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Die Initiative fordert eine Landesstiftung für politisch Verfolgte

© Harry Thomass / Keystone

30 Jahre Mauerfall: „Diese Geschichte verpflichtet uns alle“

Im November 2019 jähren sich 30 Jahre Mauerfall. Berlin sollte das zum Anlass nehmen, eine Stiftung für politisch Verfolgte zu gründen, fordert nun eine Initiative.

Warum nicht mal die üblichen Rituale des Gedenkens durchbrechen, dachten sich Renate Künast und Hannah Neumann. In den letzten Monaten arbeiteten die beiden Grünen-Politikerinnen an einer Idee, die sie nun an die Berliner Landespolitik herantragen wollen. Im November 2019 jährt sich der Fall der Mauer zum 30. Mal, im Senat werden erste Vorüberlegungen für das Jubiläum angestellt. Doch wie kann die Stadt mit einem solchen Anlass angemessen umgehen?

"Was lernen wir daraus?"

Natürlich sei es bei einem solchen Datum auch wichtig, der Geschichte zu gedenken, sagt Künast. „Aber spannend ist doch auch die Frage: Was lernen wir daraus?“ Gemeinsam mit ihrer Parteifreundin hat sie deshalb einen Aufruf verfasst zur Gründung einer Landesstiftung für politisch Verfolgte unter Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters. Unterstützt wird die Forderung von einer Reihe prominenter Bürgerrechtler und Menschenrechtspolitiker sowie von Künstlern, Journalisten und Wissenschaftlern, die in Berlin im Exil leben.

Menschenrechtsverteidiger könnten temporär Zuflucht finden

Die Idee: Die Stiftung vergibt Stipendien an Menschenrechtsverteidiger aus Ländern, in denen es um diese Rechte nicht gut bestellt ist. Für einen bestimmten Zeitraum, etwa ein Jahr, können sie in Berlin Zuflucht und Ruhe finden, Kontakte knüpfen, aber vielleicht auch etwas lernen, was ihnen bei der Rückkehr in ihre Heimatländer hilfreich sein kann.

Gerade Berlin wäre für eine solche Stiftung geeignet, finden Künast und Neumann. Im November 2019 werde man sich freudig daran erinnern können, dass vor 30 Jahren die Mauer gefallen sei, eben weil es Menschen gegeben habe, die sogar ihr eigenes Leben eingesetzt hätten, um diese zu überwinden, schreiben sie in ihrem Aufruf: „Wir meinen, diese Geschichte verpflichtet uns alle, die wir heute in der wiedervereinten Stadt Berlin leben.“ Am 9. November 2019 solle man nicht nur feiern. „Wir sollten angesichts der Verantwortung aus unserer Geschichte etwas Neues beginnen und uns weltweit für all diejenigen einsetzen, die auch heute noch eingeschüchtert, verfolgt und eingesperrt werden, weil sie Regime kritisieren und für die Rechte anderer eintreten.“

Vorbild ist die Stiftung für politisch Verfolgte in Hamburg

Vorbild ist die Stiftung für politisch Verfolgte, die vor 32 Jahren in Hamburg auf Initiative des damaligen Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi gegründet wurde. Jedes Jahr lädt die Stiftung fünf Gäste aus aller Welt ein: den Bauernführer aus Kolumbien, die Journalistin aus Mexiko, den Wissenschaftler aus der Türkei. Gemeinsam ist ihnen, dass sie wegen ihres Engagements stark unter Druck geraten sind.

Als Stipendiaten erhalten sie ein Jahr Wohnung, Krankenversicherung, ein Stipendiengeld und persönliche Betreuung. „Manche Menschen kommen sehr erschöpft an“, sagt Geschäftsführerin Martina Bäurle. So wie die Journalistin aus Mexiko, die wegen ihrer Berichte über Verbindungen zwischen Regierung und Mafia in ihrer Heimat eine schusssichere Weste und einen Chip zur Ortung tragen musste und sich doch nie sicher fühlen konnte. „Sie musste sich erst mal daran gewöhnen, dass sie hier ohne Argwohn zum Bäcker gehen oder sich in ein Café setzen konnte“, sagt Bäurle. Viele Menschen seien froh, bei ihrem Aufenthalt wieder Kraft und Mut schöpfen zu können, sodass sie nach Ablauf des Jahres gestärkt in ihre Heimatländer zurückkehren können.

Mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen und Auswärtigem Amt recherchiert Bäurle, wer Kandidaten für das Programm sein könnten, der Vorstand entscheidet dann über die Einladungen. Manchmal muss es ganz schnell gehen wie im Fall des türkischen Wissenschaftlers, dem nur zwei Stunden nach seinem Abflug der Pass- entzug gedroht hätte. Bäurle kümmert sich nicht nur um praktische Dinge wie Visa. Sie stellt auch Veranstaltungen auf die Beine, Lesungen, Ausstellungen, politische Diskussionen.

Auch auf EU-Ebene gibt es mittlerweile einen eigenen Schutzmechanismus für Menschenrechtler, die „Protect Defenders“, die von einem Konsortium aus Menschenrechtsorganisationen betrieben werden. Seit Oktober 2015 sind 291 bedrohte Menschen temporär aus ihren Ländern herausgeholt worden, knapp die Hälfte nach Europa. Für die Unterstützung ist eine Kofinanzierung erforderlich, sei es durch eine Stiftung oder durch ein Land. „Es gibt viele Menschenrechtsverteidiger, die einen Ortswechsel nötig hätten, ihn aber nicht bekommen“, sagt Guus van Zwoll, der zum Team in Brüssel gehört. Schätzungen zufolge bräuchten 300 Menschen jährlich Hilfe, es gebe aber nur rund 110 Plätze. Eine zusätzliche Stiftung in Berlin fände van Zwoll daher sinnvoll.

Ein Stipendienprogramm wäre "relativ einfach zu stemmen"

Genauso geht es Markus Löning, der den Aufruf unterzeichnet hat. „Wir können Menschenrechtsverteidigern nicht nur eine Atempause bieten, sondern sie auch dabei unterstützen, Netzwerke aufzubauen“, sagt der frühere FDP-Politiker, der Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte von 2010 bis 2014 war. Bei der Rückkehr in die jeweiligen Heimatländer könnten solche Netzwerke wiederum Schutz bieten. Außerdem könne man diesen Menschen praktische Hilfestellungen geben, etwa indem man sie schule, E-Mails so zu verschlüsseln, dass ein Geheimdienst nicht gleich mitlesen könne. Ein solches Stipendienprogramm sei außerdem „relativ einfach zu stemmen“, sagt Löning.

Ein Finanzierungskonzept haben Künast und ihre Mitstreiterin nicht vorgelegt, um Überlegungen des Senats nicht vorzugreifen. Aber mit einigen 100 000 Euro im Jahr könne man eine Menge bewegen, ist Künast überzeugt. Schon für die Kommunikationskampagne, die der Senat anlässlich von 30 Jahren Mauerfall plant, sind im Haushalt 200 000 Euro eingeplant. In Hamburg sorgte der Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma damals für die Anschubfinanzierung der Stiftung. Der Senat kommt mittlerweile für drei Stipendien pro Jahr auf, die restliche Finanzierung erfolgt über Spenden.

Die Idee kam den Initiatorinnen, als sie sich Anfang März bei einer Preisverleihung trafen, bei der kolumbianische Frauenrechtlerinnen für ihr Engagement ausgezeichnet wurden. Die Grünen-Politikerin Neumann ist Friedens- und Konfliktforscherin, sie war mehrfach auf den Philippinen und in Liberia und ist als Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. „Von Menschenrechtlern in solchen Ländern habe ich immer wieder die Rückmeldung bekommen, dass unsere Solidarität ihnen Kraft gibt“, sagt sie. Bei der letzten Bundestagswahl kandidierte die 34-Jährige im Wahlkreis Lichtenberg, wo sie auch mit ihrer Familie wohnt, nicht weit von der früheren Stasi-Zentrale. „Berlin hat eine eigene Geschichte, was politische Verfolgung angeht, vom zweiten Weltkrieg bis zur DDR-Zeit“, sagt Neumann. Und mittlerweile sei Berlin zu einem Ort geworden, an dem viele politisch Verfolgte lebten.

Unterzeichnet haben Menschenrechtspolitiker, Bürgerrechtler und Menschen, die in Berlin im Exil leben

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehören nicht nur Menschenrechtspolitiker wie Löning und seine Amtsvorgänger Günter Nooke, Tom Koenigs und Gerd Poppe. Hinzu kommen Menschen, die in Berlin im Exil leben: etwa der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu und der Künstler Ai Weiwei, die somalische Frauenrechtlerin Fatuma Musa Afrah und die syrische Journalistin Yasmine Merei. Künast und Neumann legen Wert darauf, dass es sich um eine überparteiliche Initiative aus der Stadtgesellschaft handele. Aus dem Bundestag sind die Berliner Abgeordneten Monika Grütters (CDU), Eva Högl (SPD) und Petra Pau (Linke) dabei. Außerdem haben sie Bürgerrechtler für die Idee gewinnen können: Roland Jahn, den heutigen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, und seine Vorgängerin Marianne Birthler. Die Autorin Freya Klier, aber auch Tom Sello, Beauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin.

"Eine andere Form von Denkmal"

Ihren Aufruf haben Künast und Neumann nicht nur an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller und seine Stellvertreter Ramona Pop und Klaus Lederer geschickt, sondern auch an das Abgeordnetenhaus. Bis zum November nächsten Jahres bliebe noch genügend Zeit, ein solches Projekt auf die Beine zu stellen, sind sie überzeugt. Und sollte der Senat eine Stiftung einrichten, wäre das aus Sicht von Künast auch eine Würdigung des Engagements der Bürgerrechtler aus Wendezeiten, die auch in Haft saßen oder unter Druck gesetzt wurden: „Es wäre eine andere Form von Denkmal, das nicht in Stein gemeißelt wäre.“

Der komplette Aufruf ist nachzulesen unter: https://weact.campact.de/p/Stiftung

Dieser Text wurde am 03. Juli 2018 in der "Agenda" veröffentlicht, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint.

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