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Erwan (links) und Ronan Bouroullec in ihrem Studio.

© Studio Bouroullec

Brüder Bouroullec: Kern des Designs ist das Gefühl

Erwan und Ronan Bouroullec sind Frankreichs beste Designer. Sie treten immer gemeinsam auf, beim Interview spricht in der Regel nur einer.

Vor zwei Jahren wurde ihr Gesamtwerk im neuen Centre Pompidou in Metz ausgestellt. Gerade lief im Pariser Museum Les Arts Décoratifs die prestigeträchtige Ausstellung Momentané, die ihrer 15-jährigen Karriere gewidmet war. Im Alter von 42, beziehungsweise 37 Jahren sind die Brüder Bouroullec die meist gefeierten französischen Designhelden. Sie gehören zudem zu den einflussreichsten und erfolgreichsten Designern der Welt.

Ende der 90er Jahre wurden sie bekannt und machten sich rasend schnell einen Namen. Eine lange Liste führender Auftraggeber können sie vorlegen wie etwa Cappellini, Issey Miyake, Vitra, Magis, Kartell, Ligne Roset, Kvadrat, Flos, Mattiazzi und Hay. Auch auf der jüngsten Möbelmesse in Mailand im April waren sie allgegenwärtig. Unter anderem mit einer überraschenden Installation von Traumkarrussells im Auftrag von BMWi (der jungen Untermarke von BMW, die sich der Nachhaltigkeit und elektrischen Konzeptautos widmet).

Wir treffen Ronan Bouroullec, den ältesten der beiden (geboren in Quoimper, 1971) in Mailand während der Salone Ufficio, wo ihre neue Workbay Office für Vitra vorgestellt wurde. Ihre besondere Verbindung und erfolgreiche Zusammenarbeit mit Vitra begann im Jahr 2002. Die Designer kreierten für die Marke innovative Bürosysteme wie Joyn und unkonventionelle Produkte wie Algues, ein Bausatz für einen sich organisch windenden Raumteiler oder L’Oiseau, einen Spielzeugvogel.

Auf Fotos scheinen sie unzertrennlich, aber bei Interviews sind sehr selten beide zugleich anwesend. Das heißt nicht, dass sie nicht alle ihre Entwürfe noch immer mit beider Namen signieren, wobei niemals der spezifische Anteil des einen oder anderen kommuniziert wird. Den permanenten Dialog und den Austausch in ihrem Designstudio in Paris bezeichnen sie als wesentlich für all ihre kreative Arbeit.

Wie sind Sie zum Designer geworden? Und, gefällt Ihnen der Beruf noch immer, nach all den Jahren?

Es gibt Dinge, die einem zusagen und Dinge, die einem weniger gefallen. Ich beginne mit dem Positiven. Ich empfand schon in sehr jungen Jahren eine Leidenschaft für Objekte. Ich weiß nicht genau, wie es dazu gekommen ist, aber ich habe immer gewusst, dass ich damit gerne etwas tun würde. Meine Familie war überhaupt nicht auf Kunst und Design hin orientiert. Mein Vater arbeitete in der Gesundheitsverwaltung und meine Mutter war Krankenpflegerin. Wir wurden auf dem Land geboren, in der Bretagne. Dort existiert alles andere als eine städtische Kultur.

Dennoch haben Ihre Eltern sie nicht gezwungen, einen traditionellen Beruf zu wählen?

Die Schule war für mich ein Alptraum. Ich hatte großes Glück, dass ich mit 15 Jahren in einen Studiengang mit einem Mix von klassischen Studien und angewandten Künsten landete. Dadurch konnte ich Fotografie, grafische Formgebung und Objekte kennenlernen. Von dieser Periode an sehe ich eine klare Linie in meinem Leben: Ich habe das Gefühl, dass ich schon seit meinem 15. Lebensjahr konsequent mit dem beschäftigt bin, was nun noch immer tue. Und ich hatte das Glück, dass ich damit ziemlich erfolgreich war.

Wussten Sie schon mit 15 Jahren, was ein Designer ist?

Natürlich nicht, ich hatte keine Ahnung davon. Es existiert eine Doppeldeutigkeit rund um diesen Begriff. Vor allem in Frankreich, wo das Publikum vielleicht noch schlechter über Design informiert ist als in anderen Ländern. Design ist für das große Publikum eine Art Adjektiv: Sie sprechen über einen Designstuhl, ein Designglas, als ob es um einen Stil geht, als ob Design automatisch auf das ein oder andere bizarre Ding in transparentem Plastik verweist, das man im Museumsshop oder in fürchterlichen Geschäften kaufen kann. Ich finde das grauenhaft. Es ist genau das Gegenteil von dem, was Design für mich ist, nämlich ein einfaches Fachgebiet. Design ist für mich nicht in erster Linie verbunden mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts, sondern mit Objekten,  von denen wir seit Jahrtausenden umgeben sind. Der Unterschied zwischen handwerklich und industriell tut dabei nichts zur Sache. Was sind as für Objekte? Wie entstehen sie? Wie werden sie gefertigt? Was ist ihre Beziehung zu unserer Welt? Darüber denkt man als Designer nach. Und damit basta.

Wie sehen Sie bei Objekten die Bedeutung von Originalität gegenüber der Tradition?

Für mich dreht sich alles viel mehr um Korrektheit als um Tradition oder Erneuerung. Es gibt eine Menge innovativer Objekte, die ich total absurd finde. Was will das schon sagen – Innovation? Natürlich ist es wichtig, innovative Lösungen zu finden, aber in erster Linie will ich Korrektheit, eine gewisse Finesse, Delikatesse, Eleganz. Nehmen wir an, ich entwerfe einen Massivholzhocker mit vier Beinen. Das ist nicht innovativ. Außerdem scheint es mir praktisch zu sein, Maße zu verwenden, die schon seit Jahrhunderten verwendet werden. Oder wir entwerfen einen Teppich unter Verwendung der alten Kelim-Technik. Es gibt da keine technische Innovation und dennoch bekommt dieser Teppich einen eigenen Charakter.

Ich vergleiche das gerne mit Kochen. Man kann mit den besten Zutaten alles richtig tun, aber wenn man am Ende zuviel Salz hinzugibt, ist alles verdorben. Beim Design ist das genauso. Es ist sehr gut möglich, dass man eine interessante Idee hat, eine schöne, passende Form, aber wenn der Komfort zu wünschen übrig lässt, ist das Ganze missglückt. Es kommt beim Design darauf an, eine ganze Menge unterschiedlicher Faktoren zu einem Ganzen zu vereinigen, in dem "die Musik steckt", in sehr divergierenden Kontexten.

Nennen Sie bitte ein Beispiel!

Bei Projektmobiliar für Vitra spielen Faktoren wie Preis, Montage- und Produktionsgeschwindigkeit eine große Rolle. Aber um diesen Teppich zu fertigen, sind 100 Arbeitstage notwendig. In dieser Hinsicht hat Design auch mit Einfühlungsvermögen zu tun. So wie ein guter Schauspieler den einen Tag eine komödiantische und den anderen Tag eine tiefsinnige, tragische Rolle spielen können muss, so muss auch ein guter Designer über eine breite Ideenpalette verfügen und jeweils die passende Antwort finden, ob das nun für Vitra ist oder für pakistanische Handwerker, die in einem Kriegsgebiet leben.

"Das iPhone hat mein Leben radikal verändert"

Im Augenblick wird sehr viel Aufhebens um die Rückkehr des Handwerklichen gemacht. Sind Sie darüber erfreut?

Es ist natürlich interessant, aber überhaupt nicht neu. Ich hatte das Glück, dass ich vor meinem ersten Projekt nach dem Studium ein Jahr lang mit einem Keramiker in Vallauris zusammenarbeiten durfte, einem Töpferzentrum in Südfrankreich, wo Picasso einmal ein Atelier hatte. Dieser Mann, Claude Aiello, hatte noch nie etwas von Design gehört. Er hat immer alleine gearbeitet. Und ich war ein blutjunger Industriedesigner. Aber das funktionierte ausgezeichnet. Und das bestätigt, was ich schon gesagt habe: Der Kern der Designdisziplin ist das Objekt, nicht die Produktionsweise.

Handwerkliche und industrielle Produktion haben alle beide jeweils schwache und starke Seiten. Um einen Stuhl für 100 Euro zu produzieren, ist die Industrie ein praktisches Instrument. Aber seit dieser frühen Erfahrung sehe ich es auch als meine Aufgabe als Designer, um einer verwundbaren Fachkompetenz neue Chancen zu geben, um zu überleben.1998 gab es noch 80 handwerkliche Ateliers in Vallauris, heute existiert nur noch eines, das von Claude Aiello, der nach unserem Treffen mit vielen anderen internationalen Designern gearbeitet hat.

Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus?

In vielen europäischen Ländern verschwindet das ganze handwerkliche Know-how. Italien war lange eine Ausnahme. Aber die Situation ist nun auch sehr fragil und wir wissen nicht, wie sie sich entwickeln wird. In Frankreich ist es seit den neunziger Jahren Politik gewesen, alles zu unterstützen, was groß war, wodurch die Kleinen von der Landkarte verschwanden. Vor 20 Jahren gab es noch eine ganze Reihe französischer Marken, oft Hersteller, die Stilmöbel reproduzierten. Keiner von denen ist noch da.

Auch weil sie gegen die Konkurrenz der aufstrebenden Industrienationen nicht bestehen konnten?

Weil es eine totale Desindustrialisierung war, die gepaart ging mit einem völlig falschen politischen Diskurs. Der fußte darauf, dass Intelligenz und Forschung eine französische oder europäische Angelegenheit waren, während China produzieren sollte. An und für sich war das schon fremdenfeindlich. Als ob der Rest der Welt nur existiert, um unsere außergewöhnlichen Ideen zu produzieren. Es hat sich ganz anders entwickelt. Was ich absolut nicht verstehe ist der weitgehende Mangel an gesundem Menschenverstand in der politischen Führung. Wie kann jemand heute denken, dass Dinge, die nur handwerklich hervorgebracht werden können, nun plötzlich in riesigen Fabriken durch gigantische Maschinen hergestellt werden können, an Orten, wo höchstens drei Menschen zwischen den Maschinen herumlaufen? Natürlich ist die Rationalisierung der Produktion sehr wichtig für Dinge wie iPhones, bei denen es eine Millionennachfrage gibt. Aber was ich sagen will, ist, dass ich mich immer wieder wundere über den allgemeinen Mangel an Verstand von Menschen für das, was sie kaufen, wie das gemacht wird, wo es gemacht wird. Mit organischen Lebensmitteln sehen wir nun einen positiven Trend. Die Öffentlichkeit findet zunehmend die Herkunft der Dinge, die wir essen, immer wichtiger. Das sollte auch für Möbel und andere Produkte wichtiger werden. Warum bezahlt man einen anderen Preis für etwas, das in Europa hergestellt wird?

Ist für Sie als Designer Politik wichtig?

Ja natürlich, das habe ich ja gerade gesagt. Wenn wir den italienischen Herstellern nichts zu bieten haben, dann wird diese besondere handwerkliche Wirtschaft verschwinden. Als Designer muss man dafür sorgen, dass die Menschen einer bestimmten Beschäftigung nachgehen können. Unser Konsum ist direkt verbunden mit der Qualität und den Umständen, in denen Menschen arbeiten. Sollen Sie nur noch neben einer Maschine stehen?

Eine ganz andere Frage. Sind Sie fasziniert durch die digitale Evolution?

Na ja, es klingt ein wenig widersprüchlich, dass ich, der gerne für Einfachheit plädiert, zugeben muss, dass das iPhone mein Leben radikal verändert hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich von einem Gerät so abhängig werden würde. Ich suche wirklich nach einem Weg, um ein wenig Abstand davon zu bekommen, denn es geht sehr weit: ich skizziere, ich recherchiere, ich gebe Informationen an meinen Assistenten weiter, ich brauche innerhalb von ein paar Minuten ein Foto, um etwas zu illustrieren, überall wo ich bin, zu jeder Zeit. Beim iPhone ist die Bedeutung des Designs überdeutlich. Für mich gibt es einen Riesenunterschied zwischen dem iPhone und allen anderen abgeleiteten Geräten oder Kopien. Genau die Intelligenz des Designs bestimmt den Erfolg. Der große wirtschaftliche Erfolg von Apple ist durch das Design zu erklären: eine durchdachte Reflexion der unendlichen Möglichkeiten in einer Ordnung, die so übersichtlich, einfach und zugänglich ist, dass meine vierjährige Tochter genau weiß, wie sie das Gerät nutzen muss. Das ist phänomenal.

Ihre Zusammenarbeit mit der Automarke BMWi hat viele überrascht.

Nun ja, wir haben wirklich gezweifelt, wir wollen nicht wirklich von einer Automarke wiederverwertet werden. Andererseits wussten wir, dass wir Mittel an die Hand bekämen, um interessante Dinge zu tun. Wir sind auf das Angebot eingegangen, aber wir wollten nicht auf ein Auto hin arbeiten, sondern auf etwas rund um Bewegung und Mobilität. Wir haben für eine Metapher gearbeitet: eine Bewegung, die viel sanfter und kontemplativer ist. Wir müssen damit aufhören, über das Auto nur als Boliden, Macht, Status, Geschwindigkeit und Aggression zu sprechen…Mit unserer Installation Quiet Motion gehen wir gegen diesen Trend vor.  Wir wollten gerne auch etwas Monumentales schaffen, das nicht in einem Museum landen würde. Ich war sehr begeistert über diese Chance, nachdem ich einen Dokumentarfilm über Nikki de Saint Phalle gesehen habe. Es würde mir auch gefallen, wenn mein Werk noch viel mehr im Bereich eines weniger privilegierten und reichen Publikums läge.

Als eine Art Gegengewicht zu den prestigeträchtigen Ausstellungen, von denen die meisten anderen Designer nur träumen können. Was fanden Sie am schönsten an Momentané, ihrer letzten Ausstellung in Paris?

Ich mag es ehr, eine Ausstellung zu veranstalten, sie ist ein außergewöhnliches Instrument, ein prächtiges Kommunikationsmittel. Wir sehen unsere Objekte gerne als Schauspieler, als Figur. Wir setzen sie ein, um so gut wie möglich herüberzubringen, wofür wir stehen, aber nicht auf eine didaktische Art. Ich hasse Didaktik. In den größten Raum des historischen Museumsbaus haben wir ein Zelt eingebaut, um alles leichter und luftiger zu machen. Alle unsere Prinzipien, um mit Textilwänden zu arbeiten, spielen hier eine Rolle. Es ist wirklich eine Frage der Atmosphäre, des Erlebnisses: Fühlt sich etwas hart oder weich an, was bringt es mit, welche Gefühle? Dass alles technisch korrekt und gut realisiert wird, das der Preis der Objekte stimmt, das scheint für uns die normalste Sache der Welt zu sein. So muss es sein. Der Kern der Designdisziplin ist für uns wirklich die Erfahrung, das Gefühl, die Atmosphäre.

Was ist das nächste spannende Projekt?

Wir haben einen Leuchter für Schloss Versailles entworfen. Ein permanentes Objekt für die Eingangshalle des Schlosses. Das Publikum wird dieses neue Werk an diesem bedeutsamen historischen Ort im November kennenlernen.

Das Gespräch führte Chris Meplon. Aus dem Niederländischen von Rolf Brockschmidt

Chris Meplon

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