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Der Höhenflug der Grünen: Grünes Licht – nur im Osten nicht

Bislang geht der Aufschwung der Grünen an Ostdeutschland vorbei. Das soll sich bis 2019 ändern. Dann wird gewählt: in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Michael Kellner hat früher nie die Ost–Karte gespielt. „Ich habe nie verheimlicht, dass ich aus Thüringen komme“, erzählt er bei einem Treffen in einem Ostberliner Café. „Aber ich habe auch nie absichtlich darüber geredet.“ Damit ist es jetzt vorbei. Geboren 1977 in Gera, seit fünf Jahren Bundesgeschäftsführer der Grünen, macht Kellner seine Biografie mittlerweile verstärkt zum Thema.

Als der Landesverband Brandenburg im Sommer den Zusammenschluss von Bündnis 90 und Grünen vor 25 Jahren feierte, sprach Kellner darüber, wie „befreiend“ und „verstörend“ es für ihn als Kind gewesen sei, als über Nacht alle Autoritäten verschwanden. Als Ostdeutscher habe er „Disruption“ ganz real erlebt. Aus solchen Erfahrungen könne man auch heute lernen in Zeiten, in denen sich Arbeit und Leben wieder radikal veränderten. Eine Rede, die er seitdem mehrmals gehalten hat – und mit der er auch das Image seiner Partei als Westverein korrigieren will.

Bisher geht der Aufschwung der Grünen am Osten vorbei

Bundesweit erleben die Grünen einen ungeahnten Aufschwung, Umfragewerte von mehr als 20 Prozent sind keine Ausnahme mehr. Nur im Osten verharrt die Partei bei sechs bis acht Prozent. Für die Grünen ist Deutschland ein gespaltenes Land. In Mecklenburg-Vorpommern flogen sie 2016 aus dem Landtag, bei der Bundestagswahl vor einem Jahr blieben sie in den ostdeutschen Ländern unter fünf Prozent, mit Ausnahme von Brandenburg.

Woran liegt es, dass die Partei zwischen Greifswald und Sonneberg auf keinen grünen Zweig kommt? Und lässt sich dagegen überhaupt etwas tun? Fragen, die ein Jahr vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen viele Grüne umtreiben.

Ein Teil der potenziellen Wähler ist abgewandert

Die Schwäche hat strukturelle Gründe. Die Grünen leiden darunter, dass ein Teil ihrer potenziellen Klientel seit der Wiedervereinigung aus dem Osten abgewandert ist, jüngere, gut qualifizierte Menschen. Außerdem greift die Linkspartei Teile des Milieus ab, das im Westen vielleicht grün wählen würde, Lehrer, Sozialarbeiter, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Und angesichts der SPD-Schwäche ist es für die Ost-Grünen nur begrenzt möglich, rot-grüne Wechselwähler zu mobilisieren.

Hinzu kommt, dass die Grünen in den Augen vieler Menschen vor allem Ökopartei sind. Gerade in strukturschwachen Gebieten dominieren andere Themen, etwa die soziale Absicherung oder die fehlende Infrastruktur. Außerdem werde die Ökofrage im Osten anders wahrgenommen, sagt Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. „Natürlich merken die Menschen hier auch, wie trocken dieser Sommer war“, sagt die Thüringerin. Aber die Erfahrung der letzten 25 Jahre sei auch gewesen, dass die Umwelt besser geworden sei. „Wir hatten dreckige Flüsse und Braunkohleheizungen. Jetzt haben wir Naturschutzgebiete und draußen stinkt es nicht mehr.“

Die Grünen werden als Westpartei wahrgenommen

Ähnlich wie Kellner hat auch Göring-Eckardt angefangen, über ihre ostdeutsche Herkunft zu sprechen. „Ich wollte nie eine Vertreterin Ostdeutschlands sein“, sagt die 52-Jährige. Doch sie empfinde es zunehmend als Problem, dass es in den Eliten in diesem Land nahezu keine Ostdeutschen gebe. „Wir werden nicht als Teil einer gesamtdeutschen Erfolgsgeschichte wahrgenommen.“ Kellner hält es für einen Fehler, dass seine Partei nicht öfter von der Vereinigung der ostdeutschen Bürgerrechtler mit den westdeutschen Grünen erzählt habe. Eine einmalige Geschichte in der deutschen Parteienlandschaft, findet der 41-Jährige. Die grünen Wurzeln im Osten seien vernachlässigt worden. „Wir haben zugelassen, dass unsere Partei als westdeutsche wahrgenommen wird.“

In der Grünen-Führung sind Ostdeutsche gut vertreten

Dabei sind in der Grünen-Führungsriege Ostdeutsche gut vertreten. Neben Göring-Eckardt und Kellner ist da Ska Keller, Chefin der Grünen-Fraktion im Europaparlament, aufgewachsen in Guben in der Niederlausitz. Auch Annalena Baerbock kann auf Ost-Erfahrung verweisen. Die Parteichefin stammt zwar aus Niedersachsen, ist aber seit mehr als einem Jahrzehnt in Brandenburg zu Hause, hier ist sie politisch groß geworden. Als Bundestagsabgeordnete hat sie Wahlkreisbüros in Potsdam und Frankfurt an der Oder, in zwei Wochen eröffnet sie eines in Neuruppin.

Schaut man sich die Mitgliederzahlen an, sieht das Bild anders aus. Von den gut 70 000 Mitgliedern kamen Ende September knapp 5300 aus dem Osten, gerade mal 7,5 Prozent. Kleinster Landesverband ist Mecklenburg-Vorpommern mit 711 eingetragenen Grünen. Zum Vergleich: In München nahmen die Grünen Mitte Oktober ihr zweitausendstes Mitglied auf.

In Greifswald gibt es einen grünen Oberbürgermeister

Natürlich gibt es auch im Osten Pflänzchen, die wachsen. In Greifswald wurde 2015 ein grüner Oberbürgermeister gewählt, der erste in Ostdeutschland. In Städten wie Leipzig und Rostock hat die Partei Zulauf. Prozentual sind die Mitgliederzuwächse im Osten derzeit sogar höher als im Westen, in Brandenburg und Sachsen zweistellig seit Jahresbeginn. In Frankfurt an der Oder schickten die Grünen gemeinsam mit der Linkspartei einen Oberbürgermeister-Kandidaten ins Rennen, mit Erfolg. Seit einigen Monaten stellen sie nun den Dezernenten für Bau und Stadtentwicklung. Zum Spätsommerempfang des Kreisverbands kamen dieses Mal nicht nur die paar üblichen Grünen, sondern auch Stadt-Honoratioren wie der Leiter des Olympiastützpunkts. „Der lange Atem hat sich ausgezahlt“, sagt Kellner.

Aber es gibt auch nach wie vor Regionen, in denen die Grünen nicht präsent sind. Bei ihren Wahlkampftouren hat Parteichefin Baerbock den Unterschied erst wieder feststellen können. „In Bayern haben die Grünen seit 30 Jahren daran gearbeitet, dass sie in den Kommunen fest verankert sind“, sagt sie. Für ihre Partei sei es eine „riesengroße Aufgabe“, auch im Osten in der Fläche zu wachsen. Um einen neuen Ortsverband zu gründen, müsse man extrem viel Kraft und Leidenschaft aufbringen, sagt sie. „Das ist Pionierarbeit.“ Wenn es aber vor Ort schon Grüne gebe, sei die Hürde geringer, mal vorbeizuschauen.

Nach der Oberbürgermeisterwahl in Frankfurt habe man gemerkt, was ein solcher positiver Impuls auslösen könne. „Dann kennt man Grüne und traut sich auch mitzumachen“, sagt sie. Während der Kreisverband Anfang der 2000er eine gute Handvoll Mitglieder hatte, sind es heute 27, plus Sympathisanten, die mit anpacken. Inzwischen hat sich sogar eine Grüne Jugend in der Stadt gegründet.

Nicht nur auf die Städte setzen, sondern auch aufs Land

Lange war es in der Bundespartei nicht selbstverständlich, auch in abgelegene Regionen zu gehen. Doch in der Parteispitze hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht reichen wird, nur auf die ostdeutschen Städte zu setzen. Bei ihrer Sommerreise hat Baerbock bewusst einen Schwerpunkt aufs Land gelegt: Im Eichsfeld war sie mit einer Pflegekraft unterwegs, im Oderbruch mit einer Hebamme, in Buckow bei einem Jugendförderverein. „Wir müssen den Menschen deutlich machen, dass sie gesehen werden“, sagt sie. Schon als einfache Bundestagsabgeordnete war sie viel in Brandenburg unterwegs, besuchte in den Dörfern Flüchtlingsinitiativen, Schulen oder Seniorenvereine.

Noch ein Jahr bis zu den Wahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen, dann zeigt sich, ob die bundesweite Stärke der Grünen auf den Osten abstrahlt. Bundesgeschäftsführer Kellner hat längst mit der Planung begonnen. Im August lud er die ostdeutschen Kreisverbände zur Klausur nach Berlin ein, um sie auf 2019 vorzubereiten. In der Parteizentrale soll im November zusätzliches Personal für einen Wahlkampfstab eingestellt werden, der sich nicht nur um die Europawahl kümmern, sondern auch die wahlkämpfenden Landesverbände im nächsten Herbst unterstützen soll.

Göring-Eckardt mahnt in der Fraktion schon jetzt, dass möglichst viele sich in die anstehenden Wahlkämpfe einmischen, auch Abgeordnete aus dem Westen. „Ich wünsche mir sehr, dass meine Parteikollegen dieses unbekannte Land, das auch ihr Land ist, entdecken wollen“, sagt sie. Natürlich sei es „nicht so cool“, im Osten Wahlkampf zu machen wie in einer Grünen-Hochburg im Westen. Neulich war sie bei einer Veranstaltung in Chemnitz, unter Polizeischutz, weil im Vorfeld auch die Rechten ihre Anhänger mobilisiert hatten. „Das waren harte drei Stunden“, sagt Göring-Eckardt. Aber sie hält „Zuhören und Reden“ für das einzige Rezept, das funktioniert. Seit Längerem setzt sie nicht mehr auf frontale Wahlkampfreden, sondern baut stattdessen lieber Kaffeetafeln in der Innenstadt auf, um ins Gespräch zu kommen.

Stärker an das Erbe der Bürgerrechtsbewegung anknüpfen

Ihrer Partei rät Göring-Eckardt außerdem, stärker an das Erbe der Bürgerrechtsbewegung von 1989 anzuknüpfen. An die Idee, gesellschaftliche Bündnisse zu schmieden, um die eigene Politik voranzubringen, das gehöre zum „Kern“ der Partei. Sie selbst war Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs und von Demokratie Jetzt, bei den Verhandlungen zum Zusammengehen von Bündnis 90 und den Grünen war sie dabei. In den gemeinsamen Grundkonsens sei dieser Gedanke damals geschrieben, dann aber vergessen worden. „Wir müssen heute schauen, wo es Bündnisse, Brücken oder Mehrheiten gibt“, sagt Göring-Eckardt. Von der eigenen ostdeutschen Geschichte zu lernen – hier wäre eine Gelegenheit für die Gesamtpartei.

Dieser Text erschien am 6. November 2018 in "Agenda", einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint.

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