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Am Abend des 13.4.1968 versuchten Demonstranten in Frankfurt die Ausgänge der Societäts-Druckerei zu verbarrikadieren, um die Auslieferung der Zeitung der Bild-Zeitung zu verhindern. Die Demonstrationen, die das ganze Osterwochenende anhielten, richteten sich gegen die Bild und den Axel-Springer-Verlag, der vom SDS als "Zentrum der systematischen Hetzkampagne gegen politische Minderheiten" bezeichnet wurde.

© Roland Witschel / dpa

1968 im Tagesspiegel: Der Bundestag debattierte in einer Sondersitzung über Ursachen und Verlauf der Osterunruhen

Vor 50 Jahren debattierten Politiker im Bundestag über die Osterunruhen

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 1.Mai berichtete der Tagesspiegel über eine Sondersitzung des Bundestages.

Der Bundestag hat sich gestern in einer ganztägigen Sondersitzung mit den Osterunruhen befaßt. Fast alle Redner stimmten darin überein, daß das Verlangen der Jugend nach Reformen berechtigt sei. Zugleich wandten sich alle Parteien entschieden gegen Gewalttätigkeiten. Allgemein war man darüber einig, daß die. heutige Jugend die deutsche Demokratie mit anderen Augen ansehe als die ältere Generation. Bundeskanzler Kiesinger erklärte, man habe es mit jungen Leuten zu tun, die nach vorn blickten. "Sie blicken nicht zurück, sie wissen nicht, wie es einmal war, und können auch nicht das, was heute ist, als etwas so Kostbares schätzen wie wir."

In der Debatte wurden alle Aspekte der Osterunruhen behandelt. Auch der Erfolg der NPD in Baden-Württemberg wurde ausgiebig diskutiert.

 Benda über den SDS

Bundesinnenminister Benda forderte, der Bund müsse die Möglichkeit erhalten, bei überregionalen Störungen, die keinen inneren Notstand darstellen, die polizeiliche Aktivität der Länder zu koordinieren. Die Rechte der Länder sollten dabei unangetastet bleiben. Benda bezweifelte aber, ob es zweckmäßig sei, die kommunale Polizei in einigen Ländern aufrechtzuerhalten. Benda beschäftigte sich auch ausführlich mit der Möglichkeit eines Verbots des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), den er in erster Linie für die Ausschreitungen verantwortlich machte. Seiner Ansicht nach sind die Voraussetzungen für ein Verbot vorhanden. Zum jetzigen Zeitpunkt lehnt er ein solches Verbot jedoch mit der Begründung ab, daß dadurch die Neigung der Studenten gefördert würde, sich mit dem SDS zu solidarisieren. Benda trat für eine ständige Überwachung des SDS durch den Verfassungsschutz ein.

  Debatte über Springer

Die Redner gingen auch auf die studentische Forderung auf Enteignung Springers ein. Benda und die Sprecher aller Parteien lehnten diese Forderung entschieden ab. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Schmidt sagte, diese Forderung sei "so ziemlich das Einfallsloseste, was wir gehört haben". Jedoch traten Benda und alle Parteien für ein neues Presserecht ein, das die Unabhängigkeit der Redakteure von den Verlagen sichern solle. Der FDP-Vorsitzende Scheel erklärte, es würde keine Kritik an Springer geben, wenn er Zeitungen unterschiedlicher politischer Richtung herausgebe. Im einzelnen sagte Benda zur Frage der Pressekonzentration, Ausgangspunkt aller Überlegungen müsse das Ziel sein, die Pressefreiheit nicht einzuschränken, sondern zu stärken. Enteignungen, Begrenzungen der wirtschaftlichen Expansion und Auflagenbeschränkungen seien schon verfassungsrechtlich unzulässig "oder jedenfalls problematisch". Wenn schon über die Presse gesprochen werde, so müsse man auch das Maß der Einflußmöglichkeiten auf die öffentliche Meinung sehen, welches die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten hätten. "Einzelbeispiele auch der jüngsten Vergangenheit zeigen, daß auch hier ein erörterungsbedürftiges Problem besteht."

Schmidt forderte zur Diskussion über die Pressekonzentration eine öffentliche Sachverständigen-Anhörung im Bundestag. Scharf wandte er sich gegen eine einseitige Verteufelung der Springer-Presse. "Ich wehre mich dagegen, daß wir uns in diese Hysterie hineinreißen lassen." Im übrigen sei Springer nicht das einzige Monopol auf dem Markt öffentlichen Meinungsbildung. 

Scheel fordert Bildungsreform 

Scheel trat für eine sofortige Übertragung der Zuständigkeit für die Bildungspolitik von den Ländern auf den Bund ein, er zog sich damit heftige Mißfallensäußerungen der beiden Regierungsparteien zu. Den Einwand, daß eine entsprechende Grundgesetzänderung an den Ländern scheitern würde, ließ Scheel nicht gelten. Er sagte, die Ministerpräsidenten und Kultusminister der Länder gehörten durchweg der CDU und der SPD an. "Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es diesen Parteien nicht gelänge, dieses Problem zu lösen." 

827 Ermittlungsverfahren 

In seinem einleitenden Bericht hatte Benda ein Zahlenbild über die Unruhen gegeben. Er teilte mit, daß von den 827 Personen, gegen die Ermittlungsverfahren wegen Sachbeschädigung, Landfriedensbruchs und anderer Delikte eingeleitet worden sind, nur 286 Studenten sind. 92 waren Schüler, 185 Angestellte, 150 Arbeiter. Die übrigen waren berufslos oder hatten andere Berufe. Ausdrücklich erklärte Benda: "Es wäre falsch und ungerecht, die große Mehrheit der Studenten für das Verhalten einer kleinen Gruppe verantwortlich zu machen." Benda berichtete ferner, Funktionäre des SDS hätten mit amtlichen Stellen in Ost-Berlin Gespräche über eine Blockade der Autobahn nach Berlin geführt. Erfinder dieses "brillanten Plans" sei der Berliner Rechtsanwalt Mahler. Ein Funktionär des SDS habe öffentlich erklärt, der Plan sei zwar nicht verwirklicht worden, aber er sei auch keineswegs erledigt, sondern werde wieder aufgenommen werden, wenn die Ziele des SDS nicht mit anderen Mitteln erreicht werden könnten. "Das Beispiel zeigt, welcher Verirrungen solche wahnsinnige Zerstörungslust fähig ist." 

Studenten und Polizei 

Benda und die Fraktionssprecher dankten der Polizei für ihren Einsatz während der Unruhen. Scheel fügte hinzu, der „katastrophale Autoritätsschwund" könne freilich nicht durch Polizeiaktionen, sondern nur durch eine bessere Politik aufgefangen werden. 

Die Debatte des Bundestages

Ferner sagte Scheel, niemand sei politisch so gut informiert wie die Studenten, niemand sei ein so entschiedener Anhänger der Demokratie und Gegner totalitärer Systeme wie sie. Den Vorwurf, die FDP wolle sich bei den Studenten anbiedern, wies Scheel zurück. Er betonte, da über 90 Prozent der Bevölkerung für "Ordnung, Sicherheit und Polizeiaktionen" seien, könne es nicht als populär angesehen werden, die Diskussion mit den Studenten zu suchen. Dennoch sei dies notwendig.

Schmidt (SPD) und Barzel (CDU) erinnerten die jugendlichen Kritiker daran, daß die Bundesrepublik der freieste, gerechteste und sozialste Staat sei, den es je in Deutschland gegeben habe. "Das werden wir uns nicht kaputtmachen lassen, weder von links noch von rechts", rief Schmidt aus. Die junge Generation habe das Recht, nach eigenen absoluten Maßstäben zu messen. Aber den jungen Leuten müßten auch die Grenzen gezeigt werden. Man müsse Toleranz Von ihnen verlangen. Seine größte Sorge, so sagte Schmidt, sei die .elitäre Arroganz", die bei Jungakademikern zu beobachten sei.

 Kiesinger über die NPD

Kiesinger setzte sich eingehender mit der NPD auseinander. Der Kanzler sagte, die NPD-Wähler sollten nächstes Mal überlegen, welchen Schaden sie mit ihrer Stimmabgabe dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt zufügten. Das Vertrauen, das die deutsche Außenpolitik seit 1945 wieder aufgebaut habe, werde aufs Spiel gesetzt, wenn das Ausland den Eindruck gewinne, daß in Deutschland der "alte unheilvolle Geist eines aggressiven Nationalismus" wieder lebendig werde. Unter starkem Beifall sagte Kiesinger: "Wir haben keinen besseren Bundesgenossen als das Vertrauen der Welt. Nur wenn wir dieses Vertrauen besitzen, werden wir mit der moralischen Unterstützung rechnen können, die wir für die Lösung unserer Probleme brauchen." Andererseits wandte sich Kiesinger auch gegen die "schreckliche Vereinfachung", daß die NPD nur aus "Neonazis" bestehe. Er wolle die Gefahr, die von der NPD her drohe, nicht verkleinern, aber er weigere sich zu glauben, daß eine Bewegung eingesetzt habe, die der NPD bis 1969 einen noch höheren Stimmenanteil bringen werde. In Baden-Württemberg habe die NPD von der Unzufriedenheit der Bauern und von dem Schrecken, der durch die Ausschreitungen zu Ostern ausgelöst worden sei, profitiert.

 Erklärung der Innenminister

Als Sprecher der Innenminister der Länder sagte der bayerische Innenminister Merk: "Wer jetzt noch nicht gemerkt hat und wer es jetzt noch nicht wahrhaben will, daß Kräfte am Werk sind, die unsere parlamentarische Demokratie zerstören wollen, dem ist, weiß Gott, nicht zu helfen." Der SDS rufe heute zur Hochschulreform auf, morgen demonstriere er gegen den Schah, den Krieg in Vietnam, gegen die Notstandsgesetze, für die Grundrechte oder gegen Springer. Das alles seien Vorwände, die Studenten zu Gewaltaktionen und zur Revolution zu solidarisieren. "Es sind alles nur Angriffsprojekte, deren man sich wechselweise bedient." Auch die Studenten, die sich vom SDS als Mitläufer einspannen ließen, seien nicht von Schuld frei.

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