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Der Kontrollpunkt Drewitz-Dreilinden während der Zeit der Berliner Mauer.

© F.Berger/imago

1968 im Tagesspiegel: Klaus Schütz in Drewitz zurückgewiesen - Westmächte verurteilen Durchreise-Verbot

Vor 50 Jahren dürften leitende Bundesbeamte die Autobahnen in der DDR nicht benutzen

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am Vortag des 27. April wurde Bürgermeister Klaus Schütz der Transit über die DDR verwehrt.

Die Sowjetzone hat am Freitagmorgen dem Regierenden Bürgermeister Schütz am Zonen-Autobahnkontrollpunkt Drewitz die Durchfahrt nach Westdeutschland verweigert. Die Zonen-Behörden beriefen sich auf ihre Anordnung vom 13. April, wonach Bundesministern und "leitenden Bundesbeamten" die Benutzung der Interzonenstraßen durch die "DDR" verwehrt wird. Der Regierende Bürgermeister ist seit vorigen Herbst turnusgemäß Präsident des Deutschen Bundesrates und in dieser Eigenschaft amtierender Bundespräsident, da sich Bundespräsident Lübke gegenwärtig zu einem Staatsbesuch in Tunesien aufhält. Dieser jüngste Eingriff der Zonen-Behörden in den Berlin-Verkehr hat bei den Alliierten sowie in Bonn und Berlin einhellig Protest ausgelöst. Die USA, Großbritannien und Frankreich haben durch ihre Botschaften in Bonn in einer gemeinsamen Erklärung gegenüber der Sowjetunion erneut bekräftigt, daß die Ost-Berliner Regierung nicht befugt sei, "die geltenden Viermächte-Vereinbarungen, die den Verkehr zwischen Berlin und der Bundesrepublik betreffen, zu ändern". Die drei Alliierten verurteilten diesen »weiteren Eingriff in den freien Zugang nach Berlin". 

Der Wortlaut der alliierten Erklärung

Die Erklärung der drei Alliierten hat folgenden Wortlaut: "Was die Verweigerung der Durchfahrt für den Regierenden Bürgermeister von Berlin, Schütz, anbetrifft, so verurteilen die drei Alliierten diesen weiteren Eingriff in den freien Zugang nach Berlin. Wie die drei alliierten Botschaften am 19. April erklärt haben, sind die ostdeutschen Behörden nicht befugt, die geltenden Viermächte-Vereinbarungen, die den Verkehr zwischen Berlin und der Bundesrepublik Deutschland betreffen, zu ändern. Die Sowjetunion trägt die Verantwortung- für jeden Eingriff in diesen Verkehr."  Die amerikanische Regierung betrachtet die Zurückweisung von Schütz als eine "sehr ernste Angelegenheit". Der Sprecher des Außenministeriums erklärte gestern, diese Maßnahme sei der "bisher schwerstwiegende Eingriff in den Reiseverkehr von und nach Berlin". Ebenso wie die vorangegangene Zurückweisung zweier Bundesbeamter sei auch diese Handlung unrechtmäßig.

Bonn: Rechtlich unzulässiger Eingriff

Der Regierende Bürgermeister Schütz, der nach der Zurückweisung in Drewitz mit dem Flugzeug nach Westdeutschland geflogen war, bezeichnete bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Düsseldorf die Zurückweisung durch die Zonen-Behörden als einen "unerträglichen Rechtsbruch". Er hoffe, daß die alliierten Militärbehörden sich jetzt veranlaßt sähen, die Frage des freien Zugangs nach West-Berlin kurzfristig und nachdrücklich zu klären.  Die Bundesregierung bezeichnete die Zurückweisung von Schütz als einen rechtlich unzulässigen Eingriff in die Viermächte-Vereinbarungen über den freien Zugang nach West-Berlin. Staatssekretär Diehl erklärte, die Sowjetunion müsse sich jetzt darüber äußern, ob sie solche Eingriffe dulden wolle oder nicht. Diehl vermied den Ausdruck "Krise", betonte aber, die Bundesregierung betrachte die Lage im Berlin-Verkehr als eine .ernstzunehmende Situation". In Bonn wird mit Sicherheit erwartet, daß die Westmächte jetzt eindringliche Vorstellungen bei den Sowjets erheben.  Alle Parteien zeigten sich im Protest gegen die Behinderung des Berlin-Verkehrs einig.  Der CDU-Abgeordnete Gradl wies darauf hin, daß die Zurückweisung von Schütz auf die politische Verbindung zwischen Bundesrepublik und West-Berlin ziele. Damit werde der Status West-Berlins angegriffen. Das Verhalten des SED-Regimes sei geeignet, eine "gefährliche Spannungslage" herbeizuführen. Ost-Berlin verfolge einen Kurs, der dem Entspannungsstreben aller verantwortlichen europäischen Politiker, auch derer in Ost- und Südosteuropas, absolut entgegengesetzt sei. An Moskau müsse die Frage gerichtet werden, ob es einen neuen hochpolitischen Konflikt durch Ulbricht herbeiführen wolle.  Ebenso wie Gradl forderte auch der FDP-Abgeordnete Genscher die Bundesregierung und die Westmächte auf, ihre internen Beratungen zu beschleunigen. Genscher warf der Bundesregierung eine "zögernde Reaktion" vor und meinte, dadurch seien die Zonenbehörden zu weiteren Behinderungen des Berlin-Verkehrs ermutigt worden. Die Bundesregierung müsse jetzt die westlichen Alliierten "mit allem Nachdruck auf ihre Verpflichtungen für die Freihaltung der Verbindungswege hinweisen".  Der SPD-Sprecher Sommer sprach von einem "flagranten Rechtsbruch". Ost-Berlin berufe sich auf eine Anordnung, die selbst rechtswidrig sei, wie von den Westmächten bereits deutlich gemacht worden sei.

Schütz-Fahrer ließ sich 5 DM zurückgeben

Der Senatssprecher schilderte gestern vor der Presse die Vorgänge bei der Zurückweisung des Regierenden Bürgermeisters. Danach war Schütz mit seinem persönlichen Referenten Dr. Harald Frisch und einem Fahrer im Kraftwagen gegen 8 Uhr 25 auf dem Kontrollpunkt Drewitz eingetroffen. Während Schütz und sein Referent im Wagen blieben, ging der Fahrer in die Kontrollbaracke, um die Formalitäten zu erledigen. Er bezahlte dort auch die fünf DM Autobahngebühr.  Dem Fahrer wurde in der Kontrollbaracke gesagt, der Regierende Bürgermeister könne nicht weiterfahren, weil er Senatsmitglied sei. Der Fahrer habe dann darauf bestanden, daß dies dem Regierenden Bürgermeister selbst gesagt werden solle. Ein Offizier der Zonen-Grenztruppen ging dann zu dem Wagen und machte Schütz die Mitteilung. Schütz legte Wert darauf, daß ihm genau bestätigt wurde, daß ihm wegen seiner Zugehörigkeit zum Senat von Berlin die Weiterfahrt verweigert werde.  Daraufhin ging der Offizier noch einmal zurück und kam erst nach 20 Minuten zu dem Fahrzeug zurück. Diesmal sagte er, daß Schütz in seiner Eigenschaft als Präsident des Bundesrates auf Grund der Zonen-Verordnung vom 13. April 1968, die Bundesministern und "hohen Bundesbeamten" die Durchfahrt durch die "DDR" untersagte, die Weiterfahrt nicht gestattet werde. Ehe Schütz nach West-Berlin zurückkehrte, ließ sich der Fahrer noch die fünf DM Straßen-Benutzungsgebühren zurückzahlen.  Nach anderthalb Stunden nach West-Berlin zurückgekehrt, fuhr Schütz umgehend zum Flugplatz Tempelhof und flog nach Düsseldorf.  

Verbindung mit Alliierten aufgenommen

Der Senatssprecher bestätigte, daß nach dem Vorgang Verbindung zu den westalliierten Schutzmächten aufgenommen worden sei. Der Ghef der Senatskanzlei, Senatsdirektor Grabert, hat den in der Kommandantur Vorsitz führenden stellvertretenden britischen Stadtkommandanten Gordon Etherington-Smith von der Zurückweisung des Regierenden Bürgermeisters unterrichtet.  Der Bürgermeister und Senator für Inneres, Neubauer, gab folgende Erklärung ab: "Die Zurückweisung des Regierenden Bürgermeisters ist eine außerordentlich ernste Angelegenheit. Damit wurde seit dem Jahre 1965, als der damalige Regierende Bürgermeister Willy Brandt während der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in Berlin an der Durchfahrt gehindert wurde, zum ersten mal wieder einem Regierenden Bürgermeister die Weiterfahrt ins übrige Bundesgebiet verweigert.  

Der Senat ist in Verbindung mit der Bundesregierung und den alliierten Schutzmächten, um zu erreichen, daß den widerrechtlichen Behinderungen im Berlin-Verkehr durch geeignete Maßnahmen entgegengetreten wird. Hier darf keine .Salami-Taktik zugelassen werden, wo scheibchenweise, angefangen bei NPD-Mitgliedern über Bundesminister und leitende Bundesbeamte und nun beim Regierenden Bürgermeister, der freie Zugang von und nach West-Berlin beeinträchtigt wird."

Zur Zurückweisung des Regierenden Bürgermeisters erklärte die Zonen-Nachrichtenagentur ADN am Freitag: .Der widerrechtlich als Präsident des westdeutschen Bundesrates fun- gierende West-Berliner Bürger Klaus Schütz versuchte durch das Hoheitsgebiet der DDR nach Westdeutschland zu reisen."

 Berliner CDU: Provokation

Die Berliner CDU erklärte gestern dazu: .Der neue Willkürakt der Zonenmachthaber ist eine durch nichts zu entschuldigende Provokation gegen die alliierten Rechte und die freien Zugangswege für Berlin. Die Berliner CDU verfolgt die sich in der letzten Zeit ständig steigernden Angriffe mit wachsamer Sorge. Sie erwartet, daß die bereits laufenden Bemühungen, diese Angriffe zurückzuweisen, in Kürze zu einem Erfolg führen." Mattick: Mißachtung der Verpflichtungen Der Berliner SPD-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Mattick erklärte, die Durchreiseverweigerung für Schütz bestätige die Vermutung, daß die SED-Führung sich nicht an alliierte Vereinbarungen gebunden fühle und daß die" Sowjetunion eine „derartige Mißachtung ihrer vertraglichen Verpflichtungen" zulasse. Mattick stellte in diesem Zusammenhang die Frage, welchen Sinn neue vertragliche Vereinbarungen mit der Sowjetunion haben könnten, solange es keine Garantie dafür gebe, daß die Sowjetunion bestehende Vereinbarungen einhalte.

 Bonn: Verschärfung der Situation

Der Berliner FDP-Vorsitzende Borm erklärte: .“Mit der Durchreiseverweigerung für den Re- gierenden Bürgermeister von Berlin haben die DDR-Behörden erneut bewiesen, daß sie nicht an einer Entspannung, sondern an einer Verschärfung der Situation in Europa interessiert sind. Die Bundesregierung hat schweigend hin- genommen, daß ihren Beamten die Durchreise nach Berlin verweigert wird. Sie darf sich deshalb nicht wundern, wenn jetzt der Regierende Bürgermeister gleichermaßen behindert wird. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, ihrer Verantwortung für Berlin voll nachzukommen und dafür zu sorgen, daß die internationalen Vereinbarungen über den ungehinderten Verkehr von und nach Berlin eingehalten werde.“

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