zum Hauptinhalt
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (linke Seite) läßt sein verletztes Auge untersuchen. Aufgenommen am 7. November 1968 beim Bundesparteitag der CDU in der Berliner Kongresshalle, nachdem er von der 29jährigen Beate Klarsfeld geohrfeigt wurde.

© dpa

1968 im Tagesspiegel: Den Kanzler ins Gesicht geschlagen - Zwischenfall während des CDU-Parteitages - Täterin im Schnellverfahren zu einem Jahr Gefängnis verurteilt

Ungewöhnlich strenge Sicherungsmaßnahmen vermieden auf dem CDU-Parteitag 1968 jegliche Störung durch militante Gruppen. Bis Beate Klarsfeld kam.

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Nachdem es der CDU während des gesamten Parteitags in der Kongreßhalle gelungen war, durch ungewöhnlich strenge Sicherungsmaßnahmen jede Störung durch militante Gruppen zu vermeiden, kam es am Morgen des 7. Novembers völlig überraschend doch noch zu einem Zwischenfall.

Die 29jährige französische Staatsangehörige Beate Klarsfeld, bekannt durch eine frühere Störung im Bundestag, wo sie Bundeskanzler Kiesinger von der Tribüne aus als "Nazi" beschimpft hatte, gab dem am Vorstandstisch sitzenden Kanzler vor dem gesamten CDU-Parteitag eine Ohrfeige. Die Täterin, die offenbar als Vertreter des Pariser "Combat" mit einem französischen Presseausweis in den Saal gekommen war, wurde sofort ergriffen und aus dem Saal geführt. Am frühen Abend wurde Beate Klarsfeld wegen öffentlicher vorsätzlicher Beleidigung und Körperverletzung des Bundeskanzlers in einem Schnellgerichtsverfahren im Landeskriminalamt entsprechend einem Antrag der Staatsanwaltschaft zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ihr Anwalt Horst Mahler kündigte Berufung an. Am Abend traf ihr Mann aus Paris kommend in Berlin ein.

Der Hergang des Geschehens

Frau Klarsfeld, eine frühere Sekretärin des deutsch-französischen Jugendwerks, eine zierliche, nicht unansehnliche Erscheinung mit ihren roten Haaren, in rotem Rock und weißem Pullover, war von den Zuschauerreihen aus in aller Ruhe nach vorne gegangen und hatte sich Kiesinger genähert, als wolle sie, wie viele andere, ein Autogramm von ihm erbitten. Kurz vor Kiesinger angelangt, sprang sie plötzlich nach vorn, holte weit aus und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Kiesinger flog durch die Wucht des Schlages zur Seite, schützte instinktiv die getroffene Stelle mit der Hand und zog dann ein Taschentuch um das tränende linke Auge auszuwischen. Im nächsten Augenblick waren der neben Kiesinger sitzende Generalsekretär der CDU, Heck, und ein Sicherheitsbeamter aufgesprungen und hielten Frau Klarsfeld fest, bis herbeieilende Ordner sie ergreifen und aus dem Saal.bringen konnten. Der amtierende Parteipräsident sprach seinen Abscheu vor der heimtückischen Tat aus und versicherte Kiesinger der vollen Sympathie des Parteitages, der dem Parteivorsitzenden daraufhin eine lang anhaltende Ovation darbrachte. Der eigentliche Parteitagspräsident Amrehn, brachte später laut AP nochmals die Empörung und das Bedauern darüber zum Ausdruck, daß sich ein solcher Vorfall ereignet habe. Die Delegierten brachten Kiesinger wiederum Ovationen dar. Amrehn bezeichnete Frau Klarsfeld als eine „ferngesteuerte journalistische Agentin“, die für die französische Zeitung „Combat" tätig sei. Die Täterin sei eine „hysterisch verhetzte Person" mit französischem Presseausweis. An dem Zwischenfall habe sich gezeigt, sagte Amrehn weiter, daß die umfangreichen Sicherungsmaßnahmen für den reibungslosen Ablauf des Parteitages begründet gewesen seien.

Kiesinger selbst ging in seinem Schlußwort auf den Zwischenfall ein.

Kiesinger warf Frau Klarsfeld vor, sie benutze Material, das aus östlichen Quellen stamme. In einer späteren Pressekonferenz sagte Kiesinger, "diese junge Frau" treibe sich bei "allen Demonstrationen" herum. Nach ihrer Entlassung aus dem Jugendwerk habe sie "offenbar das Bedürfnis, Sensationen hervorzurufen." Zur Frage einer eventuellen Strafanzeige sagte der Kanzler: "Ich stelle nicht gern einen Strafantrag, wenn eine Frau eine körperliche Attacke gegen mich vornimmt." Kiesinger hat durch den Schlag ins Gesicht eine leichte Bindehautentzündung erlitten. Der Ehemann der Täterin, der Redakteur Serge Klarsfeld vom "Combat", teilte unmittelbar nach dem Vorfall der Presse in Paris mit, seine Frau habe damit eine "reiflich überlegte" Aktion mit dem Ziel ausgeführt, "in den Augen der deutschen Jugend die nazistische Vergangenheit des Kanzlers zu unterstreichen". Er sagte, seine Frau sei am letzten Sonnabend von Paris mit der Absicht nach Berlin gereist, dort ihr Vorhaben auszuführen. Serge Klarsfeld verbreitete gleichzeitig eine von seiner Frau vor ihrer Abreise in Paris auf Band gesprochene Erklärung mit scharfen Angriffen gegen den Bundeskanzler.

Das Schnellverfahren gegen Beate Klarsfeld

Neun Stunden nach dem Vorfall wurde Beate Klarsfeld von dem Bereitschaftsgericht wegen Beleidigung und Körperverletzung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Strafe entspricht dem Antrag des Staatsanwalts und kann wegen der Höhe nicht zur Bewährung ausgesetzt werden. Bundeskanzler Kiesinger wurde das Recht zuerkannt, das Urteil nach Rechtskraft auf Kosten der Angeklagten in mehreren Zeitungen zu veröffentlichen. Der von der Staatsanwaltschaft beantragte Erlaß eines Haftbefehls wurde abgelehnt. Der Vertreter der Angeklagten, Rechtsanwalt Mahler, kündigte Berufung an. Der Zugang zum Landeskriminalamt war auf Anordnung des Vorsitzenden wegen Überfüllung des Zuhörerraums zeitweilig gesperrt worden. Der Prozeß fand auf Antrag der Staatsanwaltschaft im sogenannten beschleunigten Verfahren nach Paragraph 212 der Strafprozeßordnung statt. Ein Strafantrag des Bundeskanzlers "wegen des Vorfalls in der Kongreßhalle" lag vor. Die Angeklagte motivierte "die symbolische Ohrfeige" damit, daß die Öffentlichkeit auf die politische Vergangenheit des Kanzlers aufmerksam gemacht werden sollte. Es sei immer ihre Absicht gewesen, "Herrn Kiesinger" zu einem Prozeß zu zwingen und so eine Klärung seines Verhaltens während des "Dritten Reiches" herbeizuführen. In ihrem Schlußwort sagte die Angeklagte: "Wenn ich Kiesinger geohrfeigt habe, dann habe ich es gut getan". Der Staatsanwalt forderte ein Jahr Gefängnis als höchste Strafe, die im beschleunigten Verfahren verhängt werden kann. Im Anschluß an den Strafantrag des Staatsanwalts warf die 29jährige Frau dem Gericht vor, "die Nazis zu decken", denn ein Schnellgericht während der Nazi-Zeit habe "nicht anders sein können".

Urteilsbegründung

In der Urteilsbegründung sagte Amtsgerichtsrat Drygalla, ein politisch frischer Wind sei zwar gut, aber Methoden, wie die Angeklagte sie angewandt habe, seien abzulehnen, und deshalb müsse hart durchgegriffen werden. Der Richter billigte der Angeklagten die Überzeugung zu, daß sie Kiesinger als ehemaliges Mitglied der NSDAP als Chef einer demokratischen Regierung für untragbar halte. Die Frage sei jedoch, wie weit man in einer solchen Mißachtung gehen könne. Als entscheidend sei zu werten, daß wieder einmal versucht worden sei, mit Mitteln der Gewalt eine politische Überzeugung zu vertreten. Das Gericht wolle mit seinem Urteil die Öffentlichkeit wachrufen und daran erinnern, daß Deutschland schon einmal Schauplatz gewaltsamer politischer Auseinandersetzungen war und "die Republik es nicht verstanden hatte, dem Einhalt zu gebieten". Was verlangt werde "und worum wir alle kämpfen", sei jedoch, es unmöglich zu machen, daß sich derartige Auseinandersetzungen wiederholen. Die Ablehnung des Antrages auf Erlaß eines Haftbefehls begründete der Richter damit, daß ein Überzeugungstäter sich einem Verfahren nicht entziehen werde. Beate Klarsfeld erhielt ihren französischen Paß nach der Urteilsverkündung zurück. Rechtsanwalt Mahler hatte vier Beweisanträge gestellt, darunter den, Kiesinger als Zeugen zu laden. Keinem der Anträge wurde entsprochen; zwei wurden vom Gericht "wegen Prozeßverschleppung" abgelehnt. Daraufhin lehnte Mahler das Gericht wegen Befangenheit ab. Diesem Antrag, über den der abgelehnte Richter selbst zu befinden hatte, wurde ebenfalls nicht entsprochen.

Beifall von Studenten

Von etwa 1200 Studenten und Jugendlichen im Auditorium maximum der Freien Universität wurden Rechtsanwalt Mahler und Beate Klarsfeld mit demonstrativem Beifall begrüßt. Mahler nannte das Schnellgerichtsverfahren gegen Beate Klarsfeld, das mit einem Urteil von einem Jahr Gefängnisstrafe geendet hatte, als ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte West-Berlins. Auf Zwischenrufe aus dem Auditorium, wie der Richter heiße und wo er wohne, nannte Mahler den Namen mit der Bemerkung, es genüge, sich den Namen zu merken, um zu sehen, was man von diesem Richter noch zu erwarten habe. Beate Klarsfeld erklärte, sie sei aus Paris mit dem Vorsatz nach Berlin gekommen, Kiesinger zu ohrfeigen, was sie im Mai vor Studenten der TU öffentlich versprochen habe.

Alle Artikel der Themenseite 1968 im Tagesspiegel finden Sie hier.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false