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Die neue SPD-Chefin Andrea Nahles

© dpa/Boris Roessler

Andrea Nahles ist neue Vorsitzende: Die SPD bleibt zerrissen

30 Jahre hat Andrea Nahles auf diesen Tag hingearbeitet. Sie selbst hält eine der besten Reden ihrer Karriere. Doch die Partei, die sie retten will, straft sie ab.

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Die Frau in Rot hat jetzt das Wort. Es ist 12 Uhr 22 in der neuen Wiesbadener Kongresshalle. Simone Lange steht von ihrem Stuhl auf, eilt die wenigen Stufen aufs Podium hoch und tritt ans Pult.

Im Saal wird es auf einmal sehr still. Was sich die ehemalige Kriminalkommissarin und heutige Oberbürgermeisterin von Flensburg für ihren Auftritt vorgenommen hat, ist ja auch atemberaubend: Die Kommunalpolitikerin will Vorsitzende der ältesten deutschen Partei werden – und das, obwohl sie keinerlei bundespolitische Erfahrung mitbringt. Simone wer? Außerhalb von Schleswig-Holstein hatten bis vor kurzem nur wenige überhaupt schon einmal ihren Namen gehört.

Lange hat für diesen Tag ein Kleid in der Parteifarbe der SPD gewählt. Man kann das als Botschaft verstehen nach dem Motto: Ich stehe mindestens so sehr für die deutsche Sozialdemokratie wie all die Würdenträger, die seit Jahren in Präsidium und Vorstand das Schicksal der SPD bestimmen – und doch nicht verhindert haben, dass die Partei in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Hälfte ihrer Wähler verloren hat. So wie Andrea Nahles.

Weniger als 70 Prozent: Ein schwerer Schlag

Die Fraktionschefin sitzt wenige Meter von der Bühne entfernt und hört Lange konzentriert zu, das Kinn in die Hand gestützt. Nahles weiß: Die Flensburgerin wird ihr nach menschlichem Ermessen den Parteivorsitz an diesem Sonntag nicht entreißen. Aber wenn die Außenseiterin ihre Sache halbwegs gut macht, dann kann das ihr, der Favoritin, den Start als Vorsitzende gründlich verderben. Ein Wahlergebnis von weniger als 70 Prozent – für Nahles wäre das ein schwerer Schlag.

Dass Lange zuerst reden darf, ist allein dem Protokoll geschuldet: L wie Lange kommt im Alphabet vor N wie Nahles. Und Lange legt gleich los. Erst beschwört sie die Parteiwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, dann kommt sie zur Sache: „Der Zustand der Sozialdemokratie ist leider ein anderer, als die Menschen es von uns erwarten“, ruft sie vor den 600 Delegierten. „Uns fehlt es an Teamspiel, an Offenheit und Glaubwürdigkeit.“ Den Namen Nahles erwähnt sie nicht in ihrer Rede, doch der Angriff ist trotzdem nicht schwer zu verstehen: Teamspiel, Offenheit und Glaubwürdigkeit sind mit der erfahrenen Bundespolitikerin Nahles nicht zu haben. Sondern nur mit ihr, dem neuen Gesicht aus dem Norden.

Wir da unten, die da oben – Basis gegen Parteiestablishment, das ist der Rahmen ihrer Erzählung. Und die wird von vielen in der Partei geglaubt. Das hat auch mit dem Chaos der vergangenen Monaten zu tun, in denen eine orientierungslos wirkende Parteiführung nach langem Zickzack-Kurs doch wieder in der großen Koalition landete. Das hat Vertrauen gekostet.

Sie verlangte 30 Minuten Redezeit – und nutzt nur 16

Viele Genossen sehnen sich danach, dass sich etwas ändert in der Partei – was ist da schon fast egal. Darin liegt Langes Chance für einen Achtungserfolg und das Risiko für Nahles. „Raus aus den Sachzwängen, rein in die lebendige Demokratie, liebe Genossinnen und Genossen“ – mit vielen solchen eher vagen Versprechen und Bekenntnissen bestreitet Lange ihre Rede.

Die Flensburgerin Simone Lange präsentiert sich als Anti-Establishment-Kandidatin – und bekommt doch wenig Beifall.
Die Flensburgerin Simone Lange präsentiert sich als Anti-Establishment-Kandidatin – und bekommt doch wenig Beifall.

© Ralph Orlowski/ Reuters

Dazu hat sie Hartz-IV-Kritik im Angebot, ein Dauerbrenner, mit dem man in der SPD immer noch leicht die Gemüter erregen kann. Schröders Arbeitsmarktreform habe Menschen in Armut gestürzt, sagt Lange: „Dafür möchte ich mich bei den Betroffenen entschuldigen.“

Eine knappe Viertelstunde geht das so. Lauten Applaus gibt es vor allem bei der Abrechnung mit Hartz IV, ansonsten verfolgen die meisten Delegierten die Ansprache ohne größere Regung. Im Vorstandsblock entspannen sich die Nahles-Anhänger, manche tuscheln schon lächelnd miteinander. Die stellvertretende saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger beißt ungeniert in ein Sandwich. Die Sache scheint gelaufen.

Dann scheint auch Lange selbst einzusehen, dass sie so viel den Delegierten gar nicht zu sagen hat. Vor dem Parteitag hatte sie laut über Benachteiligung durch das Parteiestablishment geklagt – und schließlich 30 Minuten Redezeit auch für sich durchgesetzt – genauso viel wie Nahles. Aber nach 16 Minuten hat die Flensburgerin ihr Pulver schon verschossen. Einer ihrer letzten Sätze lautet: „Ich bin heute eure Alternative für eine bessere SPD.“ Und: „Mich zu wählen, bedeutet Mut.“

Ganz vorne eine Frau aus Weiler: "Hallo, Mama"

Dann hat die Frau in Schwarz das Wort.

Andrea Nahles braucht kein Kleid in der Parteifarbe. Sie braucht eigentlich vor dieser Kulisse auch keine namentliche Vorstellung. Und trotzdem sagt die Rednerin, die Juso-Chefin war, SPD-Generalsekretärin, stellvertretende Parteivorsitzende und Bundesministerin für Arbeit und Soziales: „Mein Name ist Andrea Nahles, ich bin 47 Jahre alt.“

Von diesen 47 Jahren hat Nahles 30 in und mit der SPD verbracht. Im Eifel-Dörfchen Weiler hat sie als Jugendliche einen SPD-Ortsverein gegründet. In den vorderen Reihen sitzt ein Mensch aus Weiler, der ihr wichtig ist. „Hallo Mama“, sagt Nahles: „Auch du hast damals sicher nicht gedacht, dass ich hier heute mal stehen kann.“ Auf der Großleinwand sieht man in diesem Moment eine ältere Frau in bunter Bluse, die ihrer Tochter stolz zuwinkt.

Dass sie so weit gekommen sei, verdanke sie ihren Eltern, der sozialdemokratischen Bildungspolitik und der SPD an sich, sagt Nahles. So macht man das, wenn es darum geht, die Herzen der Delegierten zu gewinnen.

Überhaupt hält die Frau im dunklen Hosenanzug in Wiesbaden eine der besten Reden ihrer politischen Karriere. Das gilt für Form und Inhalt. Mal laut und kämpferisch, dann wieder leise und nachdenklich, aber immer entschlossen, so fesselt sie den Saal. Immer wieder gibt es lauten Applaus, deutlich häufiger und stärker als zuvor während der Rede ihrer Herausforderin. Je länger sie spricht, desto größer wird die Zuversicht ihrer Berater. „Läuft gut“, sagt einer, der den Auftritt der Chefin von ganz hinten im Saal beobachtet.

Ausdauernder Applaus. Nahles ist siegesgewiss

Dabei macht Nahles den Gegnern der großen Koalition und Hartz-IV-Skeptikern keine Zugeständnisse. Die SPD dürfe nicht als zwei Parteien auftreten – einmal als Regierungspartei und einmal als Regierungskritikerin, mahnt sie. Den Sozialstaat reformieren? Gerne! Bürgernäher, weniger bürokratisch und gerechter müsse der werden. Aber: „Wenn wir Hartz IV abschaffen und die Agenda 2010 abwickeln, haben wir noch keine Frage beantwortet“, sagt Nahles. Das gefällt nicht jedem im Saal, manche rufen dazwischen. Nahles bleibt unbeirrt. Sie will über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit diskutieren: „Lasst und die Debatte mit Blick auf das Jahr 2020 führen und nicht auf das Jahr 2010.“

Auch Martin Schulz hatte sich das mal anders vorgestellt.
Auch Martin Schulz hatte sich das mal anders vorgestellt.

© F. Sommer/ dpa

Und noch einen Akzent setzt die Favoritin bei einem Thema, das ihre Partei immer wieder in die Defensive drängt: Mehr Realismus soll bei den Sozialdemokraten einkehren, wenn es um die innere Sicherheit und die Flüchtlingspolitik geht. „Wir müssen ohne Angst, in eine Ecke gestellt zu werden, die Probleme ansprechen, die in unserem Land existent sind“, so lautet Nahles' Devise. Und: „Realismus ohne Ressentiments, das ist unser Kompass für Integration und das Zusammenleben der Kulturen.“

Anders als Lange schöpft Nahles ihre 30 Minuten Redezeit voll aus – sie überzieht sogar ein klein wenig. Am Ende klatschen die Genossen laut und ausdauernd. Die meisten im Saal scheinen in diesem Moment überzeugt, dass die Rednerin gleich mit einem respektablen Ergebnis als erste Frau an die Spitze der ältesten deutschen Partei gewählt wird. Die Fragerunde mit beiden Kandidatinnen wirkt nur noch wie eine Formsache. Nahles schlägt sich auch hier wacker, wirkt gelöst und siegesgewiss.

Einer drückt ihre Hand wie zum Trost

Aber die SPD, sie ist nicht so. Um 14 Uhr 14 verkündet die Chefin der Zählkommission das Ergebnis. 172 Stimmen für Lange, 38 Enthaltungen, 414 für Nahles. Die neue Parteichefin startet mit nur 66 Prozent Unterstützung. Sie soll die SPD retten, aber die verweigert ihr ein starkes Mandat.

Es ist eine schwere Hypothek – das sieht man Nahles an. Es arbeitet ihn ihr. Nahles beißt sich auf die Lippen. Ralf Stegner, der Wortführer des linken SPD-Flügels, beugt sich zu ihr herüber, drückt ihr die Hand, wie zum Trost. Auch die anderen Parteigranden können ihre Bestürzung kaum verbergen. Sie wissen, dass von diesem Parteitag kein Signal des Aufbruchs ausgehen kann. Nur eines der Zerrissenheit.

Der Rest ist Folklore. „Wann wir schreiten Seit' an Seit'“ – mit ihrem traditionellen Schlusslied beschwört die SPD eine Einigkeit, die es nicht gibt. Vorher sagt Nahles noch ein paar Sätze zu den Delegierten. Einer lautet so: „Solidarität und Zusammenhalt in der SPD sind noch ausbaufähig.“

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