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Ein Lehrer arbeitet mit einem Jugendlichen an einem Computerbildschirm.

© Tobias Hase/picture alliance/dpa

Willkommensklassen für Flüchtlinge: Schwieriger Start an deutschen Schulen

Flüchtlingskinder haben ein Recht auf Unterricht. Doch vieles könnte besser laufen: Junge Flüchtlinge warten lange auf einen Schulplatz, es gibt kaum passende Schulbücher.

Marlis Tepe war viel unterwegs in den letzten Wochen. Quer durch Deutschland reiste die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW. Sie wollte wissen: Welche Ideen haben Lehrer und Politiker im ganzen Land, um Flüchtlingskindern den Start ins deutsche Bildungssystem zu erleichtern? Welche Schule, welches Bundesland hat die besten Konzepte? Tepe besuchte Willkommensklassen in Berlin, Übergangsklassen in Bayern und Sprachlernklassen in Niedersachsen. Wo funktioniert der Unterricht für Flüchtlingskinder am besten?

Die Frage drängt, denn die Zahl der Flüchtlingskinder steigt stetig: 173 000 Asylanträge für Kinder und Jugendliche wurden im Jahr 2014 gestellt, um 58 Prozent mehr als noch 2013. Sie alle haben das Recht darauf, in Deutschland eine Schule zu besuchen, das ist in der UN-Kinderrechtskonvention geregelt. Doch das Grundrecht auf einen Schulbesuch wird in jedem Bundesland unterschiedlich ausgelegt. „Der Verteilungszufall entscheidet über den Bildungserfolg“, sagt Tobias Klaus von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.

Kein bundesweites Gesetz regelt die Beschulung

Bildung ist in Deutschland Ländersache. Kein bundesweit gültiges Gesetz regelt die Beschulung von Flüchtlingskindern. Jedes Bundesland entscheidet selbst über Schülerhöchstzahlen, Lehrerweiterbildung und Sprachförderung. Auch wie lange Flüchtlingskinder überhaupt schulpflichtig sind, ist in jedem Land anders geregelt.

Die Bildungsungerechtigkeiten beginnen schon beim Schulstart: Mancherorts bekommen Neuankömmlinge schnell einen Platz in einer Willkommensklasse, anderenorts gibt es lange Wartezeiten: Erst nach drei bis sieben Monaten, oft auch später, dürfen Kinder und Jugendliche lernen, stellte eine Studie des Bundesfachverbands Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kürzlich fest.

In manchen Bezirken von Berlin werden immer wieder Flüchtlingskinder abgelehnt, weil es nicht genügend Plätze in den überfüllten Willkommensklassen gibt. In Kreuzberg dauert es hingegen meist nicht länger als einen Monat, bis ein Platz frei ist. In ländlichen Gebieten kommen Integrationsklassen und Sprachkurse oft gar nicht erst zustande, weil es zu wenig Nachfrage gibt. Manche Unterkünfte für Asylbewerber liegen viele Kilometer weit entfernt von der nächsten Schule.

Wie unterrichtet man so heterogene Lerngruppen?

Ist der Schulplatz sicher, tauchen die drängenden Fragen der Lehrer auf: Wie unterrichtet man eine Lerngruppe, in der die Schüler aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, gar nicht oder kaum Deutsch sprechen, teilweise nicht alphabetisiert und oft noch von ihrer Flucht traumatisiert sind?

Besuch bei einem, der es wissen muss: Michael Stenger gründete vor 15 Jahren die Schlau-Schule in München, in der jugendliche Flüchtlinge ihren Schulabschluss nachholen können. Während Lehrer in Hamburg-Wilhelmsburg, Berlin-Kreuzberg oder München-Hasenbergl noch nach einer Formel suchen, wie sie ihre Schüler zum Abschluss führen können, scheint Michael Stenger sie schon gefunden zu haben. 95 Prozent seiner Schüler haben Erfolg, sagt er.

Unterrichtet wird an der Münchner Schule in kleinen Klassen, analog zum Fächerkanon der bayerischen Haupt- und Mittelschulen. Die Schüler werden nach einem Einstufungstest direkt auf ihrem Wissensniveau abgeholt. Wer länger zum Deutschlernen braucht, bekommt mehr Unterstützung und individuelle Förderung. Das gemeinsame Ziel: so schnell wie möglich ins deutsche Regelschul- oder Ausbildungssystem einzusteigen. Zwei bis drei Jahre dauere das in den meisten Fällen. In öffentlichen Schulen haben Flüchtlingskinder meist nur ein Jahr Zeit, ehe sie in eine Regelklasse kommen. Für ihr Konzept hat die Schlau-Schule 2014 den Deutschen Schulpreis gewonnen.

Ein eigens entwickeltes Sprachlernbuch gibt es noch nicht

Man könnte meinen: Eine Initiative, an der sich auch andere Schulen ein Beispiel nehmen könnten. Doch Schulleiter Stenger fühlt sich mit seiner Expertise und seinen Erfahrungen zu wenig gehört. „Alle Bundesländer kochen ihr eigenes Süppchen“, ärgert er sich. „Ich wünsche mir einen besseren Austausch untereinander.“ Wer hat gute Unterrichtsmaterialien, wer hat das beste pädagogische Konzept? Schon jetzt bietet die Schlau-Schule bundesweit Weiterbildungen für Lehrkräfte an und teilt ihr Know-How bei Kongressen. Bei einem Thema sei Austausch besonders gefragt: bei der Frage nach geeigneten Unterrichtsmaterialien für die Integrationsklassen. „Die Situation ist katastrophal“, sagt Stenger.

Ein Anruf beim Cornelsen Schulverlag in Berlin. Ja, es stimme, die Verlage würden zwar bereits Konzepte für die Migrationsgesellschaft entwickeln, das perfekte Buch für Willkommensklassen gebe es aber noch nicht. „Die Situation in den Klassen ist sehr komplex, das decken die Verlage noch nicht ab“, sagt Verlagssprecherin Irina Groh. In Integrationsklassen werden schließlich Kinder unterschiedlichen Alters zusammen unterrichtet, sie kommen aus den verschiedensten Ländern. Manche haben in ihrer Heimat schon Englisch gelernt, andere haben noch nie eine Schule besucht.

Unterrichtet werden sie oft von Quereinsteigern - ohne Vorbereitung

Bei Cornelsen suche man fieberhaft nach Antworten, sagt Groh. Eine Website ist im Aufbau, auf der Schulbuchliteratur für Integrationsklassen gesammelt werde. Das preisgekrönte Mathematikbuch „eins zwei drei“ und das Deutschbuch „der die das“ richten sich speziell an Schüler mit Sprachförderbedarf. Auch Bildkarten zum Deutschlernen werden angeboten.

In der Praxis zeigt sich aber, dass Lehrer in Willkommensklassen ihre Unterrichtsmaterialien immer noch mühsam zusammensuchen müssen. Und das, wo ihr Alltag ohnehin schon strapaziös ist. Weil der Bedarf an Lehrkräften so groß ist, werden sie häufig als Quereinsteiger berufen und ins kalte Wasser geschmissen. „Fortbildungen finden oft erst dann statt, wenn die Lehrer bereits im Unterricht stehen“, sagt Robin Schulz-Algie, der in seiner Master-Arbeit die Beschulung junger Flüchtlinge in Berlin untersucht hat. Die Wartelisten für Fortbildungen seien lang. Außerdem könnten die Lehrkräfte auf kein festes Curriculum zurückgreifen. „So ist Qualitätssicherung schwierig.“

Nach einem Jahr in die Regelklasse - mit vielen Problemen

GEW-Chefin Marlis Tepe hat auf ihrer Reise durch Willkommensklassen auch mit vielen Lehrern gesprochen. Gut ausgebildete Lehrkräfte mit interkulturellem Wissen seien sehr gesucht. „Ohne Vorbereitung sind viele Lehrer überfordert“, sagt Tepe. Die GEW mahnt die Länder, Fortbildungen nicht nur für Lehrer anzubieten, die auch wirklich in Willkommensklassen unterrichten, sondern das gesamte Lehrpersonal einzubeziehen. Schließlich sei es das Ziel, die Flüchtlingskinder nach einem Jahr in den Regelunterricht zu integrieren. Dann seien die interkulturellen Kompetenzen aller Lehrer gefragt. „Deutsch als Zweitsprache muss als Querschnittsmaterie gelehrt werden und auch interkulturelles Wissen beinhalten“, sagt Marlis Tepe.

Schule muss außerdem weiter gedacht werden. Der Schultag ist mit dem Pausengong nicht zu Ende. Zur Schule zu gehen, bedeutet auch, Hausaufgaben mit nach Hause zu nehmen, daheim Vokabeln zu büffeln und Referate vorzubereiten. Genau das gestaltet sich bei Flüchtlingskindern oft als sehr schwierig, sagt Tobias Klaus von Pro Asyl: „Die Unterbringungssituation von Flüchtlingskindern ist oft ein immenses Hindernis beim Lernen. Viele haben ein Lernumfeld, das von Lärm und Enge geprägt ist.“ In Mehrbettzimmern sei oft kein Platz zum Lernen, nachts fiele es vielen Kindern schwer zu schlafen.

Die Schüler sind hochmotiviert, Deutsch zu lernen

Dass Flüchtlingskinder im ersten Schuljahr nicht gemeinsam mit deutschen Kindern unterrichtet werden, wird von vielen Seiten kritisiert: Das sei Segregation und daher diskriminierend. Robin Schulz-Algie hat in seinen Interviews genau das Gegenteil gehört: Viele Schüler mit Fluchterfahrung seien überfordert, sobald sie in die Regelklassen kommen. Schulz-Algie glaubt, dass der Übergang anders gestaltet werden müsse. „Es darf keinen Cut geben, sondern einen stufenweisen Übergang, mit intensiver Begleitung“, sagt der Kinderrechtler.

Marlis Tepe hat mittlerweile ihre Reise durch das deutsche Bildungssystem abgeschlossen. Vor allem zwei Bundesländer hätten sich verdient gemacht. „Schleswig-Holstein hat viel Geld in die Hand genommen und 220 Stellen geschaffen, um auch in den Erstaufnahmezentren und in den Schulen mehr Unterricht für Flüchtlinge anbieten zu können“, sagt Tepe. Bayern habe aus seiner Erfahrung mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gelernt, die oft ohne Ausbildung nach Deutschland kommen. Das Ende der Schulpflicht ist in Bayern deshalb am weitesten gefasst. Bis zum Alter von 25 Jahren dürfen junge Flüchtlinge hier eine Schule besuchen.

Eines steht für Tepe nach ihrer Reise jedenfalls fest: Motivieren müssen die Lehrer ihre Schüler nicht mehr. „Wie polnische, syrische, kurdische und albanische Kinder mit Feuereifer gemeinsam Deutsch lernen, hat mich tief beeindruckt“, sagt Tepe. Wie Politiker ihr Modell getauft haben, ob Willkommensklassen, Übergangsklassen oder Sprachlernklassen, ist dann am Ende gar nicht mehr so wichtig.

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