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Ansicht einer untergegangenen Welt. Getreide kann in der Ukraine, wie hier nahe Kiew, derzeit weder ausgesät noch über Wasser oder Land exportiert werden.

© picture alliance / REUTERS

Agrarpolitik am Scheidepunkt: Essen in Zeiten des Krieges

Forschende der Berlin University Alliance untersuchen, wie Versorgungsstrukturen für Nahrungsmittel in Deutschland verbessert werden können.

Von Pepe Egger

Unsere Welt zerfällt. Die vernetzte, globalisierte Welt, ihre Warenströme und Handelsbeziehungen zerfallen, weil der Krieg die Verbindungen kappt. Im Moment, da in Deutschland und Europa Lieferstopps für Gas und Öl im Raum stehen – und für einige Länder für Gas schon vollzogen sind –, erweist sich unsere Abhängigkeit von russischen Energieexporten als Schwachpunkt, als Symptom einer verfehlten Energiepolitik.

Ähnlich ist es mit der Nahrungsmittelproduktion: Russland und die Ukraine erzeugen zusammen mehr als ein Viertel der globalen Weizenexporte. Jetzt, da der Krieg die Ausfuhr von Getreide aus beiden Ländern ebenso bedroht wie die Aussaat für kommende Ernten, erweist sich das globalisierte Nahrungsmittelsystem als anfällig, verletzlich. Vor allem in den Ländern des Globalen Südens drohen verheerende Folgen, da der Weizenpreis sich mehr als verdoppelt hat, was das Getreide für die Ärmsten unerschwinglich zu machen droht.

Steigende Weizenpreise bedeuten neue Herausforderungen für die Landwirtschaft

Auf einmal stehen wir vor neuen Herausforderungen. Und fragen: Sollen Deutschland und die Europäische Union ihre Landwirtschaft umstellen, um die ausgefallenen Lieferungen von Getreide und Ölsaaten aus Russland und der Ukraine zu kompensieren? Soll die Landwirtschaft weiter intensiviert werden, sollen ökologisch wichtige Brachflächen umgepflügt werden? Oder was sonst könnten wir tun, um die drohende Lebensmittelkrise abzufedern oder gar zu vermeiden?

Mögliche Antworten gibt ein Projekt, das im Rahmen der „Grand Challenge Initiative Social Cohesion“ der Berlin University Alliance – dem Exzellenzverbund von Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – seit 2020 arbeitet: „Social Cohesion, food and health. Inclusive Food System Transitions“.

Peter Feindt
Peter Feindt

© Erik Stolze

Ausgangspunkt ist, so Peter H. Feindt, Professor für Agrarpolitik an der Humboldt-Universität und Sprecher des Projektverbunds, „dass unser Ernährungssystem nach vielen verschiedenen Indikatoren nicht nachhaltig ist und verbessert werden muss. Vor allem wissen wir bisher wenig darüber, wie Entwicklungen im Ernährungssystem sich auf den sozialen Zusammenhalt auswirken – und umgekehrt“.

Einer der weiteren Projektkoordinatoren ist Klaus Jacob vom Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität. „Wir erforschen das Innovationsgeschehen, das derzeit in vielfältiger Art und Weise versucht, unser Ernährungssystem nachhaltiger zu machen“, sagt der promovierte Politikwissenschaftler. Man konzentriere sich auf die Frage, wie sich Innovationen – zum Beispiel die Regionalisierung der Lebensmittelproduktion, die Forschung an Laborfleisch, der stärkere Einbezug der Konsumentinnen und Konsumenten in die nachhaltigere Gestaltung des Ernährungssystems – auf den sozialen Zusammenhalt auswirken.

Klaus Jacob
Klaus Jacob

© Landtag Brandenburg

Die Agrarpolitik steht an einem Scheidepunkt

Das Projekt gründet auf einer Bestandsaufnahme, wie die Landwirtschaft in Deutschland derzeit tatsächlich organisiert ist: „Wenn wir eine Landkarte der landwirtschaftlichen Flächen hierzulande erstellen“, sagt Klaus Jacob, „dann werden auf 19 Prozent Pflanzen angebaut, die wir direkt als Nahrungsmittel verzehren. Auf 27 Prozent der Fläche erzeugen wir Futtermittel für die Produktion von Fleisch, das in Deutschland konsumiert wird. Auf weiteren 26 Prozent werden Futtermittel für tierische Produkte angebaut, die ins Ausland exportiert werden. Zudem bauen wir auf 13 Prozent der Fläche Lebensmittel an, die am Ende weggeworfen werden, und auf 14 Prozent Energiepflanzen.“

Jürgen Zentek
Jürgen Zentek

© Bernd Wannenmacher

Die Agrarpolitik steht derzeit an einem Scheidepunkt: Soll nun Grünland, auf dem Futter für Tiere wächst, umgebrochen und in Ackerland verwandelt werden? Sollen Ackerflächen, die aus Gründen des Klimaschutzes eigentlich brachliegen sollten, damit sich Insekten und Artenvielfalt erholen, für Futterzwecke genutzt werden, weil sonst Knappheit droht? Wie umgehen mit steigenden Lebensmittelpreisen? Sind günstigere, aber umweltschädlichere Anbauverfahren jetzt wieder Trumpf, weil wir uns Klimaschutz nicht mehr leisten können oder wollen? Andererseits hängt die Qualität beispielsweise von Weizen, die mit darüber entscheidet, ob er von Menschen gegessen werden kann oder verfüttert werden muss, auch davon ab, wieviel Dünger zur Verfügung steht und eingesetzt werden kann. Nachdem die Düngerpreise sich derzeit vor allem wegen der gestiegenen Gaspreise astronomisch verteuert haben, gilt es, auch dies einzubeziehen, wenn darüber nachgedacht, wie landwirtschaftliche Flächen am besten – für die Menschen und das Klima – genutzt werden können.

Cornelia Rauh
Cornelia Rauh

© privat

Trotzdem nennt Klaus Jacob drei große Stellschrauben, durch die die Nahrungsmittelproduktion nachhaltiger werden kann: erstens die Umstellung auf eine fleischärmere Ernährung, zweitens die Begrenzung der Lebensmittelverschwendung und drittens die Regionalisierung der Lebensmittelproduktion, so wie wir sie kennen.

Für den Großraum Berlin hieße das zum Beispiel, dass „Brandenburger Nahrungsmittel einen wesentlich höheren Anteil an der regionalen Versorgung haben könnten, als das bisher der Fall ist“, sagt Professor Jürgen Zentek, Direktor des Instituts für Tierernährung der Freien Universität Berlin, der die Voraussetzungen und Wirkungen von regionalisierten Wertschöpfungsketten erforscht. Im Rahmen einer der Projekt-Fallstudien werden Innovationen auf dem Feld der Entwicklung künstlichen Fleisches einerseits und pflanzenbasierter Proteine anderseits untersucht. Hier hat sich in den vergangenen Jahren ein weites Feld von Experimenten an innovativen Lebensmitteln eröffnet: Von künstlichem Laborfleisch über neuartige pflanzliche Proteinquellen zu Milch aus dem Labor und zu Versuchen, verstärkt Insekten oder Algen als Nahrungsmittel zu nutzen. „Auch diese Nahrungsmittel können dazu beitragen, durch den Ukraine-Krieg unterbrochene Lieferketten zu ersetzen und mehr Optionen für die Lebensmittelversorgung zu bieten. Zudem tragen sie potenziell zum Klimaschutz bei“, sagt die Leiterin der Fallstudie, Professorin Cornelia Rauh von der Technischen Universität Berlin. Ein interessanter Nebenaspekt der Produktion von künstlichem Fleisch: Dienen derartige Produkte, die oft (noch) relativ teuer sind, auch der sozialen Distinktion für eine gut betuchte Klientel? Oder sind sie eine echte Alternative für Menschen, die gerne Fleisch essen, aber dies tun wollen, ohne Tierrechte zu verletzen und mit einem potenziell viel geringeren CO2-Fußabdruck?

Mehr pflanzliche Nahrung für Menschen verwenden als zur Tierfütterung

Nicht von ungefähr hat auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir darauf hingewiesen, dass angesichts des drohenden Weizenmangels eine fleischärmere Ernährung ein positiver Beitrag wäre: Weil auf diese Weise mehr pflanzliche Nahrung für Menschen direkt zur Verfügung stünde, als wenn man sie zuerst an Tiere verfüttert und dann konsumiert.

Martina Schäfer
Martina Schäfer

© privat

„Wir dürfen aber auch die sozialen Innovationen, wie neue Organisationsstrukturen und Verhaltensweisen, nicht aus den Augen verlieren, die für einen verantwortungsvolleren Umgang mit knappen Ressourcen unverzichtbar sind“, argumentiert Professorin Martina Schäfer, Co-Sprecherin des Forschungsverbunds. So wird in einer der Fallstudien eine Bürgeraktiengesellschaft als soziale Innovation untersucht, die den Aufbau regionaler Bio-Wertschöpfungsketten finanziell unterstützt.

Die Situation ähnelt dem geplanten Umbau des Energiesektors: So wie der stärkere Einsatz erneuerbarer Energien weniger abhängig von äußeren Einflüssen macht, führt auch eine regionale Nahrungsmittelproduktion zu größerer Eigenständigkeit. Beides macht weniger verletzlich für Auswirkungen, wie wir sie derzeit durch den Krieg in der Ukraine erleben.

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