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15 Jahre TuWaS!: Mit Experimentierkästen in die Klassenzimmer

Die Initiative der Freien Universität soll an Schulen die Begeisterung für Technik und Naturwissenschaften fördern.

Von Nicole Körkel

„Wir brauchen Vorbilder, die ihr Wissen teilen und andere Menschen dafür begeistern“, sagt Petra Skiebe-Corrette. „Und wir brauchen Influencer, die gute Ideen in der Gesellschaft vorantreiben.“ Die Biologieprofessorin hat TuWaS! im Jahr 2007 an der Freien Universität initiiert. Eines ihrer Vorbilder und gewissermaßen ein Influencer seiner Zeit war Georges Charpak.

1924 in der heutigen Ukraine geboren, emigriert Georges Charpak als Schulkind mit seiner jüdisch-polnischen Familie nach Frankreich. Im Zweiten Weltkrieg wird er Mitglied der Résistance, er wird ins KZ Dachau verschleppt und überlebt dort. Georges Charpak wird nach dem Krieg französischer Staatsbürger; er wird Wissenschaftler und geht ganz in der Forschung auf. 1992, fast 50 Jahre nach seiner Deportation, erhält Charpak den Physik-Nobelpreis. Er will der Gesellschaft, die ihn und seine Familie aufgenommen hat, etwas zurückgeben. So initiiert der Physiker 1995 „La Main à la Pâte“ – „die Hand im Teig“ – mit dem Ziel, in der Bevölkerung die Neugier für die Naturwissenschaften zu wecken. Die Initiative ist heute in ganz Frankreich verankert.

Gesellschaftliches Engagement von Wissenschaftlern ist wichtig

Georges Charpaks Lebensgeschichte hat Petra Skiebe-Corrette nachhaltig beeindruckt. „Sie zeigt, wie wichtig es ist, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich auch gesellschaftlich engagieren“, sagt sie, „und dass es uns allen zugutekommt, wenn wir anderen von Anfang an Chancen eröffnen.“

1992, im Jahr jener Nobelpreisverleihung schließt Petra Skiebe-Corrette nach einem Lehramtsstudium ihre Promotion in der Neurobiologie ab. Sie brennt für die Wissenschaft und dafür, wie man sie vermittelt. Anfang der 2000er Jahre begegnet sie als habilitierte Naturwissenschaftlerin einer weiteren „Influencerin“. Mit der Schwedin Kerstin Reimstad lernt die Biologin „Science and Technology for All“ kennen – und erlebt, wie naturwissenschaftliches Arbeiten in Schulen begeistern kann. „Die Kinder haben mich mit ihrer Begeisterung beeindruckt“, sagt Petra Skiebe-Corrette, „so etwas musste es auch in Deutschland geben.“

An der Freien Universität leitet sie von 2004 an das Mitmach- und Experimentierlabor „NatLab“ für Schülerinnen und Schüler von der 5. Klasse an. Wie aber könnte man noch früher ansetzen? Wie sollten Angebote an Grundschulen aussehen? Die EU-Projekte „SciencEduc“ und „Pollen“ gehen genau diesen Fragen nach. Petra Skiebe-Corrette wird deren Repräsentantin in Deutschland, sieht sich weltweit Initiativen an und lernt am Smithsonian Science Education Center in Washington DC, wie Schulprojekte gestartet und ausgebaut werden können – von der Materialentwicklung und Logistik bis zur Fortbildung von Lehrkräften.

Deutschlandweit sind fast 400 Schulen bei TuWaS! dabei

2007 ist es so weit: Die Freie Universität und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften gründen das Projekt TuWaS!. Es beginnt mit zwei Experimentiereinheiten für die Klassenstufen 1 bis 6 samt passenden Schulungen für Lehrkräfte. Die Materialien werden nach US-amerikanischem Vorbild für zehn Grundschulen in Berlin angepasst und sind so aufbereitet, dass sich die Lehrkräfte ganz auf die Interaktion mit den Kindern konzentrieren können.

Inzwischen findet das sogenannte forschende Lernen an 179 Grundschulen Berlins statt, deutschlandweit gibt es TuWaS! bald an 400 Schulen. Für einen lebendigen Nawi- und Sachkundeunterricht stehen 15 Themen zur Verfügung. Beliebtestes Thema: der Lebenszyklus eines Schmetterlings. Aber auch technische Themen wie Stromkreise und Mobilität kommen gut an.

„Dass wir jetzt mehr als 30-mal so viele Schulen betreuen können, funktioniert, weil wir Arbeitsprozesse automatisiert und digitalisiert haben“, sagt Koordinatorin Nicola Stollhoff, die TuWaS! Berlin mit zwei weiteren Kolleginnen auf 1,5 Stellen und einem Kollegen in der Materialverwaltung stemmt und während der Pandemie fast das ganze Fortbildungsangebot zusätzlich für die Online-Nutzung umgestellt hat. „Zum Glück profitieren wir von der Infrastruktur der Freien Universität“, sagt Petra Skiebe-Corrette. In der Kelchstraße in Steglitz befinden sich die Büros sowie das 500 Quadratmeter große Materiallager.

Zweitgrößte Projektregion mit 166 Schulen ist das Rheinland. Hier ging die Initiative von der IHK Köln-Bonn und Unternehmen aus, deren Ziel es war, den Fachkräftemangel in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen entgegenzuwirken. Über das EU- Projekt Pollen entdeckte man TuWaS!. Dass es seit 2008 aus Überzeugung und mit Erfolg umgesetzt wird, zeigte das Netzwerktreffen der regionalen Industrie- und Handelskammern im Juni in Köln.

Lernen darf und muss Spaß machen

„TuWaS! ist ein Qualitätsprodukt, von dem alle profitieren“, sagt Boris Preuss, der bei der Bezirksregierung Köln die Abteilung Schule leitet. Es gelinge an jeder Schule, wenn es vom Kollegium getragen werde, konzeptionell gut verankert sei und die Lehrkräfte Zutrauen in den Wissensdurst ihrer Schulklassen zeigten, betont der frühere Grundschullehrer. „Wir brauchen kluge Köpfe, die neue Wege finden. Lernen darf und muss Spaß machen.“

Genau das unterstützen bei TuWaS! Rheinland rund 70 Unternehmen, Stiftungen und Vereine. Seit 2021 beteiligt sich neben den IHK Köln und Bonn-Rhein- Sieg auch die IHK Mittlerer Niederrhein. Pro Jahr können 600 Lehrkräfte geschult werden und rund 24 000 Schülerinnen das sogenannte forschende Lernen erproben. „Ich hätte mich gefreut, wenn ich das als Schüler auch erlebt hätte“, sagte Christopher Meier, Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung bei der IHK Köln.

Die Schulkinder der ersten TuWaS!-Jahrgänge sind längst erwachsen. Zu den Lebensläufen wird keine Datenbank geführt, aber hin und wieder erfahren die Koordinatorinnen, dass frühere Teilnehmende ihr in der Grundschule entdecktes Interesse weiterverfolgt haben und den Weg in die Naturwissenschaften oder in technische Berufe gewählt haben.

Ob es TuWaS!, ähnlich wie in Frankreich, auch einmal bundesweit geben wird? „Wir sollten keine Angst haben, groß zu denken“, sagt Petra Skiebe-Corrette. „Das hängt vom Engagement der Koordinatoren und Kooperationspartner ab – und vor allem von der Finanzierung.“ In Berlin werde das Projekt inzwischen vom Senat finanziert und sei damit auch an dessen Haushalt gebunden. „Mit einer Verstetigung könnten wir nicht nur wie jetzt die Umsetzung bewältigen, sondern ganz anders in Richtung Zukunft planen“, sagt Petra Skiebe-Corrette. Ihr Wunsch für die kommenden 15 Jahre: „Immer genügend Menschen mit Durchhaltevermögen und begeisterte Influencer. Der Einsatz wird sich für uns alle lohnen.“

Verantwortlich für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin

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