zum Hauptinhalt
Nach dem Arbeitsleben den Hut nehmen? Wenn, dann diesen hier. Und dann: Wände aufstemmen, Wasserleitungen verlegen und Stromkabel.

© Daniel Bockwoldt/Picture Alliance/dpa

Altersarmut in Berlin: Auf Spätschicht - Wenn die Rente nicht reicht

Er ist 74 und macht Bauarbeiten. Sie führt mit 68 Jahren anderen den Haushalt. Eine Million Ruheständler haben solche Jobs – und es werden mehr.

Die Wände sind weiß gestrichen, der hellbraune Holzboden verstaubt. Nur ein Farbeimer steht im Raum, daneben Bernd Nolte*. In den vergangenen zwei Wochen hat er hier Leitungen für Strom und Wasser verlegt. Für das, was er an diesem Tag vorhat, zückt er den Zollstock. Anderthalb Meter misst er ab, so groß ist der Schaltkasten, den er an die Wand im Flur bohren muss. Es wird eine seiner letzten Aufgaben auf dieser Baustelle sein. Aber bevor er anfängt, noch eines, sein Hörgerät muss ins Ohr.

Bernd Nolte ist 74 Jahre alt. Die Haare sind weiß, der Vollbart ist dicht. Überm T-Shirt trägt er ein blaues, kurzärmliges Hemd. Seine Haut ist leicht gebräunt, verschmutzt. Handwerkerarme.

Mit 15 Jahren hat Bernd Nolte seine Ausbildung zum Elektromechaniker angefangen. Seitdem hat er immer gearbeitet. Es gab nie Pausen für die Erziehung der Kinder oder für ihn, zur Erholung. Eigentlich müsste Nolte schon lange im Ruhestand sein, müsste als Rentner genießen, wofür so lange die Zeit fehlte. Bücher lesen. Die Enkel verwöhnen. Reisen. Stattdessen arbeitet er bis zu 20 Stunden in der Woche. Zieht er von seiner 700-Euro-Rente die Miete und sämtliche Nebenkosten ab, bleiben ihm 100 Euro im Monat.

Zu wenig zum Leben.

Die Geschichte von Bernd Nolte ist eine, die viele erzählen könnten. Fast sechs Millionen ältere Menschen in Deutschland sind von Armut bedroht, wie aus Daten des Europäischen Statistikamts hervorgeht. Waren 2010 noch 4,9 Millionen Menschen im Alter von 55 und älter betroffen, stieg deren Zahl auf zuletzt 5,7 Millionen. Immer mehr von ihnen müssen deswegen im Rentenalter arbeiten.

Er dachte: So kann es bleiben

Die Wohnung in Berlin-Steglitz, in der Nolte mit dem Zollstock hantiert, wird halbiert. Auf der anderen Seite der Wand bleibt die Besitzerin wohnen, hier ziehen Fremde ein. Damit die spülen, kochen, waschen und duschen können, damit sie Licht haben und die Klingel hören, wurde Nolte beauftragt. Über die Plattform „Rent a Rentner“. Als sie vor fünf Jahren gegründet wurde, erzählte ihm ein Bekannter davon, er meldete sich direkt an. Mittlerweile kann sich Nolte aussuchen, welche Anfrage er annimmt. Im Schnitt verdient er 300 bis 400 Euro im Monat.

An manchen Stellen in den Wänden baumeln Kabelenden heraus. Erinnern daran, wo Nolte eine Woche zuvor den Putz aufgestemmt hat. „60 Quadratmeter sind das hier nur noch“, sagt er, „ist überschaubar.“ Sein eigenes Zuhause ist kleiner.

Nolte hat schon einmal dabei zugesehen, wie der Platz, an den man sich gewöhnt hat, schrumpft. Bei sich selbst. Vor vielen Jahren lebte er mit seiner Familie in einem eigenen Haus mit Garten in Rudow. Ein schöner Ort, um die beiden Töchter aufwachsen zu sehen. „Ich war jung, erfolgreich“, erzählt er.

Nachdem Nolte bei mehreren Firmen angestellt war, wollte er mehr. Mehr als sein Vater für ihn vorgesehen hatte. Erst studierte er berufsbegleitend Elektrotechnik, dann machte er sich in West-Berlin selbstständig. Das war 1978. Die Anfangszeit war hart, 60-Stunden-Wochen nicht selten. Doch dann füllten sich die Auftragsbücher, die Zahl der Mitarbeiter stieg auf 42, und als Nolte 1988 eine große Automatisierungsanlage an einen Kunden in der DDR verkaufen konnte, dachte er, so kann es bleiben.

Doch so blieb es nicht.

Es sollte einer seiner größten Aufträge werden. 4,5 Millionen Deutsche Mark Umsatz. Eine Anzahlung hatte er bekommen, sein Liefertermin war Ende 1989. Nolte sagt: „Doch dann kam mir die Wende dazwischen.“ Drei Monate nach dem Mauerfall wurde das Unternehmen, das ihm noch drei Millionen Mark zahlen musste, geschlossen. „Uns ging es damals gut“, sagt er, „aber wir waren nicht reich genug, um das zu verkraften.“

Nolte verkaufte sein Auto, dann das Haus, zog mit seiner Familie in eine Wohnung, kündigte die Lebensversicherung. Kämpfte dann noch ein weiteres Jahr um das Unternehmen. Dann meldete Nolte 1994 hochverschuldet Konkurs an. Und machte zuvor noch den Fehler, den er in seinem Leben niemals korrigieren kann: Er ließ sich einen großen Teil seiner Rentenanteile auszahlen.

Bernd Nolte steckt eine Sicherung in den Schaltkasten. „Das wird mich bis an mein Lebensende verfolgen.“

Morgens stehen die arbeitenden Alten überall

Nach dem Arbeitsleben den Hut nehmen? Wenn, dann diesen hier. Und dann: Wände aufstemmen, Wasserleitungen verlegen und Stromkabel.
Nach dem Arbeitsleben den Hut nehmen? Wenn, dann diesen hier. Und dann: Wände aufstemmen, Wasserleitungen verlegen und Stromkabel.

© Daniel Bockwoldt/Picture Alliance/dpa

Hin und wieder melden sich noch Gläubiger, aber wovon soll er ihnen schon etwas zurückzahlen? Er wird so viel arbeiten können, wie er möchte: Die Schulden werden bleiben.

Wenn seine Kunden fragen, warum er mit 74 Jahren noch auf Leitern steigt, spricht Nolte nicht davon. Er sagt dann nur, dass er noch immer Spaß an der Arbeit habe. Sich nicht langweilen wolle. Was auch stimmt. Seine Freunde wissen nicht, wie hart er schuftet, seinen Geschwistern hat er erst vor zwei Jahren davon erzählt. Früher ist er fast jede Woche in die Philharmonie gegangen, hat gerne gut und teuer gegessen. Ein Luxus, den er schon fast vergessen hat. „Ich leide nicht“, sagt er, „aber ich muss schon kalkulieren, welchen Käse ich kaufen kann und welchen nicht.“

Nach Zahlen des Bundesarbeitsministeriums haben fast eine Million Menschen ab 65 Jahren einen Minijob wie er. Das ist ein Drittel mehr als noch im Jahr 2005. Bei Menschen über 75 Jahren hat sich die Zahl der Hinzuverdiener in den vergangenen zehn Jahren auf 176 000 mehr als verdoppelt. Bei diesen Zahlen wird es nicht bleiben. Da immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner aufkommen müssen, sinkt das Rentenniveau. 1980 bekam jemand nach 45 Beitragsjahren 57 Prozent von dem, was er im Durchschnitt verdient hatte. Aktuell sind es 48 Prozent, im Jahr 2030 werden es voraussichtlich 43 Prozent sein.

Wenn die derzeit regierende SPD ihr Wahlprogramm vorstellt, sollen darin Pläne für eine Rentenreform stehen. Es gehe nicht, sagt Arbeitsministerin Andrea Nahles, dass „Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, trotzdem nur eine geringe Rente ausgezahlt bekommen, weil sie viel zu geringe Löhne hatten“.

Deswegen will sie Geringverdiener besser schützen - und Selbstständige wie Nolte. Bei einem SPD-Wahlsieg im September sollen sie dazu verpflichtet werden, in die Rentenkasse zu zahlen.

Weil Frauen öfter Auszeiten nehmen, wenn sie Kinder bekommen, in Teilzeit und schlechter bezahlten Branchen arbeiten, sind sie besonders betroffen.

Sie spart jetzt schon für Weihnachten

Marianne Geist* sagt, sie arbeitet noch zwei Jahre. Dann wird sie 70. Dann macht ihr Körper das nicht mehr mit. Wenn sie die Treppen zu dem Mann, dem sie im Haushalt hilft, hochsteigt, oben keucht, kaum Luft bekommt, spürt sie ihre Grenzen.

Die gelernte Hotelkauffrau, die sich zur Seniorenbetreuerin weitergebildet hat, ist klein und stämmig. Die grauen Haare sind kurz, die Lippen rot geschminkt. Gemeinsam schnippeln sie Möhren und Suppengrün. Ein paar Stunden die Woche ist sie hier, für 150 Euro im Monat. Am Tag darauf wird sie einen anderen Alten besuchen, der nicht mehr allein für sich sorgen kann. Macht noch mal 180 Euro. „Der hört kaum noch und sieht schlecht“, sagt sie.

Wie hilflos die beiden Männer sind, denke sie sich oft. Dann bekommt Marianne Geist Angst.

Wie Bernd Nolte hatte sie einmal alles, was sie wollte. Ein Haus in Zehlendorf, einen Mann, die Kinder. Dann verliebte sich ihr Mann in eine Jüngere und ging. Nachdem sie die Kinder großgezogen hatte und während dieser Jahre nur ein paar Stunden am Tag Geld verdienen konnte.

Heute wohnt Marianne Geist allein in Neukölln. Die Hälfte von ihrer 900-Euro-Rente zahlt sie für die Miete. So lange in der Wohnung nichts kaputt geht und sie nicht krank wird, kommt sie zurecht. Ein bisschen Geld kann Marianne Geist sogar zur Seite legen. Wie soll sie sonst Geschenke für ihre zwei Kinder und sieben Enkel kaufen? „Ich spare auch jetzt schon für Weihnachten“, sagt sie.

Mit dem Ruhestand ist es wie mit ihrer Ehe

Wenn sie morgens aus dem Haus geht, sieht sie die arbeitenden Alten überall. Da sind die Frauen von gegenüber, mit den tiefen Falten im Gesicht, die an ihrer Straße Gemüse verkaufen. Da ist die Gruppe von Männern, mit Handwerkskisten in den Händen, die sich an der Ecke treffen. Geduckt huschen sie an ihr vorbei, als wollten sie nicht gesehen werden.

„Da ist viel Scham, die man spürt“, sagt Geist, „und man fühlt sich so ausgegrenzt.“ Wenn sie von Veranstaltungen und Reisen für Senioren liest, merkt sie, sie gehört nicht dazu. Gern würde sie öfters in Cafés und ins Theater gehen, aber das geht nur, wenn sie eine Freikarte gewinnt. Das mit dem wohlverdienten Ruhestand ist wie mit ihrer Ehe - ein gebrochenes Versprechen.

Sie möchte aber nicht jammern. „Meine Mutter war eine Trümmerfrau“, sagt sie, „sie hat mir vorgelebt, anzupacken.“ Trotzdem merkt sie abends, wenn sie nach Hause kommt, die 68 Jahre. Fällt auf ihr Sofa, schläft ein. „Meine Kraft ist nicht unendlich.“

Bernd Nolte kennt das auch. Seine Knie tun weh, wenn er sich lange hinhocken muss, um über der Fußbodenleiste Steckdosen anzubringen. Wenn er lange auf der Leiter steht, schmerzt sein Rücken.

Seinen zwei erwachsenen Töchtern rät er, aus seinen Fehlern zu lernen. Die eine sei jedoch sorglos, sagt Nolte, so wie er als junger Mann. Die andere habe ein großes Bedürfnis nach Sicherheit. „Sie wird es später ja noch viel härter treffen, wenn das mit der Rente so weitergeht.“

Schon möglich, dass er bald nicht mehr arbeiten kann. Dass er sich verletzt oder einfach zu schwach wird. Darüber denkt Nolte nicht nach. „Wenn man einen Plan B aufstellt, dann glaubt man nicht an einen Plan A“, sagt er. Schraubt weiter am Schaltkasten herum. Und sowieso, was hätten ihm Pläne schon gebracht.

– *Name von der Redaktion geändert

Zur Startseite