zum Hauptinhalt
Fast 200 Tage verbrachte Alexander Gerst im All – länger als jeder andere deutsche Astronaut.

© ESA/NASA (dpa)

Alexander Gerst: Ein Glücksfall für die Raumfahrt

Ein halbes Jahr war der deutsche Astronaut Alexander Gerst im Weltall. Er sah die Verletzlichkeit der Erde - und nahm das ganze Land mit.

Der Mann, der den Deutschen zum ersten Mal seit 35 Jahren das Weltall näherbrachte wie niemand sonst, sitzt in der Aussichtskapsel der internationalen Raumstation ISS. Über seinem Kopf schwebt die Erde, 400 Kilometer entfernt, weiße Wolkenfelder auf hellblauem Grund.

Seit dem Frühsommer war das oft im Fernsehen zu sehen, der Astronaut Alexander Gerst berichtet dann über seinen Alltag auf der Station. Doch einer dieser Momente ist ein besonderer. Im November, Gersts Zeit im All geht zu Ende, richtet er eine Botschaft an eine Generation, die noch nicht geboren ist.

„Liebe Enkelkinder“, beginnt Gerst mit ruhiger Stimme. „Wenn ich so auf den Planeten runterschaue, dann denke ich, dass ich mich wohl bei euch entschuldigen muss.“ Seine Generation, sagt er, werde die Erde wohl nicht in bestem Zustand an die Nachfolgenden übergeben. Gerst zählt auf: die hemmungslose Rodung der Wälder, der Müll in den Meeren, die Bodenschätze, die die Menschen viel zu schnell verbrauchen und die sinnlosen Kriege, die über ihm auf der Erde gerade geführt werden. Er ermutigt die nächste Generation, es besser zu machen, ihre Träume zu leben und „niemals ganz erwachsen zu werden“.

Es ist eine Erkenntnis, die offenbar jeder Weltraumflieger zu erlangen scheint. Sigmund Jähn sprach ähnliche Sätze nach seinem Flug 1978, und Ulf Merbold fünf Jahre später auch. Der Menschheitstraum, das Weltall zu bereisen, löst bei denen, denen er erfüllt wird, vor allem eines aus: die durch Anschauung erlangte Ahnung von der Verletzlichkeit der Erde – und den Wunsch, dies allen anderen mitzuteilen.

Der Geruch von Schnee. Das hat ihn überwältigt

Gerst spricht mit fiktiven Enkeln. Doch in Wahrheit redet er seinen Zeitgenossen ins Gewissen. Wir müssen versuchen, „doch noch die Kurve zu kriegen“, sagt Gerst. Am Donnerstagmorgen ist der 42-Jährige gemeinsam mit seinen beiden Kollegen, dem Russen Sergej Prokopjew und der Amerikanerin Serena Auñón-Chancellor, in der kasachischen Steppe gelandet.

Seine Mission ist zu Ende. Aber nur diese, seine zweite im All. Seine Mission geht auf der Erde weiter, sagt Gerst gleich nach der Landung. Er sagt auch: „Zum ersten Mal wieder den Geruch vom Schnee und von der Erde, das ist ein unglaubliches Gefühl, wenn man das ein halbes Jahr nicht gehabt hat.“

Alexander Gerst, 1976 in Baden-Württemberg geboren, studierte Geophysik in Karlsruhe. Er sagt, es war der Großvater, der sein Interesse an der Raumfahrt weckte. Der hatte als Amateurfunker den Mond als Reflektor für Verbindungen Erde-Mond-Erde genutzt. In einem Auswahlverfahren der Europäischen Weltraumorganisation 2008 setzte Alexander Gerst sich mit fünf anderen gegen 8 413 Bewerber durch. Knapp seche Jahre später, am 28. Mai 2014, erreichte er zum ersten Mal den Weltraum.

Die drei von der ISS. Sergej Prokopjew, Serena Auñón-Chancellor und „Astro-Alex“.
Die drei von der ISS. Sergej Prokopjew, Serena Auñón-Chancellor und „Astro-Alex“.

© dpa

Die Langzeitmission, die am Donnerstag zu Ende ging, hatte am 6. Juni 2018 begonnen. Sie hieß „Horizons“. Als erster Deutscher übernahm Gerst am 3. Oktober das Kommando im All.

Der Zwischenstopp in Kasachstan währt nur kurz. Früher schloss sich an Raumflüge eine längere Quarantäne an, inzwischen fliegen Astronauten, die an russischen Missionen teilnehmen, meist gleich in ihre Heimatländer.

Schon das Heben der Arme bereitet Mühe

Am Abend schon trifft Gerst in Köln ein, dort wird er in einer medizinischen Forschungsanlage des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt untersucht. Auch erste Gespräche über die Mission werde es geben, sagt Rüdiger Seine, Leiter der Astronautenausbildung bei der Europäischen Weltraumorganisation Esa. Dann ist auch für Gerst erst einmal Weihnachten mit der Familie. An einem geheimen Ort.

Die Gewöhnung an den Planeten, auch an die Schwerkraft wird noch eine Weile dauern. Trotz aller Fitnessübungen dort oben erschlaffen die Muskeln und schwinden die Knochen – ganz einfach deshalb weil der Körper in der Schwerelosigkeit den hier unten üblichen Kampf gegen die Erdanziehungskraft nicht führen muss. Gerst wird gleich, nachdem ihn Helfer aus der Landekapsel ziehen, in einen Stuhl gesetzt. Schon das Heben der Arme bereitet Mühe.

Als ihm dies alles noch gelang, beim Start 198 Tage zuvor, lagen nicht nur Fernsehbotschaften vor ihm, sondern vor allem wissenschaftliche Experimente. Eines hieß „MagVector/MFX“, es ging um Wechselwirkungen des Erdmagnetfeldes mit variablen elektrischen Leitern. Alexander Gerst hat Eisen-Nickel- und Chondrit-Meteoriten, die sonst im Berliner Museum für Naturkunde lagern, mit ins All genommen.

Sie werden den Sensoren und dem Erdmagnetfeld, das die ISS alle 90 Minuten einmal komplett durchfliegt, ausgesetzt. Die winzigen Veränderungen an den Magnetfeldlinien werden vermessen. Die Daten sollen auch bei der Konzeption von Magnetschutzschilden für künftige Langstreckenmissionen helfen.

Gerst und seine Kollegen machen Dutzende weitere Experimente. Dazu gehört Materialforschung in der Schwerelosigkeit, von der man sich neue Bauteile für Präzisionsanwendungen erhofft. Dazu kommen Untersuchungen lebender Zellen in der Schwerelosigkeit und der Test eines mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Assistenzroboters namens Cimon, den Gerst Mitte November in Betrieb nimmt.

Er hat das Talent, Gefühle zu vermitteln

US-Astronautin Serena Auñón-Chancellor vermisst Gerst immer wieder mit einem an der Charité mitentwickelten Gerät namens Myotones. Erstmals kann detailliert, und ohne dass ein chirurgischer Eingriff nötig ist, die Muskulatur eines Astronauten beobachtet werden. Jetzt liegen Daten über den Muskelschwund in der Schwerelosigkeit vor – aber auch über den Einfluss des Fitnessprogramms an Bord. Forscher erhoffen sich unter anderem Hinweise darauf, ob und wie bei zukünftigen langjährigen Missionen das Muskelschwund-Problem in den Griff zu bekommen ist.

Der Fallschirm geht in der kasachischen Steppe nieder.
Der Fallschirm geht in der kasachischen Steppe nieder.

© Shamil Zhumatov/ Reuters

Fachliche Kompetenz in vergleichbarer Qualität haben die anderen Raumfahrer auch. Was Gerst besonders macht, ist sein Talent als Vermittler von Eindrücken, Gedanken, Erkenntnissen, ja auch von Gefühlen. Für Kinder macht er die „Sendung mit der Maus“ aus dem All. Keinen Augenblick kommt er da – neben der schwebenden Maus, dem blauen Elefanten und dem Maulwurf – in die Gefahr, sich durch gekünstelte Naivität lächerlich zu machen.

Für die Erwachsenen spielt Gerst souverän mit den neuen Kommunikationstechnologien, die wir soziale Netzwerke nennen. Er nutzt sie, um aus dem All in Echtzeit Nachrichten über den Zustand unserer Erde zu senden. In der Abschiedsbotschaft von der ISS sagt er, dass „die einfachen Erklärungen oft die falschen sind“. Aber Gerst selbst liefert den Beweis, dass dieser Satz nicht stimmt. Wenigstens nicht absolut.

Er zeigt Fotos von den gewaltigen Wirbelstürmen, die über den Südstaaten der USA toben. Er habe ein Weitwinkelobjektiv benutzen müssen, um diese gewaltigen Naturerscheinungen, die in den letzten Jahren häufiger und heftiger auftreten, überhaupt aufnehmen zu können, sagt er. Schon mit dieser einfachen Bemerkung lässt er das Drama erahnen, dass sich da gerade am Boden abspielt.

Der Verdacht der Sabotage steht im Raum

Souverän moderiert er auch über die Turbulenzen hinweg, die seine Mission begleiten – im All, aber vor allem am Boden. Da ist dieses mysteriöse Loch in dem Sojus-Raumschiff, mit dem er und seine Kollegen zur ISS geflogen waren. Es wird im August entdeckt, als die Besatzung der ISS nach der Ursache für einen Druckabfall an Bord sucht. Im All kann das millimetergroße Leck rasch mit Epoxidharz und einem Tuch abgedichtet werden. Am Boden verursacht es noch längere Zeit russisch-amerikanische Verstimmungen.

Russlands impulsiver Raumfahrt-Chef Dmitri Rogosin meint vorschnell, da sei jemand mit voller Absicht am Werk gewesen. Sabotage. Russische Medien identifizieren auch gleich den Schuldigen: die Amerikaner. Im All hat sich die Aufregung längst wieder gelegt, da meldet die Nachrichtenagentur Itar-Tass, Russland wolle Überwachungskameras in seiner Sektion der ISS installieren. Von Gerst kam kein Kommentar. Die Erforschung des Kosmos ist einer der letzten Bereiche, in denen russisch-amerikanische Zusammenarbeit noch leidlich funktioniert.

Gerst bringt nun nicht nur die Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente mit zur Erde zurück, sondern auch Materialproben von der Umgebung des Loches. Wahrscheinlich ist es schon während der Sojus-Montage entstanden.

Helfer ziehen Gerst nach der Landung aus der Kapsel.
Helfer ziehen Gerst nach der Landung aus der Kapsel.

© AFP

Beim Rückflug rast die Landekapsel mit einer Geschwindigkeit von anfangs 28.000 Kilometern pro Stunde um die Erde und kommt ihr allmählich näher. Beim Eintritt in die dichteren Schichten der Atmosphäre beginnen die gewaltigen Kräfte des Bremsvorgangs zu wirken. Die Reibung erhitzt das Kapsel-Schutzschild auf Temperaturen um 2500 Grad. Innen, auf nur etwa zwei Quadratmetern Platz, fühlen die Astronauten das bis zu Fünffache ihres Körpergewichts. Seinen ersten Rückkehrflug 2014 schilderte Alexander Gerst mit den Worten: „Ich kann kaum atmen, weil meine Zunge so stark an den Gaumen gedrückt wird.“

Die Nasa will zurück auf den Mond

Gersts Arbeitsplatz auf Zeit, die ISS, ist ein Auslaufmodell. Die USA haben ihren Anteil an der Station schon vor längerer Zeit zum Verkauf ausgeschrieben. Die Nasa will schon bald keine Astronauten mehr auf eine Erdumlaufbahn schicken. Sie will nach fast 50 Jahren zurück auf den Mond. Ähnlich setzt die russische Weltraumagentur Roskosmos ihre Schwerpunkte.

Kürzlich wurden das Programm bis 2030 und in dieser Woche die Pläne für eine gewaltige Trägerrakete vorgestellt. Auch in den Roskosmos-Planungen spielt der Mond die zentrale Rolle. Russland will eine ständig bemannte Station errichten, als Startplatz für Flüge zu weiter entfernten Planeten und zur Gewinnung von Rohstoffen. Auch die deutsche Raumfahrtindustrie stellt sich darauf ein. „Da wollen wir dabei sein“, sagte Airbus-Chef Tom Enders vor kurzem dem „Handelsblatt“.

Doch der Mond liegt noch in der Ferne. Im März werden erst einmal die nächsten Raumfahrer zur ISS starten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false