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Ein Bild der Verwüstung im Studentenviertel von Paris nach den Unruhen vom 10. und 11. Mai 1968.

© AfP

1968 im Tagesspiegel: Blutige nächtliche Straßenschlacht im Pariser Universitätsviertel

Vor 50 Jahren gab es schwere Straßenschlachten in Paris

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 12. Mai berichtete der Tagesspiegel die über die Ereignisse an der Sorbonne.

"Die Stadt Paris hat eine ihrer jämmerlichsten Nächte erlebt", erklärte gestern der Polizeipräfekt der französischen Hauptstadt, Grimaud, nachdem schwere nächtliche Straßenkämpfe zwischen starken Polizeikräften und schätzungsweise 20 000 Demonstranten im Pariser Universitätsviertel Quartier Latin über 350 Verletzte gefordert hatten. Die Polizei habe sich Gruppen gegenüber gesehen, "die die Taktik von Guerilla-Kämpfern anwandten", sagte Grimaud. Saint Germain-des-Pres und die Umgebung der Sorbonne boten am Vormittag ein Bild der Verwüstung mit ausgebrannten Autos, aufgerissenem Straßenpflaster und niedergerissenen Barrikaden.

Die bisher heftigste Straßenschlacht seit Beginn der Studentenunruhen vor einer Woche entwickelte sich aus einer zunächst ruhigen Protestdemonstration der Studenten gegen die Schließung der Sorbonne und die Mängel des französischen Erziehungssystems, während der sich die Polizei zurückhielt. Die Demonstranten errichteten 50 schulterhohe Barrikaden aus umgestürzten Automobilen, Baumgittern und Pflastersteinen, die sie zum Teil mit Preßluftbohrern aus den Straßen rissen. Die Studentenführer hatten die Losung ausgegeben, die Straßen im Quartier Latin rund um die Universität besetzt zu halten.

Polizei stürmte Barrikaden

Nachdem einige Polizeifahrzeuge mit Steinen beworfen worden waren, nahm die mit Gasmasken, Plastikhelmen und Schlagstöcken ausgerüsteten Einheiten der Gendarmerie und Überfallpolizei eine Barrikade nach der anderen. Gegen die sich mit Steinen und „Molotow-Cocktails" zur Wehr setzenden Demonstranten wurden in direktem Beschuß Tränengasgranaten eingesetzt, wobei es mehrere Verletzte gab.

Nach Augenzeugenberichten war der Kampfplatz in so dichte Wolken von Tränengas gehüllt, daß die Polizei Scheinwerfer einsetzen mußte. Zeitweise war der Steinhagel so stark, daß sich die angreifende Polizei zurückziehen mußte. Nach Augenzeugenberichten zündeten die Demonstranten Autos und Barrikaden an, um das Vordringen der Polizei zu stoppen, und bewarfen die Polizei von Hausdächern herab mit Dachziegeln. Ein Reporter zählte über einhundert ausgebrannte oder schwer beschädigte Wagen. Anwohner griffen zu Wassereimern, um ein übergreifen der Flammen auf ihre Häuser zu verhindern.

Nächtliche Ministerkonferenz

Auf dem Höhepunkt der bis in die Morgenstunden andauernden Unruhen sah sich der amtierende Ministerpräsident Joxe veranlaßt, eine Art „interministeriellen Kriegsrat" einzuberufen, an dem Innenminister Fouchet, Verteidigungsminister Messmer, Informationsminister Gorse, Erziehungsminister Peyrefitte und zwei Mitarbeiter Staatspräsident de Gaulles teilnahmen. Am Morgen suchten die Minister den Präsidenten im Elysee-Palast auf.

Appell des Erzbischofs blieb ungehört

Der Erzbischof von Paris, Monsignore Marty, rief gegen 2 Uhr über den Rundfund zur Rückkehr zu Ruhe und Ordnung auf, doch die blutigen Auseinandersetzungen gingen weiter. Auch ein Versuch des Rektors der Sorbonne, Roche, mit den Studentenvertretern während der Nacht ins Gespräch zu kommen, scheiterte. Die Studentenführer ließen ihn wissen, daß Blut fließen werde, wenn den Forderungen nicht entsprochen und insbesondere die bei früheren Unruhen festgenommenen Studenten nicht freigelassen würden. Der Rundfunk rief die Taxifahrer auf, beim Abtransport der zahllosen Verletzten zu helfen. Pausenlos heulten die Sirenen der Krankenwagen, die Verletzte in die Krankenhäuser brachten.

Gestern vormittag versammelten sich im Studentenviertel wiederum mehrere hundert Demonstranten. Ein umfangreiches Polizeiaufgebot stand ihnen einsatzbereit gegenüber.

Friedenskontakte zwischen den USA und Nordvietnam

In einer Regierungsverlautbarung wurde gestern früh bedauert, daß sich die Unruhen ausgerechnet in dem Augenblick ereigneten, als die ersten Friedenskontakte zwischen den USA und Nordvietnam in Paris begannen. Im übrigen erneuerte die Regierung ihr Angebot an die Studenten, die wegen früherer Unruhen geschlossene Sorbonne wieder zu öffnen und mit den Vertretern der Studentenorganisationen über Reformen zu sprechen, wenn die Garantie für Ruhe und Ordnung gewährleistet sei.

Das nach Augenzeugenberichten rauhe Vorgehen der Polizei wurde in einer Regierungserklärung gerechtfertigt. Darin hieß es, die Polizei sei zunächst angewiesen worden, sich angesichts der Demonstrationen nachsichtig zu verhalten. Ihr wurde dann jedoch befohlen, die Ordnung wiederherzustellen, nachdem die Studenten das Angebot der Universitätsverwaltung zurückgewiesen hatten, die Wiedereröffnung der Sorbonne zu diskutieren.

Auch in zahlreichen Provinzstädten Frankreichs ereigneten sich in der Nacht zum Sonnabend Studentendemonstrationen. So besetzten Demonstranten die Universität Straßburg und erklärten, sie hätten die „Autonomie" der Hochschule übernommen. In Lyon blockierten noch gestern früh Studenten einen Teil der dortigen Universität.

VDS erklärt Solidarität

Der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) hat sich in einem Telegramm an die französische Regierung mit den demonstrierenden französischen Studenten solidarisch erklärt und gegen das „brutale Vorgehen" 'der französischen Polizei protestiert.

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