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Keine Glücksgefühle, Suizidgedanken und Selbstzweifel: Die Wochenbettdepression ist nicht zu unterschätzen.

© McPHOTO / vario images

Wochenbettdepression: „Ich konnte meinen Sohn nicht küssen“

Ein noch immer oft unterschätztes Phänomen: Mütter, die ihr Neugeborenes nicht lieben. Tatsächlich handelt es sich aber um eine psychische Störung. Die Wochenbettdepression setzt teilweise schon während der Schwangerschaft ein. Mit einer Psychotherapie kann betroffenen Frauen geholfen werden.

„Es war schrecklich für mich“, sagt Beatrix Nitze. Sie spricht von einer Zeit, die noch nicht weit zurückliegt. Sie litt an einer Wochenbettdepression. Vor ziemlich genau einem Jahr war es, in den letzten Wochen vor der Geburt ihres dritten Kindes. Alle haben der jungen Frau da gesagt, wie sehr sie sich für die Familie freuen. Auch ihr Mann war in Hochstimmung – es war schließlich ein Wunschkind, und alles schien glatt zu laufen. „Doch diesmal war alles anders, ich freute mich nicht auf das Kind, ich hatte nicht das Bedürfnis, meinen Bauch zu streicheln wie bei den beiden ersten Schwangerschaften.“ Die junge Frau aus Rüdersdorf schämte sich, dass die guten Gefühle fehlten. Und sie hoffte inständig, dass sich das bald ändern würde.

Doch auch nach der Geburt ihres Sohnes ließen die Glücksgefühle, die alle Welt von einer jungen Mutter erwartet, auf sich warten. „Ich konnte meinen Sohn nicht liebkosen, ich habe ihn nicht geküsst. Ich habe ihn zwar gestillt, aber eigentlich war mir auch das zu viel.“ Dafür wurde sie die zerstörerischen Bilder nicht los, die ihr immer wieder durch den Kopf gingen: Dass sie dem Baby die Decke über den Kopf ziehen könnte. Oder lieber selbst von einem Turm springt, ehe sie dem Kind etwas antun würde. Sie war drauf und dran. Trotzdem hat sie lange die Fassade gewahrt. Schließlich ist Beatrix Nitze gelernte Pflegekraft. Und Mutter von zwei Kindern, sechs und zwölf Jahre alt. Eine gestandene Frau von heute 38 Jahren, mitten im Leben stehend, die lieber hilft, als sich von anderen helfen zu lassen. Als ihr Mann trotzdem etwas merkte, konnte sie endlich von den Suizidgedanken sprechen.

Zum Glück im Unglück ging dann alles ziemlich schnell: Beatrix Nitze begann eine Psychotherapie, ein Psychiater verschrieb ihr ein Antidepressivum. „Sonst hätte ich mich nicht öffnen können“, sagt sie. Der jungen Mutter, deren Baby jetzt neun Monate alt ist, geht es wieder recht gut. So gut, dass sie es genießen kann, ihren kleinen Sohn zu knuddeln. Dass sie wahrnimmt, wie gut er riecht und wie weich sich seine Haut anfühlt.

Studien zufolge hat mindestens jede zehnte junge Mutter nach der Geburt unter einer Depression zu leiden. Postpartale (nach der Entbindung kommende) Depression sagen Mediziner, und das trifft es genauer als der deutsche Ausdruck „Wochenbettdepression“. Denn meist dauert die Niedergeschlagenheit länger als die sechswöchige Phase des „Wochenbetts“. Weil seelische Probleme schon vorher beginnen und sich auch in Angst, Panik oder psychotischen Symptomen äußern können, heißt der medizinische Überbegriff peripartale (also: um die Entbindung herumliegende) psychische Störung.

Wochenbettdepression - Schlafmangel, keine Freunde und Selbstvorwürfe

Die Hälfte aller Wöchnerinnen kennt zumindest den „Baby Blues“ zwei bis vier Tage nach dem freudigen Ereignis. Der sprichwörtliche „Heultag“, dessen biochemische Grundlage der rapide Abfall der Hormone Östrogen und Progesteron nach Ende der Schwangerschaft bildet, macht jedoch meist seinem Namen Ehre: Er dauert wirklich nur ein bis zwei Tage.

Anders die postpartale Depression: Die Betroffenen fühlen sich nicht nur erschöpft und müde – ein Zustand, den zahlreiche junge Eltern kennen, schon wegen des Schlafmangels. Sie können auch keine Freude über das Baby empfinden. Es kommt ihnen sogar fremd vor, nicht zu ihrem Leben gehörig, obwohl es zuvor doch meist heiß ersehnt war. Selbst Frauen, die jahrelang auf eine Schwangerschaft warten mussten, können unter dieser Störung leiden, die sich schon während der Schwangerschaft, aber auch erst Monate nach der Entbindung einstellen kann. Weil es oft noch dauert, bis sich die Frauen offenbaren und Hilfe suchen, werden Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit manchmal zum Dauerzustand, zur chronischen Depression. Zumal es nochmals Zeit verschlingt, einen Platz bei einem Psychotherapeuten mit Kassenzulassung zu bekommen.

Beatrix Nitze kam glücklicherweise schnell zu ihrer Psychotherapeutin Eva Martin. Die Diplom-Psychologin ist privat niedergelassen, doch die Krankenkassen erstatten solche dringenden Therapien auf Antrag. Martin hat Erfahrung mit der Behandlung postpartaler Depressionen, sie arbeitet oft Hand in Hand mit Hebammen. Denen fällt die Niedergeschlagenheit junger Mütter häufig zuerst auf. Zeigt sie sich schon während der Schwangerschaft, ist auch die Aufmerksamkeit der betreuenden Frauenärzte gefragt. Thomas Bicker ist niedergelassener Frauenarzt und Psychotherapeut in Frankfurt am Main. Er behandelt seit 20 Jahren regelmäßig Patientinnen mit postpartaler Depression – Bankerinnen, Flugbegleiterinnen, Friseurinnen, Arbeitslose. Nach dem Erstgespräch führt er standardisierte Tests durch, darunter die weltweit anerkannte „Edinburgh Postnatal Depression Scale“, die zwar „postnatal“ (aufs Kind bezogen) im Titel trägt, tatsächlich aber „postpartale“ (auf die Mutter bezogene) Störungen untersucht und sich in zahlreichen Studien zur Abgrenzung des Krankheitsbildes bewährt hat. Bei der Selbsthilfeorganisation „Schatten & Licht“ kann man eine deutsche Kurzversion herunterladen.

Therapie für eine nachhaltige Bindung

Wenn sich die Mütter helfen lassen, helfen sie damit auch ihrem Kind. Die Psychologin Corinna Reck von der Uniklinik Heidelberg und ihre Arbeitsgruppe haben Videoaufzeichnungen von Müttern und ihren Babys gemacht. Sie konnten zeigen, dass Mütter mit einer Depression weniger zugewandt und sensibel mit ihrem Kind umgehen als eine gesunde Kontrollgruppe. Eine Therapie kann aber viel daran ändern – und die Bindung zwischen beiden nachhaltig festigen. Beatrix Nitze bekennt sich heute offen zu ihrer langwierigen Depression, die ihr viele Monate lang extrem peinlich war. „Mir ist es wichtig, dass Frauen, die in derselben Lage sind wie ich, erfahren, dass es sich dabei um eine Erkrankung handelt, dass sie Hilfe bekommen können und dass sie keine Schuldgefühle haben müssen.“

Informationen im Internet unter

www.schatten-und-licht.de

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