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Der Knigge-Rat teilt 1968 mit: "Sie" darf "ihn" in ansprechen - so er denn käme. Jedoch: "Die große Mehrheit der jungen Mädchen scheut die unverblümte Kontaktaufnahme."

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1968 im Tagesspiegel: "Sie" darf "ihn" erobern - ohne gegen den guten Ton zu verstoßen

Vor 50 Jahren war im Tagesspiegel die Rede von der "Endphase der Emanzipation"

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. In der Samstagsausgabe des 24. Februars 1968 wurden die Benimm-Regeln aus dem "Knigge-Rat" verbreitet.

"Er" hat ein Auge auf "sie" geworfen. Aber "sie" senkt verschämt den Blick. So hatte eine "anständige Frau" nach den Benimm-Regeln von früher auf den männlichen Annäherungsversuch zu reagieren. Der "Fachausschuß für Umgangsformen" in Köln, der sich in den letzten zehn Jahren mit zeitgemäßen Reformen des guten Tons einen Namen machte, billigt der modernen Eva jetzt auch bei der Anbahnung von Beziehungen zum anderen Geschlecht eigene Aktivität zu. Hans-Georg Schnitzer, der Sprecher des "Knigge-Rates": "Die Frau befindet sich zur Zeit in der Endphase der Emanzipation. Dieser Entwicklung müssen auch die Umgangsformen Rechnung tragen."

Für mutige Frauen kommt aus Köln geradezu revolutionäre Kunde: "Ein junges Mädchen braucht heute nicht mehr unbedingt abzuwarten, bis ein junger Mann den ersten Schritt zu einer Annäherung unternimmt. Man kann nicht grundsätzlich sagen, daß es sich nicht gehört, als Mädchen einen Mann anzusprechen."

Die Gleichberechtigung in dieser Form zu praktizieren, verlangt allerdings eine gehörige Portion Mut. Denn noch immer gilt weitgehend die Einstellung, daß eine Frau sich keinesfalls auf der Straße oder in der Bahn ansprechen lassen darf. Und nun soll sie gar selbst die Initiative ergreifen dürfen? Hans-Georg Schnitzer vom "Fachausschuß für Umgangsformen" gibt zu: "Viele Männer sind für eine solche Form der Kontaktaufnahme noch nicht reif. Sie sind vielfach geneigt, weibliche Annäherungsversuche zu mißdeuten." Nach den Ergebnissen von Umfragen besteht indes zwischen Theorie und Praxis noch ein beträchtlicher Unterschied: Die große Mehrheit der jungen Mädchen scheut die unverblümte Kontaktaufnahme. "Man zieht es vor, ein bißchen Theater zu inszenieren. Man verliert absichtlich etwas. Oder man bittet einen jungen Mann um Schutz vor einem angeblichen Verfolger."

Gegenüber der direkten Annäherung hat diese verschleierte Ansprache nämlich einen großen Vorteil: Ist der Mann an einer Kontaktaufnahme nicht interessiert, kann er sich unter einem Vorwand aus der Affäre ziehen. Bei einer direkten Ansprache muß die Frau dagegen dem Mann eine Reaktion zubilligen, die sie sonst gegenüber männlichen Annäherungsversuchen auch für sich in Anspruch nimmt: den "Korb".

Etwas "Theater" möchten die modernen Evas nach den Umfrage-Ergebnissen auch bei männlicher Kontaktanbahnung genießen. Hans-Georg Schnitzer interpretiert diese Einstellung so: "Ein Mädchen auf der Straße anzusprechen, ist nicht völlig ausgeschlossen. Aber jeder Mann sollte dabei bedenken, daß die meisten Frauen sich gegen eine direkte Ansprache und für ein möglichst kunstvolles Spiel der Einleitung einer Bekanntschaft ausgesprochen haben. Der Einfallsreichtum des Mannes vermittelt der Frau dabei das Gefühl umworben zu sein."

Auch auf gesellschaftlichem Parkett darf die Frau heute aktiver sein. Entdeckt sie etwa auf einer Party in einem Kreis einen "interessanten Mann", darf sie sich - ohne gegen den guten Ton zu verstoßen - diesem Kreis zugesellen und sich sogar selbst vorstellen. Völlig verändert haben sich die Bräuche rund um den Heiratsantrag. Der Sekretär der britischen Eheberater-Vereinigung, Gerald Sanctuary, vertrat jüngst die Forderung, auch Mädchen solle gestattet werden, von sich aus einen Heiratsantrag zu machen. Dazu erklärte Hans-Georg Schnitzer vom deutschen "Knigge-Rat": "Das hat sich in der Praxis bei uns doch längst durchgesetzt. In diesem Punkt ist die Frau wirklich bereits gleichberechtigt."

Alle Artikel der Themenseite 1968 im Tagesspiegel finden Sie hier.

Horst Zimmermann

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