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Wer auf engen Wegen ins Innere des Stelenfeldes vordringt, fühlt sich alsbald umschlossen von kalter Einsamkeit, gefangen zwischen grauen Mauern.

© Tim Brakemeier / picture alliance / dpa

10 Jahre Holocaust-Mahnmal in Berlin: Die Freiheit des Gedenkens

Das Leben, der Alltag, die Currywurst – und das alles am Ort des Gedenkens an die ermordeten Juden Europas. Dass das funktionieren könnte, hat vor zehn Jahren kaum jemand geglaubt. Mit dem Holocaust-Mahnmal wurde Berlin die Freiheit des Gedenkens geschenkt.

Spielerisch gedenken, ausgerechnet im Zusammenhang mit dem Holocaust? Wer tut das? Wie soll das gehen? Es geht. Kann man in der Mitte Berlins beobachten, in dem steinernen Stelenmeer, einer Art Stonehenge von Berlin, von dem sich vor zehn Jahren nur wenige vorstellen konnten, ob und wie das einmal funktionieren soll. Abgesehen vom weitsichtigen amerikanischen Architekten Peter Eisenman, von der Initiatorin Lea Rosh und auch von Gerhard Schröder, der, als er damals noch nicht Alt-Kanzler war, hoffte, die riesig bebaute Fläche nahe dem Brandenburger Tor möge ein Ort sein, zu dem man gerne hingeht.

Zehn Jahre alt wird nun das Denkmal für die ermordeten Juden Europas – das sind seit Mai 2005 ungezählte Besucher und Meinungen über eine betonfeste Größe, mit der sich diese Stadt quasi Asche aufs Haupt streut und alle Welt daran erinnert, dass hier die Vernichtung der europäischen Juden geplant und befohlen wurde. Unbegreiflich, alle Dimensionen sprengend. Von deutschen Todesstrategen und Herrenmenschen erdacht, damals, nach 1933.

Johann Wolfgang von Goethe, überlebensgroß und unschuldig weiß, blickt von seinem Podest am östlichen Rand des Tiergartens, wo bis ’89 die Mauer stand, auf die 2711 Quader, Steine aus Beton als Denkanstöße, hart, unerbittlich. Sie sind zwischen einem halben und fast fünf Metern hoch, ein Touristenführer erklärt seinen Gästen, Bonner Oberschülern, dass diese Steigung auch ein Symbol für die Steigerung der Vernichtung der Juden sein könne. Wer auf welligen, engen Wegen ins Innere vordringt, fühlt sich alsbald auf unebenem Grund, umschlossen von kalter Einsamkeit, gefangen zwischen grauen Mauern. Nur der blaue Himmel da oben ist ein wenig Trost in der Trostlosigkeit. Oder die weiße Wolke im Abendwind.

Unter der Erde sprechen die Fakten

Plötzlich steht man am „Ort der Information“, der das Stelenfeld erst vollkommen macht. Hier, unter der Erde, sprechen die Fakten. Die über Europa verteilten Vernichtungslager und unschuldige Menschen, die dorthin verschleppt wurden. Wie geschah das, bei Nacht und Nebel oder am hellichten Tag? Wer sah hin, wer guckte weg?

Die Todesmaschinerie hatte Millionen Opfer, darunter sechs Millionen Juden. Hier unten sprechen sie zu uns. Wir begegnen ihnen auf der Straße oder sitzen mit ihnen am Frühstückstisch, bevor sie in die Orte des Mordens gebracht werden. Sie haben Gesichter und Namen. Ihre Schicksale werden aufgerufen, durch Interviews mit Überlebenden kommen die Stimmen aus der Vergangenheit. Sprechen trotz allem: authentisch, so lange sie noch da sind. Neun Stunden dauerte das längste Interview mit Walter Frankenstein, einer Berliner Stimme der Überlebenden.

Wer eine Weile an den 30 Treppen steht, auf denen die Besucher aus der Ausstellung kommen, sieht ernste, betroffene, manchmal auch verweinte Gesichter. Den Schulklassen ist das Lachen längst vergangen. Eine Frau sagt: „Ich bin froh, dass diese dunkle Zeit vorbei ist.“ Zehn Jahre Ort der Information – das sind fast fünf Millionen Besucher, hunderte Gästebücher mit Schriftzeichen, die uns fremd sind: Koreaner, Chinesen, Japaner, Israelis, Araber waren hier, Spanier, Franzosen und Italiener sowieso. Und natürlich Deutsche. Mehr als die Hälfte der Gäste kommt aus anderen Ländern, zehn Prozent aus Berlin. Wie Nikolas. Der schreibt ins Gästebuch: „Die Ausstellung ist super ergreifend. Sie ist gut aufgestellt und nicht zu viel für einen 13,8 Jahre alten Jungen wie mich.“ „Der Tod ist eine Last, die ewig wiegt“, meint ein anderer, eine Frau bekennt: „Ich bin entsetzt, überrascht, verstört, überwältigt und tief getroffen.“

Das Gegenteil vom stummen Gedenken

Das Gegenteil vom stummen Gedenken in den ins Halbdunkel getauchten unterirdischen Katakomben findet „oben“ statt. Es ist Vormittag. Eine Menschenschlange steht am Eingang und wartet geduldig, bis der Sicherheitscheck beginnt. Andere gehen bedächtig durch die Betonklötze, manche verstecken sich zwischen den Quadern, die dann zu einer Art Abenteuerspielplatz mit, wie die Berliner sagen, Einkriegezeck werden, bis der Sicherheitsdienst etwas dagegen hat. An fünf, sechs Stellen haben sich Gruppen niedergelassen. Sie hören, was ihnen die Erklärer erzählen: die spannende Geschichte des Ortes, also der Ministergärten. Dass auf dem Gelände der Bunker und das Haus vom Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels lagen, dass Adolf Hitler zu seinem Architekten Albert Speer lief, der in der Akademie der Künste gegenüber das größenwahnsinnige Germania plante.

"Wir hatten zu Beginn nichts. Nur die Idee."

Wenn Lea Rosh, die die Mahnmal-Steine vor 17 Jahren ins Rollen brachte, in einem wohnlichen Wilmersdorfer Café von den Anfängen erzählt, wird der Milchkaffee kalt. „Wir hatten zu Beginn nichts. Nur die Idee.“ In Europa existierten in den Ländern der Opfer Gedenkstätten an authentischen Orten. Aber hier, im Land der Täter? Bei Wind und Wetter, im Regen und zwischen Schneeflocken standen sie vor dem KaDeWe, verteilten Flugblätter, sammelten Unterschriften und Geld für ein Denkmal. „Alte Wehrmachtsknochen kamen und sagten, das stimme doch alles nicht. Andere meinten: Macht mal endlich. Einer war empört, denn die Juden bekämen immer eine Extrawurst gebraten.“ Darauf Lea Rosh: „Ja, in Auschwitz.“

Initiatorin Lea Rosh und Architekt Peter Eisenmann.
Initiatorin Lea Rosh und Architekt Peter Eisenmann.

© picture alliance / dpa

Entwaffnend und hartnäckig begann die Arbeit am Mahnmal, „nichts was Hand und Fuß hat, schüttelt man aus dem Ärmel“, sagt die Frau mit der wilden Mähne, den feurigen Augen und der markanten Stimme, und sie freut sich, dass letztens jemand zu ihr als Vorsitzende des Förderkreises meinte: „Der Kniefall Willy Brandts am Denkmal für den Warschauer Aufstand und unser Denkmal sind die beiden großen Gedenkgeschichten, die Deutschland aufzuweisen hat.“ Willys Kniefall und unser Denkmal in einem Atemzug – das sei ja nun wirklich eine wunderbare Geschichte.

Man hat ja vorher geunkt, das Gelände würde vollgemüllt und beschmiert – ist alles gar nicht eingetroffen. „Die Leute respektieren das so, wie es ist. Am ersten Tag gab es ein paar kleine Hakenkreuze mit Bleistift, und das war’s.“ Bewegende Momente erlebt Lea Rosh immer wieder: „Eine Frau kommt aus dem Stelenfeld weinend auf mich zu und sagt, wie sie dort die Einsamkeit der Juden nachempfinden konnte.“ Ab 1943 hätten ja die europäischen Mächte gewusst, was in Auschwitz passiert. Jüdische amerikanische Piloten waren bereit, die Zugangswege zu bombardieren. „Aber das ist nicht gemacht worden…“

Das Mahnmal als Teil des Alltags

Das Denkmal spielt bis heute im Leben seines Architekten eine Rolle: Peter Eisenman bekam neulich eine Einladung zu einem Vortrag im Iran. „Doch dann hat die politische Rechte dort herausgefunden, dass ich der Architekt des Holocaust-Mahnmals bin und sie haben mich als Vater des Nihilismus bezeichnet und richtig Stimmung gegen mich gemacht.“ Die amerikanische Botschaft gab zu bedenken, dass sie Eisenmans Sicherheit nicht garantieren könne. „Ich habe die Reise dann abgesagt.“

Berlin ist ihm in bester Erinnerung. Er habe sich immer gewünscht, dass das Mahnmal Teil des Alltags werde. „Ich denke, das ist erreicht. Ich mag auch die Imbisse außenrum, das ist okay. Die Leute sollen sich ruhig Kaffee und Currywurst kaufen und auf das Mahnmal schauen“, sagt uns der 82-Jährige im Ferngespräch mit New York. Bei keinem seiner Projekte habe er jemals so viele Rückmeldungen erhalten. Und die Risse in den Stelen, die wie Blitze von oben nach unten verlaufen? Eisenman führt sie auf falsches billigeres Material zurück und bekennt, dass er deswegen keine schlaflosen Nächte hat. Er stehe ohnehin noch immer jeden Morgen mit einem optimistischen Gefühl auf, so, „als würde das ganze Leben noch vor mir liegen“. Der Architekt kommt zum Festakt am 7. Mai in die Cora-Berliner-Straße. Bundestagspräsident Norbert Lammert und Lea Rosh reden, und Zeitzeugen vom Jahrgang 1926 sprechen als die Stimmen der Überlebenden.

Kaum ein Ort ist mehr fotografiert

Vermutlich ist kaum ein Ort in den vergangenen Jahren so oft fotografiert worden wie das Mahnmal. Viele klettern mit ihren Handys und Apparaten auf die Stelen, denn von oben sieht alles viel dynamischer aus. Der Balkon des exklusiven China-Clubs auf dem Dach des Hotels Adlon ist übrigens der beste Ort für ein Foto, auch die oberen Stockwerke der Landesvertretungen lassen das Motiv komplexer erscheinen. Selbst nachts, wenn das Stelenfeld still wie ein schwarzer See in sich ruht, zuckt hier und da ein Fotoblitz durch die Dunkelheit. Bis die Stadt im Tiefschlaf liegt, huschen die Lichtkegel der Autos über die Stelen. Oder ein Wächter, der unverdrossen seine Runden dreht, hat seine Taschenlampe angeknipst. Denkmalsnachtwächterschein.

Wer hier wohnt und zehn Jahre auf die Steine guckt, hat sich an den stummen Nachbarn gewöhnt. Das Gefühl fürs Besondere, das ständig seine Gestalt zu wechseln scheint, aber bleibt. Morgens, wenn die aufgehende Sonne bewirkt, dass die Stelen lange Schatten werfen. Bei Regen, wenn dicke Tropfen bizarre Muster auf die glänzenden Steine zaubern. Wenn die Sonne untergeht, scheint das Kunstwerk zu strahlen. Und nachts? Da gruselt’s einem im Feld. Nur das Sternenbanner auf der amerikanischen Botschaft gegenüber ist erleuchtet.

Ein Denkmal von solch einem Ausmaß funktioniert wie ein Unternehmen

Es gibt reichlich Geschichte zwischen der Touristenmeile vom Brandenburger Tor zum Potsdamer Platz: Mauerverlauf, markiert von einer Doppelreihe Pflastersteine, Reichskanzlei, nur noch auf einer Schautafel in der Wilhelmstraße vorhanden, Führerbunker, von Parkplatz-Beton überdeckt, und um die Ecke ein Denkmal für den Hitler-Attentäter Georg Elser, das der Dichter Rolf Hochhuth angeregt hatte. Der Mann, der mit dem „Stellvertreter“ Weltruhm erlangte und mit seinen 84 Jahren schöpft, was Fantasie und reale Weltlage hergeben, wohnt in einem der Häuser an der Wilhelmstraße. Bis vor Kurzem ist er noch regelmäßig aufs Fahrrad gestiegen und mit wehendem hellen Sakko zu Theaterpremieren gefahren, man wohnt hier sehr zentral. „Die Stelen gehören jetzt so selbstverständlich zu Berlin wie das Brandenburger Tor“, sagt der Dramatiker, ein freundlicher, manchmal auch streitbarer, arbeitsamer Herr. Er nennt das Mahnmal „so nötig wie gelungen“. Und verbindet dies sogleich mit Lea Rosh, ohne deren rastloses Wirken es wohl kaum entstanden wäre. „Wie alle, die Neues wagen, musste sie gegen erbitterten Widerstand das Mahnmal durchsetzen – heute unbegreiflich.“ Künstlerisch erfülle der Entwurf Eisenmans absolut die Forderung Karl-Friedrich Schinkels: Kunst ist überhaupt nichts, wenn sie nicht neu ist. Was der Dichter nicht gut findet: das Fehlen der Namen. Im Ort der Information findet man bereits tausende. Eine Schicksalsgemeinschaft.

Zehn Jahre ohne Komplikationen, darauf sind alle stolz

Ein Denkmal von solch einem Ausmaß hat nicht nur seine emotionale, sondern auch eine fast profane, sachlich-coole Seite. Es funktioniert oben und unten wie ein Unternehmen mit ein paar Dutzend Angestellten. Da wird man freundlich von Studenten des Besucherdienstes empfangen, dann treten die Angestellten der Security-Firma Kötter mit ihrem Röntgengerät in Aktion, und wenn sie keinen Innendienst haben, schlendern sie wachen Auges um das Denkmal, beantworten Fragen oder belehren „Springer“, die von Klotz zu Klotz hüpfen. Zwei schwere Unfälle hat es dabei bislang gegeben, „Ausländer haben ja keine Ahnung, dass das nicht nur gefährlich, sondern auch respektlos ist“, sagt Sicherheitsmann Lutz Tänzer, der mit dunklem Anzug, Schlips und Kragen auch ohne Waffe Autorität ausstrahlt. Höchstes Lob: Wenn jemand, wie letztens, sagt: Sie sind der freundlichste Deutsche, den wir kennen gelernt haben. „Ja, wir repräsentieren Deutschland an dieser Stelle“, sagt Sicherheitschef Peter Glatzel, dessen unterirdisches Büro voller Technik steckt – dank Kameras und Monitore ist sein Auge überall. Zehn Jahre ohne Komplikationen, darauf sind hier alle stolz.

Immer wieder kommen Menschen mit Blumen

„Wie geräuschlos das alles eigentlich läuft, ist die frohe Botschaft“, sagt Uwe Neumärker, der Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das Stelenfeld hat für den Chef nichts von seiner Magie verloren. Er geleitete Michelle Obama durchs Denkmal und bekam einen Dankesbrief aus dem Weißen Haus, Griechenlands Ministerpräsident Tsipras war sehr ergriffen von dem, er schrieb: „Geschichtskenntnis, auch wenn sie schmerzt, kann uns mit Entschlossenheit bewaffnen, sodass wir gemeinsam daran arbeiten, dass die Menschheit nie wieder solchen Schmerz erlebt, nie wieder den faschistischen Hass.“ Und Angela Merkel erbat sich eine Führung ganz allein, an einem Montag, dem Schließtag des Ortes der Information. Immer wieder kommen Menschen mit Blumen, manche legen Steine auf die Stelen wie auf jüdische Gräber, andere beten still. „Hier kann jeder seine Form des Gedenkens selber wählen“, sagt Uwe Neumärker, „und wenn jemand fragt, wo er seinen Kranz hinlegen darf, dann sagen wir: überall. Suchen Sie sich eine Stele aus!“

Man hat keine Gebrauchsanweisung, nur eine Besucherordnung in kleinen, in den Boden eingelassenen Tafeln, zweisprachig. Im Sommer locken die aufgeheizten Stelen zum Sonnenbad, Liebespaare posieren zwischen den Steinen fürs Foto, sie genießen das Leben, gerade hier. Aus den Rissen im Beton laufen helle Schlieren, wie Tränen. Es ist, als sei eine Seele in den Stein gekommen. Die Gedanken sind frei. Das Gedenken auch.

Mitarbeit Claudia Keller

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.

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