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Neue Töne. Ende des Jahres muss die Hafenbar schließen.

© Imago

25 Jahre Deutsche Einheit in Berlin (1): "Hat sich brutal verändert, die Gegend"

In der Chausseestraße lässt sich erst jetzt beobachten, was andernorts längst geschah. Seit der Wiedervereinigung hat Berlin sein Gesicht dramatisch gewandelt. Teil eins unserer Serie

Die Vergangenheit versteckt sich auf einem Hinterhof, und wer sie entdecken will, muss sich ein bisschen Mühe geben. Also: Vom U-Bahnhof Schwartzkopffstraße geht’s im Slalom um die Baufahrzeuge und über die wechselweise abgesperrten Gehwege, dann links abbiegen in die Einfahrt von Haus Nummer 88, einem marmorverblendeten Neubau. Der Polier guckt ein bisschen misstrauisch, wahrscheinlich kennt er all seine Leute und ruft gleich die Polizei. Egal, weiter auf den Hof, vorbei an weißen Stadtvillen mit Balkonen, auf denen im Spätsommer keiner sitzt, weil die Presslufthämmer und Schleifmaschinen einen Höllenlärm machen. Ganz hinten wartet sie schon, oben überwuchert von Dornengestrüpp, unten von Brennnesseln.
Die Berliner Mauer.
Na ja, ein Teil davon, zwei mal drei Meter, großflächig mit Graffiti beschmiert. Es ist auch nicht das auf Fotos und in Erinnerungen verewigte Bauwerk, sondern nur ein Stück der sogenannten Hinterlandmauer, aufeinandergeschichtete Backsteine, die den Weg zur eigentlichen Grenzanlage versperrten. Aber Mauer ist Mauer, und das hat Charme in dieser gerade entstehenden Siedlung, neben dem gigantischen Komplex des Bundesnachrichtendienstes. Seit 2006 wird dieser an der Chausseestraße hochgezogen. Auf dem Gelände des längst geschleiften Stadions der Weltjugend. Zur Einweihung 1950 hieß es Walter-Ulbricht-Stadion, benannt nach dem mächtigsten Mann der SED und der gesamten DDR.
Viel mehr ist nicht zu sehen von dem, was einmal war. Nichts vom Stadion, nichts von den Kneipen, Läden und Werkstätten oder von der Straßenbahn, die früher bis zur Wendeschleife durch die Chausseestraße ächzte. Und schon gar nichts von der Mauer, die an der Straße einst zwei Welten trennte, in diesem nordwestlichen Zipfel des Ost-Berliner Bezirks Mitte, der keck hineinragte in den westlichen Wedding.

Ausgerechnet dort, wo sich die DDR bei Fußball-Länderspielen, Friedensfahrten und Parteiaufmärschen feierte. Kurz nach dem Krieg war das eine hübsche Provokation für den Klassenfeind, aber nach dem Mauerbau kehrte sich das eher ins Gegenteil um. Musste ja nicht unbedingt sein, den Gästen dieses Ungetüm aus Beton zu erklären.
„Ach ja, die Mauer“, sagt Jürgen Nöldner, „irgendwie haste die früher kaum wahrgenommen, jedenfalls nicht als Zuschauer im Stadion, dafür war es einfach zu groß und zu weitläufig.“ Der Bau war angelegt für 70 000 Zuschauer. Jürgen Nöldner ist hier groß geworden. Als Fußballspieler zählte er in den fünfziger und sechziger Jahren zu den Besten des Landes, nach dem ungarischen Wunderstürmer nannten sie ihn den „Puskás der DDR“.

Brutal veränderte Gegend

Zu großen Spielen wichen sie mit dem FC Vorwärts Berlin gern vom nah gelegenen Jahnsportpark in Prenzlauer Berg ins riesige Ulbricht-Stadion nach Mitte aus. 1959, da war er gerade 18, schoss Nöldner hier gegen die berühmten Wolverhampton Wanderers aus England sein erstes Tor im Europapokal. Jetzt ist er 74 und hat ein paar Kilo zugelegt. Zur Chausseestraße kommt er nur noch selten, warum auch. „An früher erinnert mich hier nichts mehr. Hat sich brutal verändert, die Gegend.“ Die Straße ändert gerade auf dramatische Weise ihr Gesicht. 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung wird rund um das ehemalige Stadion der Weltjugend im Schnelldurchlauf noch einmal durchexerziert, was Potsdamer Platz, Friedrichstraße, Oberbaumbrücke und tausend andere Berliner Straßen und Plätze bereits hinter sich haben. Baufahrzeuge rumpeln über den Asphalt, Gerüste blockieren die Gehwege, Kräne drehen sich. „Freuen Sie sich auf hochwertige Eigentumswohnungen“, verheißt ein riesiges Schild an einem der wenigen Altbauten. An der Tür finden sich keine Klingelschilder mehr. Es wird gerade luxussaniert. So ziemlich alle Fassaden sind oder werden erneuert, nur ein Blick auf die klinkergemauerten Innenhöfe lässt erahnen, wie es früher mal aussah. Ansonsten dominiert die Berliner Mischung: Hostels, Bistros, Coffee to go. Die schicken und teuren Neubauten tragen mondäne Namen wie „The Mile“, „Living 108“ oder „The Garden Living“. Auch Daniel Libeskind baut ein Wohnhaus, es heißt „Saphir“ und soll genauso aussehen.

Die Schwester der Friedrichstraße

Der BND-Neubau von oben.
Der BND-Neubau von oben.

© Dirk Laubner

Von den vielen Baulücken, die sich noch zur Wendezeit auftaten, ist eine einzige übrig. Kurz vor der Habersaathstraße gibt sie den Blick frei auf das Quergebäude mit einem Backpacker-Hotel und dem Ballhaus Berlin. Es schmückt sich mit Leuchtbuchstaben-Reklame im Stil der späten sechziger Jahre. Das Ballhaus hieß früher Casino Behrens, „das einzige Tanzlokal bei uns mit Tischtelefonen“, sagt Jürgen Nöldner, „war schon ein angesagter Laden“, aber lieber sind sie ein paar Meter weiter in die Hafenbar gegangen. „Nach jedem Spiel, egal ob heim oder auswärts, wir mussten uns nie anstellen und kamen immer gleich rein.“ Die Hafenbar, ein zweistöckiger Anachronismus in Boomtown Mitte, erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit, aber zum Ende des Jahres muss sie schließen. Neuer Investor, neue Pläne, es läuft auf ein Hotel hinaus. Die Chausseestraße war immer die nicht ganz so wohlgeratene Schwester der Friedrichstraße, als deren nördliche Verlängerung sie vor dem Krieg an die Stätten der frühen industriellen Revolution führte. An der Chausseestraße qualmten die Schlote und wachten die Soldaten, weiter hinten auf dem ausgedehnten Gelände der Maikäferkaserne. Es hatte schon symbolischen Wert, dass die SED genau dorthin das Walter-Ulbrich-Stadion klotzte. Im Volksmund hieß das Stadion Zickenwiese, eine freche Anspielung auf den Spitzbart des Namensgebers Walter Ulbricht. Am 17. Juni 1953 skandierten hier Demonstranten: „Der Spitzbart muss weg!“ Aber der Spitzbart blieb und mit ihm das Stadion, das Leben in die Gegend brachte. Auch später, als es im toten Winkel der Mauer lag.

Posen auf der Zickenwiese

Das Stadion diente der Partei für Massenveranstaltungen, den Radfahrern als Ziel der Friedensfahrt von Warschau über Prag nach Berlin und den Fußballspielern für Länderspiele. Mit ein wenig Fantasie ging der riesige Schlot des alten Kraftwerks Mitte gleich hinter dem Stadion als dessen Glockenturm durch, quasi als Pendant zum Original am Olympiastadion im Westen der Stadt. Einmal, vor einem Spiel gegen Ungarn, posierte Jürgen Nöldner auf der Zickenwiese für einen symbolischen Anstoß mit der sowjetischen Kosmonautin Valentina Tereschkowa, „das Foto war in allen Zeitungen“. Ende der sechziger Jahre, als der Jahnsportpark umgebaut wurde, spielten sie mit dem FC Vorwärts mal eine komplette Saison an der Chausseestraße. „War nicht so toll“, sagt Nöldner, „das Stadion war zu groß, dann auch noch die Laufbahn, die Zuschauer standen ewig weit weg. Es kam einfach keine Stimmung auf.“ Nach Ulbrichts Entmachtung verfügte sein Nachfolger Erich Honecker die Umbenennung in „Stadion der Weltjugend“. Kurioserweise wurde der U-Bahnhof an der Chausseestraße gleich mit umbenannt – ein Geisterbahnhof, der nur von der West-Berliner BVG bedient wurde. Auf dem Transit von Wedding nach Kreuzberg. „Offiziell gab es die U-Bahn nicht, aber jeder hat sie unten rumpeln gehört“, erzählt Jürgen Nöldner. Er arbeitete später als Journalist, fuhr öfter mit der Straßenbahn zum Stadion, manchmal ging er auch zu Fuß. Anderes hatten die Fans des 1. FC Union im Sinn, wenn sie sich auf den Rückweg vom Derby gegen Erich Mielkes Lieblingsklub, den von der Stasi protegierten BFC Dynamo, zum Bahnhof Friedrichstraße machten. An der Hannoverschen Straße, in Höhe der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik, brüllten sie: „Deutschland! Deutschland!“ In den siebziger Jahren wurde das Stadion fast nur für die heiklen Duelle zwischen dem BFC und Union genutzt. Dazu bekam die Zickenwiese ab 1975 das DDR-Pokalfinale, nach dem Vorbild des Cupfinals im Londoner Wembleystadion. Dann fiel die Mauer, Mielkes BFC Dynamo stürzte in die Bedeutungslosigkeit, und einen DDR-Pokal gab es auch nicht mehr. Dafür stand die Chausseestraße vor einem Aufschwung. Sie führte jetzt nicht mehr zum Grenzübergang für wenige, sondern in den Westen für alle.

Worauf sich die Stadt eingelassen hat

Neue Töne. Ende des Jahres muss die Hafenbar schließen.
Neue Töne. Ende des Jahres muss die Hafenbar schließen.

© Imago

Aber der Westen hier hieß Wedding und war für die Ost-Berliner nicht halb so angesagt wie Kreuzberg am südlichen Ende der Friedrichstraße. Für Investoren war die Chausseestraße ungefähr so attraktiv wie Gesundbrunnen. In den folgenden Jahren boomte die Baubranche zwischen Checkpoint Charlie und Oranienburger Tor, nördlich davon blieb es grau. Die Friedrichstraße bekam einen neuen Friedrichstadtpalast und andere Prestigebauten. An der Chausseestraße verfiel das Stadion der Weltjugend. Weil Berlin für seine Olympiabewerbung eine zentral gelegene Großhalle brauchte, kamen 1992 die Abrissbagger. Auf einen Schlag verlor der Bezirk einen Großteil seiner Sportstätten. Drei Fußballfelder, eine Schwerathletikanlage, neun Tennis- und zwei Werferplätze. Jürgen Nöldner kam immer mal wieder an der Brache vorbei, wenn er mit dem Auto zu Fußballspielen im Olympiastadion fuhr. Friedrich-, Chaussee- und Müllerstraße runter, dann links in die Seestraße und weiter bis zur Autobahn.

Keine rechte Idee

Das mit der Olympiabewerbung hat bekanntlich nicht ganz geklappt, und wie 20 Jahre später bei der Schließung des Flughafen Tempelhof hatte Berlin keine rechte Idee, was es anfangen sollte mit der riesigen Freifläche. 1992 war die Bürgerbeteiligung noch nicht erfunden, und es bildete sich keine gesellschaftsübergreifende Mehrheit, die das Areal einfach in Besitz nahm. Es gab hier ein paar Beachvolleyballfelder, dort einen Abschlagplatz für Golfer und viel Flugsand, über den sich die Anwohner ärgerten. Als die Sache mit dem BND bekannt wurde, waren wenige begeistert. Trotzdem waren viele erleichtert, dass endlich etwas passierte. Im Spätsommer 2015 ist der Bau so gut wie fertig, und langsam dämmert es der Stadt, worauf sie sich da eingelassen hat: ein Monster mit drei Flügeln, 14 000 verdunkelten Fenstern und hellgraubrauner Aluminiumfassade, 283 Meter lang, 148 Meter breit. Besonders einschüchternd wirkt die Burg der Spione von der Rückseite, wo sie sich vor winzigen Stadtvillen, Wiesen und dem renaturalisierten Flüsschen Panke auftürmt. Wer das Hotel Meininger am Hauptbahnhof in seinen Proportionen für misslungen hält oder das Hochhaus auf dem Spreedreieck, der hat in jüngerer Vergangenheit noch nicht den Weg an die Chausseestraße gefunden. Was der Hummer für die Automobile ist, ist der BND-Komplex für die Verwaltungsbauten. Neulich ist Jürgen Nöldner mal wieder hier vorbeigefahren. Nein, das alte Stadion fehlt ihm nicht, „schade um die Tradition, egal, das Leben geht weiter“. Kurze Pause. „Aber musste es denn so ein Klotz sein für die …“, upps, Nöldner beißt sich auf die Zunge, „beinahe hätte ich gesagt: für die Stasi!“

Bis zum Tag der Einheit werden wir in unserer neuen Serie an zwölf weiteren Orten zeigen, wie sich Berlin in den vergangenen 25 Jahren verändert hat.

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