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EU-Haushaltskommissar Oettinger erwartet von Kanzlerin Merkel eine wichtige Rolle bei den anstehenden Personalentscheidungen in der EU.

© Wiktor Dabkowski/dpa

Oettinger über Merkel und die EU: "Bei Spitzenämtern ist die Autorität der Kanzlerin gefragt"

EU-Kommissar Günther Oettinger spricht im Interview über Merkels Europapolitik, den Protest der Gelbwesten in Frankreich und eine Steuer für Digitalkonzerne.

Herr Oettinger, haben Sie einmal zusammengerechnet, wie viel Sie jedes Jahr mit dem Auto zwischen Brüssel, Berlin und der sogenannten Provinz unterwegs sind?

Wegen der Entfernungen bin ich zwangsläufig viel mit dem Flugzeug unterwegs. Aber auch mit dem Wagen kommen pro Jahr rund 100.000 Kilometer zusammen.

Wie häufig sitzen Sie dabei selbst am Steuer?

Zum Großteil werde ich gefahren, aber gelegentlich fahre ich auch selber.

Was fällt Ihnen am meisten auf, wenn Sie die „Brüsseler Blase“ verlassen?

Brüssel ist doch keine Raumstation. Hier im Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Kommission, treffe ich regelmäßig Besuchergruppen, Vertreter von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden. Aber man ist als Politiker immer grundsätzlich gut beraten, Sitzungsräume und Büros gelegentlich auch zu verlassen und Einladungen anzunehmen. Ich bin viel unterwegs, weil ich als Gesprächspartner und Redner eingeladen werde. Das reicht dann vom Neujahrsempfang des Bauernverbandes über die Verabschiedung eines IHK-Präsidenten bis zum evangelischen oder katholischen Kirchentag.

Und was entgegen Sie dann, wenn Sie bei solchen Gelegenheiten auf „die da in Brüssel“ angesprochen werden?

Es war auch in Baden-Württemberg schon meine Aufgabe, den Stuttgartern zu erklären, dass wir Politik für den ländlichen Raum machen, und den Schwarzwäldern, dass wir eine Hauptstadt mit einem Flughafen und einer Landesmesse brauchen. Nun ist Europa mit seinen 28 Mitgliedstaaten, 24 Muttersprachen, Religionen, seiner Geschichte und seinen unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen viel komplexer als Baden-Württemberg. Aber Europa lässt sich trotzdem sehr gut erklären, und das tue ich auch.

Sie haben den ländlichen Raum angesprochen. In Frankreich demonstrieren seit Wochen in den ländlichen Regionen die „Gelbwesten“ gegen eine Erhöhung der Ökosteuer. Wie kann der Kampf gegen den Klimawandel gelingen, ohne dabei die Bürger über Gebühr zu belasten?

Wir müssen begreifen, dass die Europäer und insbesondere hoch entwickelte Staaten wie Deutschland und Frankreich über ihre Verhältnisse leben, wenn man die Ökobilanz zum Maßstab nimmt. Würden alle Menschen auf der Welt so viel Auto fahren wie Franzosen und Deutsche – mich eingeschlossen –, dann wäre der Schaden für das Klima noch viel größer. Es ist ja auch so, dass wir alle generell für Klimaschutz sind, und je mehr wir den konkreten Auswirkungen der Erwärmung ausgesetzt sind, desto mehr steigt die Zustimmung zum Klimaschutz, etwa wenn es wie im vergangenen Sommer zu lang anhaltenden Dürreperioden kommt. Aber wenn es konkret darum geht, unser eigenes Verhalten zu ändern, dann ist die Bereitschaft auf einmal überschaubar, etwa wenn wir den Ausstoß von Kohlendioxid, Stickoxid und Feinstaub bei Fahrzeugen oder den Verbrauch von Öl und Ölprodukten senken sollen – durch eine effizientere Technik oder durch höhere Steuern.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will durch eine Steuer für Digitalkonzerne zusätzliche Einnahmen in die französische Staatskasse bringen. Was halten Sie von dem Vorstoß Frankreichs?

Frankreich hat gemeinsam mit Deutschland zu einer Gruppe von EU-Mitgliedstaaten gehört, die uns vor einem Jahr aufgefordert hat, einen Vorschlag für eine Besteuerung von digitaler Wertschöpfung und digitalen Gewinnen vorzulegen. Dies haben wir gemacht. Angesichts des Widerstandes einiger Finanzminister in der EU gegen den Vorschlag habe ich nur eine einzige Bitte: Die Digitalsteuer darf nicht in endlosen Debatten zerredet werden, wie es bei der Finanztransaktionssteuer seit 2011 der Fall ist. Im Kern geht es um die Frage: Haben wir den Mut, eine Steuer einzuführen, die in den USA zu Verärgerung führen kann?

Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hat zuletzt gemeinsam mit Paris vorgeschlagen, zunächst einmal einen Kompromiss mit den USA anzusteuern und bis 2020 eine Lösung zur Besteuerung von Digitalunternehmen im Rahmen der OECD zu suchen.

Ich habe mit diesem Datum kein Problem. Aber wir sollten schon jetzt die Vorbereitungen für die Struktur einer europäischen Digitalsteuer vorantreiben. Denn ich halte es für wenig wahrscheinlich, dass die USA im Rahmen der OECD bei Verhandlungen über eine Digitalsteuer mitmachen werden. Ich kann mir schwer vorstellen, dass die USA innerhalb der OECD eine Steuer akzeptieren, die Europa zugute kommt.

Schließlich geht es im Kern um die Besteuerung einer Wertschöpfung, die im Silicon Valley stattfindet. Anders gesagt: Das Neue einer EU-Digitalsteuer würde darin bestehen, dass wir gewissermaßen in einer Zerlegung der Wertschöpfung einen Teil der Gewinne in Europa besteuern können, die durch die Daten europäischer Bürger in den USA entstehen.

Was Oettinger über Merkels Rolle in der EU denkt

Vom Projekt des französischen Präsidenten Macron zur Einführung eines Euro-Zonen-Budgets ist nicht mehr viel übrig.
Vom Projekt des französischen Präsidenten Macron zur Einführung eines Euro-Zonen-Budgets ist nicht mehr viel übrig.

© Thibault Camus/REUTERS

Beim EU-Gipfel in der kommenden Woche wird es unter anderem um ein weiteres Projekt von Macron gehen: einen eigenen Haushalt für die Euro-Zone. Von Macrons ambitionierten Plänen ist nicht mehr viel übrig geblieben. Zudem soll der neue Geldtopf, wenn er denn überhaupt eingerichtet wird, zum Bestandteil des bestehenden EU-Haushalts werden. Wie begründen Sie das?

Die Idee eines Euro-Zonen-Haushalts stammt aus dem Jahr 2011. Inzwischen ist die Zahl der Länder, die zum Euro gehören, von 17 auf 19 gestiegen. Und nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird die Euro-Zone 85 Prozent der Wirtschaftsleistung der gesamten EU umfassen. Auch Bulgarien und Kroatien wollen dem Euro beitreten. Unter diesen Umständen ist die Bedeutung eines eigenen Budgets für die Euro-Zone längst nicht mehr so groß wie noch im Jahr 2011. Wir haben ja einige maßvolle Vorschläge für die Euro-Zone bei der Diskussion über die nächste Haushaltsperiode zwischen 2021 und 2027 gemacht. Aber ein echter Etat für den gemeinsamen Währungsraum, gar in der Größenordnung eines jährlichen dreistelligen Milliardenbetrages, scheint mir nicht begründbar zu sein.

Damit die Pläne Macrons für ein Euro-Zonen-Budget – wenn auch auf bescheidenem Niveau – verwirklicht werden können, muss es eine Einigung über die nächste Haushaltsperiode geben. Wann ist damit zu rechnen?

Im Entwurf der Schlussfolgerungen für den Gipfel in der kommenden Woche heißt es nach gegenwärtigem Stand, dass die EU-Staaten eine Einigung bis zum Herbst 2019 anstreben. Damit wäre eine Einigung noch während der Amtszeit von EU-Ratschef Donald Tusk und wohl auch während des Mandates des Kommissionschefs Jean-Claude Juncker erreicht. Das würde schon einmal einen Fortschritt gegenüber den letzten Verhandlungen über den langfristigen EU-Haushalt bedeuten, als erst kurz vor dem Beginn der Förderperiode ein Durchbruch erzielt wurde. Ich baue darauf, dass schon im kommenden April eine weit gehende Einigung über den Etat zu Stande kommt. Denn unmittelbar nach der Europawahl im Mai wird sich das Europaparlament, das an den Haushaltsberatungen beteiligt ist, erst einmal auf andere Dinge konzentrieren müssen – beispielsweise die Anhörungen der nächsten Generation der EU-Kommissare.

Sie selbst werden der nächsten EU-Kommission nicht mehr angehören. Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie es für Sie anschließend weitergeht?

Ja. Ich habe Angebote für die Zeit nach dem Ausscheiden aus der EU-Kommission, und ich führe auch Gespräche. Aber ich habe alles noch ergebnisoffen auf dem Tisch und will mich erst im kommenden Jahr nach Ostern entscheiden. Schneller muss es ja auch nicht gehen, denn die Kommission wird ja schließlich zumindest bis Ende Oktober 2019 im Amt sein.

Vorher werden Karten bei der Europawahl neu gemischt. Wie kann ein weiteres Erstarken der Populisten im Europaparlament verhindert werden?

Es gibt kein Patentrezept. Wir sollten für Europa werben und nicht Euro-Skepsis verbreiten. Wir sollten die großen Fragen der Zukunft und den Mehrwert, den Europa dabei bringt, ansprechen. Und wir sollten deutlich machen, dass der Weg zurück zum Nationalstaat, wie er von Populisten und Neo-Nationalisten propagiert wird, jeden einzelnen Mitgliedstaat zurück in die Bedeutungslosigkeit führt. In der Welt von übermorgen hat kein Nationalstaat für Klimaschutz, Friedenssicherung, Forschung und Wettbewerbsfähigkeit die ausreichende Größe. Auch Deutschland nicht.

Wenn wir schon dabei sind, in die Zukunft zu schauen: Was erwarten Sie von Angela Merkel während ihrer verbleibenden Amtszeit als Bundeskanzlerin?

Ich würde mir wünschen – und ich glaube, dass sie diesem Wunsch auch gerecht werden könnte –, dass sie sich stark auf der europäischen Ebene einbringt. Nach der Europawahl steht die komplizierte Aufgabe an, die gesamte erste Reihe der EU neu zu besetzen: Wer folgt dem EU-Ratschef Tusk nach, wer dem Kommissionspräsidenten Juncker, wer tritt die Nachfolge der Außenbeauftragten Mogherini, des Parlamentschefs Tajani und des EZB-Präsidenten Draghi an? Bei der künftigen Besetzung der europäischen Spitzenämter ist die Autorität der Kanzlerin gefragt.

Was heißt das konkret?

Einerseits ist es die Aufgabe der Kanzlerin, deutsche Interessen in Europa zu vertreten. Andererseits gilt auch: Sie verfügt über den nötigen Überblick und die Erfahrung, wenn bei der Besetzung sämtlicher europäischer Spitzenposten demnächst eine Balance zwischen Parteiinteressen sowie den Staaten im Osten und Westen, Norden und Süden der EU gefunden werden muss.

Apropos deutsche Interessen: Rechnen Sie bei der endgültigen Entscheidung über den künftigen Kommissionschef mit der Unterstützung Merkels für den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber? Da die Staats- und Regierungschefs ein Wort bei der Juncker-Nachfolge mitreden wollen, erscheint die Kandidatur Webers nicht zwingend wie ein Selbstläufer.

Das Parlament wählt den Kommissionspräsidenten. Und im Parlament herrscht klar die Meinung vor, dass nur jemand gewählt werden kann, der oder die zuvor als Spitzenkandidat oder Spitzenkandidatin im Europawahlkampf angetreten ist. Wer sich im Augenblick völlig heraushält, kommt für den Chefsessel in der EU-Kommission nicht in Frage. Ich gehe davon aus, dass die EVP aus der Europawahl erneut als stärkste Fraktion in Straßburg hervorgeht. Bei einem Wahlsieg der EVP sollten die übrigen pro-europäischen Fraktionen im Europaparlament einer guten demokratischen Tradition folgen und Manfred Weber zum Kommissionschef wählen.

Und Merkel sollte in der Personalpolitik dem Spitzenposten in der Kommission den Vorzug geben gegenüber dem Chefsessel in der Europäischen Zentralbank? Neben Manfred Weber ist ja auch ein weiterer Vertreter aus Deutschland – Bundesbankpräsident Jens Weidmann – für ein europäisches Spitzenamt im Gespräch, nämlich die Nachfolge von EZB-Chef Draghi.

Im Augenblick steht die Frage im Mittelpunkt, wie die Europawahl ausgeht. Erst danach sollte über Prioritäten und Personen gesprochen werden. Weil für Manfred Weber eine konkrete Chance besteht, Kommissionschef zu werden, scheint mir dies im Lichte des Wahlergebnisses die erste Priorität zu sein.

Teilen Sie den Eindruck, dass der europapolitische Spielraum der Kanzlerin insgesamt geringer geworden ist, seit sie ihren Verzicht auf den CDU-Vorsitz angekündigt hat?

Nein, im Gegenteil. Sie tritt in Gremiensitzungen sehr befreit auf, und das konnte man auch bei ihren Reden im Europaparlament und im Bundestag im vergangenen Monat erleben. Die Kanzlerin hat volle Autorität. Und ich glaube, dass sie auch gewillt ist, dies als Chefin der großen Koalition zu nutzen.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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