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Ursprünge in der Türkei: Die Deutsche Sprache kommt aus Anatolien

Die Wiege der indoeuropäischen Sprachen stand in der heutigen Türkei, besagt eine neue Studie. Sie steht im Widerspruch zur Theorie vieler historischer Linguisten.

Es war einmal, in grauer Vorzeit, ein kleines Volk. Wir wissen fast nichts über seine Angehörigen. Und trotzdem beeinflussen sie das Leben von etwa drei Milliarden Menschen, die heute zwischen Island und Sri Lanka siedeln. Denn sie verständigten sich in einer Sprache, aus der sich mehr als 400 indoeuropäische Sprachen entwickelten. Die Krux jedoch ist: Obwohl historische Linguisten seit etwa 200 Jahren ihre Fährte verfolgen und sorgfältig Sprachstammbäume zeichnen, ist noch unklar, wer diese Menschen waren und wo sie wohnten. Nun treten Naturwissenschaftler auf den Plan und verkünden siegesgewiss, dass ihre Methoden das vertrackte Rätsel besser lösen können. Im Fachblatt „Science“ erscheint heute eine solche Studie und wird vermutlich den Streit zwischen Sprach- und Naturwissenschaftlern erneut entzünden.

Zwei Thesen dominieren die Debatte und geben auf Wo, Wann und Warum eine unterschiedliche Antwort. Die Wiege der indoeuropäischen Sprache habe vor zirka 6000 Jahren irgendwo nördlich des Kaspischen und des Schwarzen Meeres in der russischen Steppe gestanden, behauptet die Mehrzahl der historischen Linguisten gemeinsam mit etlichen Archäologen. Ein kriegerisches Nomadenvolk der Kurgan-Kultur habe die proto-indoeuropäische Sprache auf dem Pferderücken verbreitet, im Gepäck zwei wichtige Erfindungen: das Rad und die Zähmung des Pferdes.

Die naturwissenschaftliche Konkurrenz favorisiert die friedliche Gegenthese und verortet die Urheimat der indoeuropäischen Sprachen in Anatolien. Die Bauern der Jungsteinzeit hätten allmählich ihre Felder ausgedehnt und so vor 8000 bis 9500 Jahren nicht nur den Lebensstil der Jäger und Sammler verdrängt, sondern auch deren Sprachen. Das untermauert auch die Studie, die Russel Gray und Quentin Atkinson von der Universität von Auckland in Neuseeland und ihre Kollegen nun in „Science“ veröffentlichen.

Die Forscher haben sich ein statistisches Modell aus der Evolutionsbiologie geborgt, das normalerweise dazu dient, den Verlauf von Grippeepidemien vorherzusagen und sie zu einem Ausbruchsort zurückzuverfolgen. Statt des Viren-Erbguts speisten sie Kognate ein, ähnlich klingende Wörter wie „mother“, „Mutter“ oder „madre“, die einen gemeinsamen Ursprung haben. Für 200 Bedeutungen wie Namen für Verwandte, Körperteile oder einfache Verben stellten sie in 103 Sprachen (20 davon längst ausgestorben) Wortvarianten mit gemeinsamem Ursprung zusammen. Und statt der Verbreitung der Viren gaben sie die derzeitige Verbreitung der jeweiligen Sprachen oder bekannte Daten aus der Geschichte ein. So konnten sie die Entstehung der indoeuropäischen Sprachen über Jahrtausende bis ins jungsteinzeitliche Anatolien zurückverfolgen. Ein Algorithmus lieferte die wahrscheinlichsten Stammbaum-Varianten – samt Datierung und geografischer Ausbreitung. Keiner der vielen möglichen Stammbäume hatte seine Wurzeln in der russischen Steppe.

Die Heimat der indoeuropäischen Sprachen zu finden, sei keine akademische Fingerübung, betont der Linguist Paul Heggarty vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. „Schließlich ist es die größte Sprachfamilie weltweit, sie wurde am besten erforscht und dokumentiert“, sagt er. Immer wieder diene sie als Messlatte für die Entwicklung anderer Sprachfamilien. „Sollte das Metermaß der Messlatte falsch sein, hätte das enorme Auswirkungen. In dem Fall müssen wir über Zeitabfolgen und die Bedeutung der Landwirtschaft bei der Verbreitung von Sprachen neu nachdenken.“

Viele historische Linguisten sind dazu nicht bereit. Bereits 2003 brach ein Sturm der Entrüstung los, als Gray und Atkinson eine erste Studie mit ähnlicher Methode in „Nature“ veröffentlichten. Schon das damals benutzte evolutionsbiologische Modell datierte die Entstehung der indoeuropäischen Ursprache so, dass nur die anatolischen Bauern als ihre Sprecher infrage kamen, auch wenn die Methode noch keine geografische Verbreitung nachzeichnen konnte.

„Das kann nicht stimmen!“, tönte es damals aus allen Ecken. Die Datenbanken, die Gray und seine Kollegen benutzten, seien veraltet. Sich nur auf Vokabular zu verlassen, sei ohnehin fahrlässig. Und überhaupt: Die Analogie von der Entstehung der Arten zur Entstehung der Sprachen vereinfache viel zu stark. Einige setzten die neuen Methoden gleich mit den quantitativen Methoden, die die Linguisten bereits in den 50er Jahren ausprobiert und wegen hanebüchener Resultate wieder verworfen hatten.

„Es gab Missverständnisse auf beiden Seiten“, sagt Heggarty. Viele Linguisten kannten sich mit den komplizierten Methoden der Evolutionsbiologen nicht aus und suchten nach Angriffspunkten, um ihre Arbeit zu verteidigen. Die Naturwissenschaftler dagegen behandelten linguistische Daten zu oft wie abgesicherte Fakten, auch wenn hinter jedem Kognat jahrzehntelange Forschung und etliche Interpretationen steckten, die genauso gut wieder revidiert werden können.

Die Frühgeschichte des Menschen funktioniere nicht wie ein Uhrwerk, sagt Heggarty: „Dabei geht es um Plausibilität, nicht um ja oder nein.“ Trotzdem dürften die Verfechter der Steppen-These in Erklärungsnot kommen. „Die Modelle der Biologen werden besser.“

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