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Grenzerfahrung. Am 15. August 1961 beobachtet Georges Schulze, damals 14 Jahre alt, den Bau der Berliner Mauer – und stemmt die Hände in die Hüfte.

© Bernd Thiele/Ullstein

55 Jahre Mauerbau: "Antifaschistischer Schutzwall" vor der Nase eines 14-Jährigen

Er ist 14 Jahre alt, da ziehen sie die Mauer hoch. Direkt vor ihm, in der Berliner Ackerstraße. Dieser Moment prägt Georges Schulzes ganzes Leben - und verbindet ihn auf ewig mit der Grenze.

Ein Schreck war das schon. Als Georges Schulze nichts ahnend mit Freunden zur Ackerstraße fuhr und dort, wo einst die Mauer die Stadt in zwei Hälften geteilt hatte, eine Giebelwand emporblickte – und sich selbst wiedererkannte. Da stand er auf dem reproduzierten und vergrößerten Foto, 14 Jahre alt, die Hände in die Hüfte gestemmt und schaute zu, wie Bauarbeiter die letzte Lücke in der Bernauer Straße schlossen. Damals im August 1961.

Die Stirn ist in den vergangenen 55 Jahren höher geworden, aber die Ähnlichkeit ist unverkennbar mit dem Jungen, der da von oben auf die Besucher der Mauer-Gedenkstätte herunterblickt. Schulze ist fast 70, ein schlanker Mann, der beim Erzählen die Hände immer noch in die Hüfte stemmt und zwischendurch der Bitte nachkommt, ein paar Touristen zu knipsen. Ist er aus Ost oder West? – interessiert keinen mehr.

Dass der kleine Junge von einst nun riesengroß auf der Giebelwand der Ackerstraße 39 prangt, als Teil der Gedenkstätte Bernauer Straße, habe er damals kaum glauben wollen. Zu ause verglich er das historische Bild mit anderen Fotos aus seiner Jugend und beriet sich mit seinen Töchtern – bis er wirklich sicher war. Ist er nun stolz darauf, als Zeitzeuge verewigt zu sein? Ja, sagt er, das sei schon was Besonderes, auch weil das Foto immer wieder veröffentlicht wird. Aber, fragt er, kann man stolz sein auf etwas, „was doch einen so schlimmen Hintergrund hat?“

Grenzenlos. Schulze besucht 55 Jahre später den Ort noch einmal – nun befindet sich dort die Gedenkstätte Bernauer Straße.
Grenzenlos. Schulze besucht 55 Jahre später den Ort noch einmal – nun befindet sich dort die Gedenkstätte Bernauer Straße.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Reisegruppe, die an ihm vorbei läuft, blickt in der Gedenkstätte auf einen gepflegten Rasen und eine Reihe filigraner Stahlstreben. Georges Schulze aber sieht immer noch die Häuser, die einst hier standen, und den mörderischen Grenzwall. „Ich habe mir damals nie vorstellen können“, sagt Schulze, „dass die Mauer mal weg ist“.

Das Grenzbollwerk der DDR hat ihn über Jahrzehnte begleitet, hat zu seinem Leben gehört. Der schlaksige Junge, der da vor den Bauarbeitern steht, und ein wenig verwundert in die Kamera schaut, kann noch nicht ahnen, wie diese Tage im August sein Leben bestimmen werden. Doch die Aufregung und die Unruhe der Eltern über die nun mitten durch die Stadt gezogene Absperrung, die spürten auch die Kinder.

Kurz nach ein Uhr in der Nacht waren an der Grenzlinie die Mannschaftswagen der Volkspolizei, der Grenztruppen und der DDR-Betriebskampfgruppen vorgefahren. Provisorisch war die Absperrung zu Beginn, bestand aus Hohlblocksteinen und Stacheldraht. In der Ackerstraße Ecke Bernauer Straße, wo das Foto entstand, waren die Bauarbeiter erst zwei Tage später angekommen. Nun stand Schüler Georges Schulz hier, wo direkt vor der Hausnummer 42 mit Steinblöcken die Straße zugemauert wurde. Bauarbeiter mit Schiebermütze, die Mörtel auf die groben Steine klatschen ließen, dazwischen bewaffnete Grenzsoldaten. Damals wäre es noch ein Leichtes gewesen, in einem unbemerkten Moment von der niedrigen Mauerkrone in den Westen zu entkommen – so wie ganz in der Nähe ein Volkspolizist über die Stacheldrahtrollen in die Freiheit sprang.

Zunächst fehlten Steine und Beton

Eine Grenze mitten durch seinen Kiez, wo die Großeltern wohnten, und er jeden Hinterhof kannte. Bis zum 13. August hatte an der Straßenecke nur ein Schild gestanden: „Ende des französischen Sektors“. Ein Schild, an dem die Kinder und Erwachsenen jeden Tag vorbeiliefen aus beiden Richtungen. Die West-Berliner gingen über die unsichtbare Grenze zum Schuhmacher oder Handwerker im Ost-Bezirk Mitte, und die Ost-Berliner liefen zum Nordbahnhof, um zur Arbeit in den „West-Sektoren“ zu fahren. Oder zum Einkaufen in die belebte Brunnenstraße. Dort konnten die Ost-Berliner ihr Ost-Geld tauschen, was die SED-Führung ärgerte, aber in den Weddinger Geschäften gab es vieles, was in Ost-Berlin nicht zu bekommen war. Und sie konnten Hollywood-Filme sehen, die in Ost-Berliner Kinos nicht gezeigt wurden.

Die Weddinger besuchten wiederum die Verwandten in der „Zone“ oder die Gräber auf dem Sophien-Friedhof. Georges Schulze erinnert sich noch genau. Wie er häufig die Straße entlang lief zum Fahrradgeschäft, wo es die schicken Tretroller gab mit den Ballonreifen. Dass der Laden auf dem Gebiet der „Hauptstadt der DDR“ lag, war ihm als Kind nicht bewusst. Die DDR-Volkspolizisten, die auf der Straße ihren Dienst versahen, „die gehörten einfach dazu“. Nur manchmal wurden Passanten nach ihrem Ausweis gefragt oder kontrolliert, wenn sie mit auffällig dicken Taschen aus dem Westteil zurück kamen.

Ost oder West, hatten keine Bedeutung

Ost oder West, das hatte für ihn als Jungen keine Bedeutung; war ebenso unwichtig wie die Schilder, die entlang der Bernauer Straße das Ende des französischen Sektors verkündeten. Auch das nahegelegene Walter-Ulbricht-Stadion, das erst nach dessen Sturz 1971 in Stadion der Weltjugend umbenannt wurde, hatte Georges Schulze oft besucht. In der nach dem Mauerfall abgerissenen Arena, die rund 70.000 Zuschauer fasste, bejubelte er den Rennrad-Heroen Täve Schur, den zweifachen Weltmeister und mehrfachen Gewinner der DDR-Friedensfahrt. An die Grenze dachte damals niemand, Schur war einfach ein toller Typ mit schnellen Beinen.

Die ab 1961 steigenden Flüchtlingszahlen, die überfüllten Notaufnahmelager in West-Berlin, die Unruhe in der Politik, das hatten die Menschen schon registriert – aber eine Mauer? Unvorstellbar. Auch SED-Chef Walter Ulbricht hatte doch wenige Tage zuvor auf einer internationalen Pressekonferenz gesagt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“ Die Absperraktion am 13. August kam so überraschend, dass die Lebenslinien zwischen den beiden Stadthälften zerschnitten wurden, bevor die Menschen dies emotional begreifen konnten. Hunderttausende Familien in Berlin und Umgebung wurden für fast drei Jahrzehnte getrennt.

Später wurde er Polizist

Schulzes Augen im schmalen Gesicht schauen auch 55 Jahre danach immer noch wach und neugierig. Dazwischen liegt ein ganzes Leben, in dem sich die wechselvolle Geschichte der Stadt auf vielfältige Weise widerspiegelt. Geboren als Kind einer verbotenen Liebe; der Vater ein französischer Besatzungssoldat, den er nie kennengelernt hat. Nur dessen Vornamen trägt er. Sein Vater musste mit Strafhaft für die Beziehung zu einer deutschen Frau büßen, bevor er zur Fremdenlegion zwangsversetzt wurde.

Und so hatte die deutsche Teilung schon Einfluss auf sein Leben, bevor Georges Schulze überhaupt geboren war. „Die Mauer war immer da“, sagt er. Nach der Schule machte er zunächst eine Reitlehrer-Ausbildung in der Reitschule der längst abgerissenen Deutschlandhalle am Funkturm. Dann begann er eine Feinblechner-Lehre, bevor er 1973 zur Polizei wechselte. Was Sicheres in unsicheren Zeiten. Mit 19 Jahren wurde er erstmals Vater, zwei weitere Töchter folgten.

Nach dem Mauerbau gab es in der Bernauer Straße noch eine geschlossene Häuserreihe, die komplett auf Ost-Berliner Gebiet stand – aber ihre Einfahrten und Türen führten auf den Bürgersteig, der schon zu West-Berlin gehörte. Deshalb konnten in den ersten Stunden der Abriegelung viele Mieter unbehelligt flüchten, auch wenn ihre Möbel zurückblieben. In den Wochen nach dem 13. August setzten sich immer wieder Ost-Berliner über diese Häuser in den Westen ab.

Viele Fluchtversuche endeten tragisch

Um die Welt gingen die Bilder der Flucht einer alten Frau aus dem Haus Bernauer Straße 34. Ängstlich kauerte sie im ersten Stock auf dem Fenstersims, bedrängt von einem Volkspolizisten, der sie in die Wohnung zurückziehen wollte, bis sie in die Tiefe stürzte – und aufgefangen wurde vom Sprungtuch der West-Berliner Feuerwehr. Mehrere andere Fluchtversuche endeten tragisch. So stürzte die 59-jährige Ida Siekmann aus der dritten Etage der Bernauer Straße 48 in den Tod. Ein 22-Jähriger starb beim Sturz vom Dach, nachdem er von Volkspolizisten beschossen worden war.

Die DDR-Führung hätte die Häuserreihe gerne komplett abgeriegelt, doch ihr waren vorerst Steine und Beton ausgegangen. So wurden zunächst nur die Fenster im Erdgeschoss zugemauert. Wer nicht geflohen war, wohnte weiter im Haus. Schulze hat miterlebt, wie die Bewohner erst Wochen später von Volkspolizei und Betriebskampfgruppen umgesiedelt wurden. Danach wurden alle Fenster bis zum vierten Stock zugemauert – insgesamt 50 Tore, 37 Läden und 1253 Fenster. Das Eckhaus Ackerstraße 42 wurde am 25. Oktober 1961 zwangsgeräumt und zugemauert – es war Georges 15. Geburtstag.

Um weitere Fluchtversuche zu vereiteln, wurde mit dem Bau einer zweiten Sperrmauer begonnen, die 100 Meter hinter der eigentlichen Grenze verlief. Auf den Friedhöfen entlang der Ackerstraße wurden hunderte Gräber ausgehoben, die Knochen zusammengeschüttet und weggefahren. Die Gläubigen der evangelischen Versöhnungsgemeinde waren seit dem 13. August von ihrer Kirche abgeschnitten. Der imposante Bau mit spitzem Turm stand auf der Ost-Berliner Seite der Bernauer Straße, der größte Teil der Gemeinde aber wohnte im Westen, in Wedding. Direkt vor dem Portal der Kirche wurde die Mauer gezogen, jahrelang stand das Gotteshaus im Sperrgebiet, bis es 1985 trotz aller Proteste gesprengt wurde.

Als Polizist fuhr Schulze regelmäßig die Grenze ab

Da arbeitete Georges Schulze längst als Polizist. Mit dem Streifenwagen fuhr Schulze regelmäßig die Grenze ab. Die Bernauer Straße war damals aber nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr eines Ende erlangte dafür traurige Berühmtheit als „Selbstmörderkurve“: Immer wieder jagten West-Berliner mit ihren Autos die schnurgerade Gartenstraße entlang, um dann in der Kurve mit voller Absicht auf die abknickende Mauer zu prallen.

Das Gelände direkt vor der Mauer durfte die Polizei nicht betreten, weil der Streifen an vielen Stellen zur DDR gehörte. Wenn dort etwas vorfiel, etwa Menschen vom Westen auf die Mauerkrone kletterten, durfte nur das Militär der West-Alliierten eingreifen. Georges Schulze arbeitete deshalb oft mit französischen Soldaten zusammen. Zum Beispiel als DDR-Grenzer hinter einem Flüchtling herschossen und mehrere Kugeln in ein Haus auf West-Berliner Gebiet einschlugen.

Die „Schandmauer“, wie der Grenzwall in der politisierten Öffentlichkeit im Westen genannt wurde, war da längst aufgerüstet worden. Nun gab es eine richtige Mauer mit einem obenliegenden Rohr, damit sich Flüchtlinge nicht an der Kante festhalten konnten; dahinter lag der breite „Todesstreifen“ und die „Hinterlandmauer“. Abgerissen waren alle Wohnhäuser entlang der Bernauer Straße. Auch im östlichen Teil der Ackerstraße wurden die drei ersten Häuser abgetragen, damit die Posten auf dem neu errichteten – und immer noch existierenden – Wachturm freies Schussfeld über das Friedhofsgelände und entlang der Bernauer Straße hatten.

Es wurden Tunnel gegraben

Dennoch gab es immer wieder spektakuläre Fluchtversuche. Allein in der Bernauer Straße wurden mehrere Tunnel gebaut. Nahe der Ackerstraße führte 1964 eine Gruppe von 30 Studenten insgesamt 57 Menschen in die Freiheit. Sie gruben einen Tunnel, der im Keller einer aufgegebenen Bäckerei begann. In zwölf Metern Tiefe trieben sie – ohne Abstützungen und in drangvoller Enge – einen 60 Zentimeter niedrigen Gang unter der Grenze hindurch. Durch ein Missgeschick durchstießen sie an der falschen Stelle die Oberfläche und wurden von DDR-Soldaten entdeckt. Statt aufzugeben, buddelten sie einen zweiten Schacht – fast genau neben der ersten Grabung, weil sie annahmen, dass die DDR-Grenzer damit nun wirklich nicht rechnen würden. Und behielten Recht.

„Immer bin ich irgendwo gegen die Mauer gestoßen“, sagt Georges Schulze: „Die gehörte in West-Berlin zu unserem Leben einfach dazu.“ Ja, „glückselig“ habe er sich gefühlt, als die Mauer fiel – für ihn so unverhofft, wie er sie als Kind hatte entstehen sehen. Da war er längst zur Kriminalpolizei gewechselt, beschäftigte sich mit Mord, Waffendelikten und Totschlag. Gleich am ersten Tag, als an der Bernauer Straße eine schmale Bresche in die Mauer geschlagen wurde, ist er in Zivil mit einem Kollegen „nach drüben“ gegangen, bis zu „seiner“ Ackerstraße gelaufen, wo die Grenze noch verrammelt war. Klar, das war nicht erlaubt, sagt er und grinst, vor allem nicht bewaffnet. Aber es ging alles gut; niemand habe sie aufgehalten.

Nach der Wiedervereinigung durfte er dann die andere Stadthälfte richtig kennenlernen. Der Kripo-Beamte wurde nach Marzahn abkommandiert, um Aufbauhelfer einer gemeinsamen Polizei zu werden. Anfangs habe es an vielem gefehlt, erinnert er sich; selbst an modernen Streifenwagen. Als sich einige West-Kollegen geweigert hätten, mit den heruntergekommenen Trabis auf Streife zu fahren, gab es dann immerhin einen „Wartburg“.

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