutscher Verwaltungskunst registriert und sicherheitsüberprüft worden, man hat nach allen Regeln des Schengen- und Dublin-Abkommens die Zurückweisung in das EU-Land Bulgarien angeordnet. Was lernen wir also daraus? Dass wir „Obergrenzen“ brauchen, jeden registrieren und sicherheitsüberprüfen … hä?

Nicht nur in der CSU, auch in ihrer eigenen Partei gibt es nun Widerspruch

Aber so redet Merkel nicht, natürlich nicht. Weil der Horst sowieso nicht zuhört. Und weil die Leute, die dem Seehofer applaudieren, und auch viele, die sich einfach nur Sorgen machen, bei solchen sachlichen Einwänden auch nicht zuhören, sondern weiter Briefe an die Parteizentralen schreiben, deren Inhalt ein Unionsmann zusammenfasst: „Wir wollten die hier nie haben, und die Merkel hat sie hergeholt!“

Kann schon sein, dass der Syrer aus Ansbach mit der Flüchtlingswelle von 2015 nichts zu tun hat und der Axtmörder von Würzburg auch nicht – das ist den Briefeschreibern alles eins. Gegen diese Mischung aus Angst, Abneigung, Aggressivität ist mit Vernunftgründen nichts auszurichten. Merkel versucht es an dem Punkt gar nicht erst: Wann einer als Flüchtling gekommen sei, ändere nichts daran, dass er als Attentäter das Land auf die Probe stelle.

Bei der CSU ziehen sie auch den Schluss, dass man es besser gar nicht erst mit Vernunft versucht, allerdings umfassender. Seehofer schiebt vorbeugend „Berlin“ und „Brüssel“ die Schuld zu, wenn etwas nicht funktionieren sollte, also weg von der eigenen Haustür, und inszeniert auch sonst ein Musterbeispiel christsozialer Absetztaktik: Man dringt in strengem Ton auf Maßnahmen, die es längst gibt, macht diskutable Vorschläge, von denen aber keiner eine Gewähr gegen die konkreten Anschläge geboten hätte, und würzt mit starken Worten ab.

Selbst ein besonnener und ruhiger Mann wie der Innenminister Herrmann lässt sich da zu dem Satz hinreißen, dass es mit seinem „Sicherheitsverständnis“ nicht vereinbar sei, wenn jemand in einer vom Staat bezahlten Unterkunft Zubehör für Baumarkt-Bomben horte. Er bekommt dafür sicher breite Zustimmung. Nur findet sich im Grundgesetz, Artikel 13, Absatz 1, der schlichte Satz: „Die Wohnung ist unverletzlich.“ Dort steht nichts davon, dass Grundrechte nicht gelten, sobald der Staat zahlt.

Herrmann kündigt hier denn auch nur vage etwas von „Überwachungsmaßnahmen“ an. Das ändert freilich alles nichts daran, dass sich wieder das bekannte Bild ergibt: Die CSU drängt, die Kanzlerin denkt lieber erst noch mal auf allem rum. Man kann streiten, ob das nicht für die Regierungschefin eines ganzen Landes sogar die angemessenere Herangehensweise ist. Sich von Stimmungen die Politik bestimmen zu lassen, ist ja kein Weg.

Sie halb und halb beiseitezuschieben, ist aber auch keiner. Es gebe „Gegenreaktionen von Menschen, die das nicht mittragen“, ist ihre Antwort auf die Frage nach der AfD; die müsse man versuchen mit Taten zurückzugewinnen. Es geht aber nicht um Taten. Es geht um Stimmungen, und es geht um den Traum dahinter, der im ganzen Westen umgeht und inzwischen bei vielen auch in Deutschland: dass man sich abschließen könne gegen die Konflikte dieser Welt. Tür zu, Grenzen zu - Probleme weg. Dass Alexander Gauland und Sahra Wagenknecht nicht ausgelacht werden, sondern Gefolgschaft bekommen, dass Briten den Brexit wählen und Amerikaner sich von einem Großmaul künftige Größe vorschwindeln lassen, all das hat viel mit dieser Biedermeier-Sehnsucht zu tun.

Leider funktioniert Biedermeier nicht in einer Welt, deren Grenzen nicht von Zollhäuschen definiert werden, sondern vom Internet. Es gehört aber zur Geschichte, dass Kanzlerin Merkel ihren Deutschen bis zum vorigen Herbst genau solch ein biedermeierliches Sicherheitsgefühl vermittelt hat. Da konnten Banken krachen, der Euro wanken, Griechen spinnen, Russen schießen – die Frau im Kanzleramt hielt diese Welt von ihren Bürgern fern. Und die Bürger honorierten es in den Umfragen wie in den Wahlkabinen.

Altmaier, Kauder und de Maizière sind als Bollwerk zu wenig

Das ist unwiederbringlich vorbei. Einer, der in seiner Freizeit Kabarett macht, hat neulich erzählt, wie jahrelang nach seinen Auftritten ältere Damen zu ihm kamen und die Merkel-Witze tadelten: So gehe man aber nicht mit der Frau Kanzlerin um! „Seit dieser Saison lachen die mit“, berichtet der Mann. „Sie hat den Bonus des liebevollen Respekts verspielt“, sagt ein führender CSU-Mann. CDU-Spitzenleute vermerken an ihrer Basis das Gleiche.

Die Zeiten, in denen Angela Merkel über allem zu schweben schien, sind vorbei. Und die Zahl derer in den eigenen Reihen, die sich zu widersprechen trauen, wenn einer „die Merkel“ für alles verantwortlich macht bis zum Brexit und zu Donald Trump – diese Zahl wächst nicht. Peter Altmaier, Volker Kauder und Thomas de Maizière sind als Bollwerk auf Dauer zu wenig.

Immerhin hilft Sigmar Gabriel ein bisschen mit. Sie habe mit dem Wirtschaftsminister telefoniert, und der lasse ausdrücklich ausrichten, dass die Bundesregierung gemeinsam handele. Na wenigstens das. Aber wie lange diese Solidarität anhält und ob nicht Gabriel, wenn er zum Beispiel nächste Woche auf Sommerreise in Mecklenburg-Vorpommern die Angst der Genossen vor der Landtagswahl im September zu hören bekommt, wo ihnen schlimmstenfalls nicht nur der Verlust der Regierung droht, sondern auch noch ein Platz hinter der AfD ... – wie lange also der Wirtschaftsminister und Vizekanzler dem SPD-Vorsitzenden standhält, ist immer schwer zu sagen.

Von Merkel kann man jedenfalls nach den eineinhalb Stunden im Pressesaal sagen, dass sie zum Standhalten entschlossen ist. Bleibt ihr ja auch nicht viel anderes übrig. Die Willkommenskultur vom vorigen Herbst zum Fehler zu erklären oder auch nur zum halben, das haben sie im Kanzleramt schon vor Monaten so für sich analysiert, gäbe bloß den Kritikern Aufwind und den Anhängern einen Schlag.

Ob ihr dabei wohl zumute sei? „Ich habe das Gefühl, verantwortlich und richtig zu handeln, und keine anderen Gefühle.“ Später will es einer genau wissen: Ob sie nicht angesichts der Toten und Verletzten Schuld verspüre? Merkel fängt an, darauf hinzuweisen, dass sie über ihre Gefühle ja vorhin schon ... aber dann fällt ihr wohl auf, dass das eine Frage ist, die sich nicht mit Verwaltungsfloskeln beantworten lässt, sie stoppt mitten in Satz: „Ich kann auch sagen: nein.“

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