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Schutt und Asche: Ein Mann steht vor den Trümmern eines Gebäudes in Berg-Karabach.

© Uncredited/AP/dpa

Krieg in Berg-Karabach: Wie zwei Musiker die Bundesregierung aufrütteln wollen

Mehr Engagement für Frieden in Berg-Karabach und die armenische Minderheit in der Türkei: Dafür hat ein Verein eine bunte Promi-Truppe zusammengetrommelt.

Am 4. Oktober setzt der armenische Komponist Vache Sharafyan einen Hilferuf ab. „Es gibt bereits Hunderte von Opfern, Zivilisten und Soldaten“, schreibt er an befreundete Musiker in Deutschland. Viele Familien seien in „hoffnungslosen Situationen“, Künstler in Armenien und Berg-Karabach müssten zu Soldaten werden, um ihre Familien zu schützen. „Wir brauchen dringend eure Unterstützung,“ appelliert Sharafyan.

Zwei Tage später landet ein Schreiben des Vereins „deutsch-türkisch-armenische Freundschaftsgesellschaft e.V.“ in den Mailfächern der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Darin fordert der Verein die Parlamentarier auf, sich für eine stärkere Rolle Deutschlands bei Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan einzusetzen, außerdem für einen Stopp von Waffenlieferungen an die Türkei und für „massive politische Sanktionen für antiarmenische Kriegstreiber“.

Zu den Unterzeichnern gehören die Schauspielerin Katharina Thalbach, der Benediktinerpater Anselm Grün und der Bergsteiger Reinhold Messner, außerdem der Publizist Günter Wallraff, die Grünen-Politiker Cem Özdemir und Volker Beck sowie Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linken. Wer steckt hinter dem Verein, der diese bunte Truppe zusammengetrommelt hat?

„Massiv anti-armenische Stimmung“ in der Türkei

„Die Geschichte hat vor langer Zeit angefangen“, sagt Marc Sinan. Der deutsch-türkisch-armenische Gitarrist und Komponist gründete den Verein gemeinsam mit Markus Rindt, Hornist und Intendant der Dresdner Sinfoniker. Sinans Großmutter ist Überlebende des türkischen Genozids an den Armeniern von 1915. Als Sechsjährige verlor sie auf der Flucht ihre Eltern, wurde zwangsislamisiert und wuchs bei einer türkischen Familie am Schwarzen Meer auf.

Die Freundschaftsgesellschaft kritisiert vor allem die Einmischung der Türkei in den Konflikt. Ihnen geht es dabei auch um die armenische Minderheit in der Türkei. Schon lange gebe es eine „massiv anti-armenische Stimmung“ im Land, sagt Sinan, nun drohe sie umzukippen. „Unsere Freunde in Istanbul haben irrsinnig große Angst davor, dass es zu Pogromen kommen könnte.“ In dem seit über hundert Jahren andauernden Konflikt um Berg-Karabach wollen sich die Musiker nicht auf eine Seite schlagen.

Marc Sinan – seine Großmutter überlebte den Genozid an den Armeniern.
Marc Sinan – seine Großmutter überlebte den Genozid an den Armeniern.

© imago stock&people

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Völkerrechtlich gehört die Region zum islamisch geprägten Aserbaidschan, bewohnt wird sie überwiegend von christlichen Armeniern. 1991 erklärte die Region einseitig ihre Unabhängigkeit, worauf ein Krieg mit 30.000 Toten folgte. Die selbsternannte Republik Arzach wird bis heute von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt.

Die Türkei erkennt den Völkermord an den Armeniern nicht an

2015 realisierten Sinan und Rindt anlässlich des 100. Jahrestages des Genozids an den Armeniern das Konzertprojekt „Aghet“, armenisch für „Katastrophe“. Musiker und Komponisten aus Armenien, Deutschland und der Türkei kamen dafür zusammen, darunter Vache Sharafyan, der auch Mitglied im Verein ist.

Doch die Türkei erkennt den Völkermord, bei dem während des Ersten Weltkrieges je nach Schätzung 300 000 bis 1,5 Millionen Armenier getötet wurden, bis heute nicht als solchen an. 2016 sagte das Auswärtige Amt auf Druck der Türkei ein in Istanbul geplantes „Aghet“-Konzert ab.

Unterstützung kommt vor allen von Linken und Grünen

Sinan und Rindt wollten das nicht auf sich beruhen lassen und gründeten 2017 die deutsch-türkisch-armenische Freundschaftsgesellschaft, um Kulturprojekte durchzuführen und sich politisch einzubringen. Aktiv sind sie aber erst einmal geworden, um sich für die Freilassung des türkischen Schriftstellers Dogan Akhanli einzusetzen.

Dass vor allem Politiker der Linken und der Grünen den Verein unterstützen, hätten sie so nicht erwartet, sagt Rindt: „Wir haben alle gefragt.“ Auch jetzt hätten sich auf ihren offenen Brief vor allem Politiker der Linken, Grünen und SPD zurückgemeldet. „Leider ist am wenigsten aus der CDU/CSU-Fraktion zu hören“, sagt Sinan.

Markus Rindt gründete mit Marc Sinan den Verein Freundschaftsgesellschaft.
Markus Rindt gründete mit Marc Sinan den Verein Freundschaftsgesellschaft.

© picture alliance/dpa

Dietmar Bartsch, der Schirmherr der Freundschaftsgesellschaft ist, hatte Sinan und Rindt 2016 in den Bundestag eingeladen, als das Parlament die Armenien-Resolution verabschiedete. Darin erkannten die Abgeordneten den Völkermord an den Armeniern offiziell als solchen an, genauso wie die „unrühmliche Rolle“ des Deutschen Reiches als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches.

Auf die Verantwortung Deutschlands Armenien gegenüber berufen sich die Musiker jetzt in ihrem offenen Brief. „Das Desinteresse an Berg-Karabach steht im Missverhältnis zu Pomp und Gloria um die Armenien-Resolution“, sagt Sinan.

Cem Özdemir befürchtet, dass der Hass auch nach Deutschland kommt

Einer der prominenten Unterstützer des Vereins ist Cem Özdemir. Er ist davon überzeugt, dass Kulturprojekte auch politisch eine „gewaltige Rolle“ spielen. „Musik kann die Menschen zusammenbringen“, sagt er. Viele bekannte Volkslieder gebe es sowohl auf Armenisch als auch auf Türkisch. Auch Özdemir befürchtet Konsequenzen für die armenische Minderheit in der Türkei – aber auch in Deutschland.

„ Die Erdogan-Medien versuchen, den Deutschtürken fanatischen Nationalismus einzuimpfen“, sagt der Politiker. Im Konflikt um Berg-Karabach müsse Deutschland mithelfen, eine politische Lösung zu finden. Bisher bestand Deutschlands Engagement vor allem aus Telefonaten mit den beteiligten Staaten.

Cem Özdemir war bis 2018 Bundesvorsitzender der Grünen.
Cem Özdemir war bis 2018 Bundesvorsitzender der Grünen.

© imago images/Sven Simon

In Gesprächen mit der türkischen Regierung würde die Erwartung thematisiert, dass Ankara seinen Einfluss im Konflikt „verantwortungsvoll nutzt“, sagt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Waffenexporte an die Türkei seien auf einem „sehr niedrigen Stand“.

Für Sinan und Rindt ist das zu wenig. Mithilfe der prominenten Unterstützung wollen sie Öffentlichkeit für den Konflikt schaffen. Die Vereinsmitglieder haben dafür alle ihre Kontakte mobilisiert. Einige der Unterschriften waren Freundschaftsdienste, andere politisch motiviert. Günter Wallraff sagt dem Tagesspiegel, dass er sich vor allem für die bedrohten Armenier in der Türkei einsetzen wolle.

Ein armenisch-aserbaidschanisches Konzertprojekt ist in Planung

„Ich reise immer wieder in die Türkei, um mich dort mit politisch verfolgten Kollegen zu solidarisieren“, sagt der Journalist. Und Reinhold Messner? Über seine Beweggründe für die Unterschrift lässt sich nur spekulieren, er war für ein Statement nicht zu erreichen. Vielleicht ist es die Liebe zu der Bergregion. Bestens politisch vernetzt ist Messner – er geht seit Jahren mit Angela Merkel wandern.

Die Freundschaftsgesellschaft macht indes weiter mit ihrer Arbeit. Am Dienstag sprachen Vertreter des Vereins in der Bundespressekonferenz über Berg-Karabach. Außerdem in Planung ist ein Konzert mit armenischen, aserbaidschanischen und deutschen Musikern. „Mit Musik können wir Türen öffnen, die Politikern häufig verschlossen bleiben“, sagt Rindt.

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