zum Hauptinhalt
Alltagshelfer. Gesichter erkennen, Straßenschilder lesen, in den richtigen Bus steigen: In Situationen, in denen die Braille-Schrift an Grenzen stößt, kann Orcam Auskunft geben.

© promo

Welt-Braille-Tag: Mehr als Schrift

Das tastbare Braille-Alphabet ist für Blinde und Sehbehinderte ein Schlüssel zum Wissen der Welt. Forscher entwickeln nun neue Hilfsmittel, die sie ergänzen.

Wer nach einer Schachtel mit Kopfschmerztabletten greift oder im Fahrstuhl einen der Knöpfe bedient, nimmt die Zeichen aus bis zu sechs hervorstehenden Punkten meist kaum wahr. Für Blinde und Sehbehinderte dagegen ist dieses fast 200 Jahre alte fühlbare Alphabet nicht nur eine Hilfe im Alltag, sondern ist ein Schlüssel zum Wissen der Welt. Die Braille-Schrift sollte auch in Zukunft nicht vernachlässigt werden, mahnt die Weltblindenunion anlässlich des heutigen Welt-Braille-Tages. Trotz aller technischen Neuerungen.

Dass neue Hilfsmittel die Blindenschrift durchaus ergänzen können, zeigt eine „intelligente Brille“ des israelischen Herstellers Orcam, die seit Kurzem in Deutschland auf dem Markt ist. Es handelt sich um eine kleine Kamera, die am Brillenbügel montiert wird. Per Kabel gehen die Bilddaten an einen Computer, der in die Jacketttasche oder den Hosenbund passt, und der in Sprache übersetzt, was die Kamera „sieht“: Texte, Gegenstände, bekannte Gesichter. „Man muss nur mit dem Finger antippen, was man vorgelesen haben möchte“, sagt Elad Serfaty von Orcam. Tatsächlich, ein Fingertipp auf ein bedrucktes Blatt Papier, ein Etikett oder eine Visitenkarte genügt und die Computerstimme spricht.

Wer noch etwas Sehkraft hat, kann das Kamerasystem besser anwenden

„Weil die Kamera an der Brille befestigt ist, ist sie perfekt ausgerichtet. Das ermöglicht den intuitiven Einsatz im Alltag“, sagt Serfaty. „Sehende machen sich das meist nicht bewusst: Jede Sekunde prasseln unzählige optische Reize auf uns ein. Das Gehirn hat gelernt, sich auf das Wichtige zu konzentrieren.“ Das müsse das technische System ebenfalls leisten: wichtige Informationen weitergeben und Unwichtiges weglassen, um den Nutzer nicht zu verwirren. Die Entwickler arbeiteten ständig an Verbesserungen, sagt Serfaty. So soll die nächste Software-Version – die man einfach herunterladen kann – eine Hinderniserkennung enthalten. Wenige Augenblicke bevor der Nutzer gegen einen Laternenpfahl zu laufen droht, gibt sie einen Hinweis. „Auch hier müssen wir die richtige Balance zwischen zu vielen und zu wenigen Informationen finden.“

Das Interesse an solchen Produkten sei grundsätzlich groß, sagt Gerd Schwesig, Hilfsmittelberater beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. „Im Gegensatz zu Bildschirm-Lesegeräten, die es schon länger gibt, ist bei Orcam der mobile Einsatz vorteilhaft.“ Wenn auch die Anwendung je nach Nutzer nicht ganz so einfach ist. „Wer noch über etwas Sehkraft verfügt, dem fällt es leichter, die Brille mit Kamera auf bestimmte Objekte oder Personen zu richten, für völlig Erblindete ist das schwieriger“, sagt er. Je nach Fähigkeit müsse das trainiert werden.

Die neuen Hilfsmittel sind teuer

Auch der Preis ist üppig. Je nach Ausstattung kostet das Gerät bis zu 5000 Euro, die bisher nicht von der Krankenversicherung übernommen werden. Für viele Anwendungen gebe es Alternativen, sagt Schwesig und nennt Smartphones. Dank verschiedener Apps sei es möglich, das Gerät unauffällig über Speisekarten, Fahrpläne oder verpackte Lebensmittel zu führen und sich das Gedruckte vorlesen zu lassen – was jedoch nicht so komfortabel sei wie eine Brille mit Kamera.

„Der große Vorteil von Orcam ist die Gesichtserkennung“, sagt er. Ist eine Person gespeichert – übrigens nicht als Bild, sondern aus Datenschutzgründen codiert in Ziffern –, kann sie jederzeit erkannt werden. Sehbehinderte tun das meist über die Stimme Das funktioniert allerdings nicht, wenn beispielsweise jemand den Raum betritt. „Im Sinne der Kosten-Nutzen-Rechnung muss jeder für sich entscheiden, ob sich das System lohnt“, findet Schwesig.

In einer ähnlichen Preisklasse soll das tastbare, mobile Display liegen, das Elisabeth Wilhelm von der ETH Zürich ersonnen hat: Die Grundlagen schuf sie während ihrer Doktorarbeit am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und wurde dafür im letzten Jahr mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichnet.

Die winzigen Wasserkanäle enden an einer flexiblen Membran

Zwar gibt es bereits Bildschirme, auf denen einfache Grafiken ertastet werden können. Nur funktionieren sie mit viel Mechanik sowie piezoelektrischen Elementen und sind daher nicht nur sehr schwer, sondern mit rund 50 000 Euro für die allermeisten Blinden unerschwinglich. Wilhelms Prototyp kommt dagegen mit Plastik, einigen Schläuchen, Wasser, Wachs und einer Membran aus. Er ist nur wenig schwerer als ein Tablet-PC und damit gut zu transportieren. Und der anvisierte Preis liegt bei rund 3000 Euro.

Wer ein Display für Blinde konstruiert, muss sich zuerst von der Auflösung herkömmlicher Geräte verabschieden. So finden sich auf dem Display eines Tablet-PCs leicht mehr als eine Million Bildpunkte oder Pixel. Ein Finger kann nur erheblich gröbere Strukturen als ein sehendes Auge ertasten. Ihm genügen 9000 tastbare Pixel, die als „Taxel“ bezeichnet werden.

Jedes Taxel ist nichts anderes als ein winziger Wasserkanal, der an einer flexiblen Membran endet. Drückt eine kleine Pumpe die Flüssigkeit auf das Display zu, wölbt sich die Folie über dem Kanal einen halben Millimeter nach oben. Diese winzigen Hügel kann ein Finger noch gut wahrnehmen.

Jedes tastbare Pixel braucht einen Schalter

Diese Taxel müssen sich jeweils ein- und ausschalten lassen. Dafür hat Wilhelm direkt unter die Folie ein kleines Schlauchstück eingebaut, das mit Kerzenwachs gefüllt ist und den Kanal verschließt. Wird das Wachs auf über 50 Grad erhitzt, schmilzt es. Das flüssige Wachs kann den Wasserdruck an das Display weitergeben und das Taxel wölbt sich auf. Wird die Heizung ausgeschaltet, erstarrt das Wachs wieder und das Taxel bleibt tastbar, auch wenn die Pumpe ausgeschaltet wird, um Energie zu sparen. Erst wenn das Wachs ohne laufende Pumpe wieder geschmolzen wird, wölben die Taxel sich zurück und die nächste Abbildung kann geformt werden.

Natürlich könnte man das Wachs mit Heizdrähten erwärmen, durch die Strom fließen kann. „Eine solche Konstruktion käme allerdings sehr teuer“, sagt Wilhelm. Stattdessen hat sie Ruß in das Wachs gemischt. Fließt elektrischer Strom zum Kanal, leitet der Ruß ihn weiter und heizt sich selbst genau wie das Wachs in seiner Umgebung auf. Nach rund zehn Sekunden ist das Wachs flüssig und die Taxel formen das Bild, das die Elektronik überträgt. Derzeit wird der Prototyp in Karlsruhe weiterentwickelt. In wenigen Jahren könnte er es zur Marktreife bringen.

Zur Startseite