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Drei erwachsene Amish und ein Kind stehen mit dem Rücken zum Betrachter an einem Zaun.

© picture alliance / ASSOCIATED PR

Übergewicht und Fettleibigkeit: Das Amish-Experiment

Weltweit gibt es immer mehr Übergewichtige. Ob Gene oder Genusssucht die Ursache sind, könnten Versuchsreihen mit freiwilligen Probanden aus der US-amerikanischen Gemeinschaft der Amish zeigen.

Nach 83 Tagen auf See dockte 1737 die „Charming Nancy“ im Hafen von Philadelphia an. Von Bord gingen rund 500 deutschsprachige Flüchtlinge aus der Pfalz, dem Elsass, Baden und der Schweiz. In der Neuen Welt suchten die „Amish Leit“, die in ihrer Heimat als Ketzer brutal verfolgt wurden, Schutz, um ungestört ihren Glauben und asketischen Lebensstil praktizieren zu können. Seit nunmehr 14 Generationen leben die Nachfahren dieser Exilanten im Lancaster County, einer schwarzwaldähnlichen Hügellandschaft in Pennsylvania. Von „den Englischen“, wie alle Nicht-Amischen genannt werden, sondern sie sich ab, heiraten nur untereinander, produzieren ihre Lebensmittel mit harter Feldarbeit selbst, verzichten auf Autos, Telefon und Strom aus der Steckdose. Sie sind all das, was eine moderne, technologieaffine Gesellschaft als rückständig bezeichnet – und dennoch könnten ausgerechnet die Amish dazu beitragen, das Rätsel der weltweiten Fettsucht-Epidemie zu lösen: Sind die Gene oder der Lebensstil schuld daran, dass immer mehr Menschen dick werden?

In Deutschland sind einer Studie zufolge 64 Prozent der Männer übergewichtig

Erst kürzlich haben Forscher im Fachblatt „Lancet“ ein „beunruhigendes Bild von einem substanziellen, weltweiten Anstieg der Übergewichtigkeit“ skizziert. Während 1980 noch 857 Millionen Menschen als übergewichtig galten, sind es heute schätzungsweise 2,1 Milliarden. In den USA sind inzwischen 71 Prozent der Männer und 62 Prozent der Frauen zu dick, und auch Deutschland bekommt in der Studie mit 64 Prozent dickbäuchigen Männern und 49 Prozent übergewichtigen Frauen sein Fett weg. Auch auf den polynesischen Inseln wie Tonga sei bereits über die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig.

Gerade die Übergewichtigkeit vieler Polynesier deutet darauf hin, dass nicht allein der Ernährungsstil Ursache der Fettsucht-Epidemie sein kann. Tausende von Jahren war es für die polynesischen Seefahrervölker überlebenswichtig, lange Zeit mit wenig Nahrung zu überdauern. Vorfahren, deren Gene verschwenderisch mit Nährstoffen umgingen, überlebten die langen Überfahrten zwischen den Inseln Ozeaniens nicht. Nur solche Polynesier konnten sich fortpflanzen, deren Gene in guten Zeiten besonders effektiv Reserven in Form von Fettpolstern anlegen konnten. Doch eben diese Gene sind nun angesichts von Kalorien im Überfluss ein Programm zum Dickwerden. Doch es gibt auch eine andere Erklärungsmöglichkeit: Vielleicht hat die Kultur der Polynesier, in der eher korpulente Männer wie Frauen als begehrenswert gelten, das Überleben in der Not gesichert – ohne nennenswerten Einfluss der Gene.

In der Normalbevölkerung variieren Essgewohnheiten und Erbgut stark

Wie aber lässt sich herausfinden, ob die Ursachen der Fettsucht eher in tradierten Verhaltensweisen oder in Genen begründet sind? Mit Studien an der Normalbevölkerung kommen die Forscher den Genvarianten, die zur Entstehung von Volkskrankheiten wie Fettsucht beitragen, nicht oder nur mühsam auf die Spur. Bei 2000 New Yorkern beispielsweise variieren nicht nur die Ess- und Lebensgewohnheiten der Probanden, auch ihr Erbgut spiegelt in der Regel den Multi-Kulti-Schmelztiegel wider. In dieser Vielfalt geht die dick machende Wirkung einzelner Genmutationen meist unter wie ein Tourist im Broadway-Gewimmel.

Im Labor stellen Forscher deshalb Standardbedingungen her: Sie verwenden Mäuse, die aufgrund von Inzucht genetisch fast identisch sind. Und sie verfüttern Standardportionen. So lässt sich herausfinden, ob eine tägliche Überdosis Zucker Mäuse des einen Gentyps dicker macht als Mäuse mit einer anderen Genvariante. Bei Menschen verbietet sich ein solches Experiment. Es sei denn, eine Gruppe von Menschen schafft die Bedingungen für dieses Experiment selbst und aus freien Stücken.

Warum die Amish für die Forschung zur Fettsucht so hilfreich sind

Weil sie seit Jahrhunderten nur untereinander heiraten, ist die genetische Vielfalt der Amish tatsächlich fast so eingeschränkt wie bei Labormäusen. „Aus Sicht der Genetiker besteht der Genpool der Amish im Grunde nur aus den etwa 50 Chromosomensätzen der Gründerfamilien“, sagt Alan Shuldiner. Der Forscher von der University of Maryland in Baltimore kam Anfang der neunziger Jahre auf die Idee, dieses natürliche „Amish-Experiment“ zu nutzen, um Genvarianten zu identifizieren, die Diabetes, Fettsucht oder Herzkreislauf-Erkrankungen fördern. Dabei erwies sich auch die „Ordnung“ als nützlich, das Regelwerk für das Zusammenleben der Amish. Darin wird festgelegt, wie ein gottgefälliges Leben aussehen soll. Das besteht nicht nur im Verzicht auf Autos, Handys oder andere technische Hilfsmittel. Auch die Lebens- und Ernährungsweise ist darin geregelt, die deshalb bei allen Amish sehr ähnlich ist. Ebenso praktisch für Forscher erweist sich das „Fisher Buch“, in dem die Stammbäume der Amish-Familien bis zurück ins 18. Jahrhundert aufgezeichnet sind, wodurch die Forscher die Vererbung bestimmter Genvarianten nachvollziehen können.

Forscher Shuldiner konnte viele Amish überzeugen, mitzuwirken

Bei seinen ersten Besuchen bei Amish-Familien wurde Shuldiner allerdings noch mit der Mistgabel vom Hof gejagt. Doch dann machte er die Bekanntschaft von Sadie, einer damals etwa 60-jährigen Amish-Frau. Mit ihrer Hilfe konnte der Forscher, der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammt, von Hof zu Hof pilgern. Seitdem hat sich ein Drittel der etwa 13 000 erwachsenen Amish Lancasters für Shuldiners Studien zur Verfügung gestellt.

Zuerst untersuchte er die Zuckerkrankheit in der Amish-Bevölkerung. Seine Überlegung: Wenn bei den Amish Diabetes in einigen Familien gehäuft auftritt, dann sollten sich dort auch die dafür verantwortlichen Genvarianten finden lassen. Sadies Verwandte waren die Ersten, die sich zu Shuldiners „Glucose-Toleranz-Test“ überreden ließen: ein großes Glas Orangenlimonade mit dem Zuckergehalt von anderthalb Dosen Cola zu trinken. Wenn zwei Stunden danach der Blutzuckergehalt nicht unter einen bestimmten Schwellenwert sinkt, dann besteht Verdacht auf Diabetes. Wie sich herausstellte, litt eine ganze Reihe von Sadies Familienmitgliedern an der Zuckerkrankheit, ohne es zu wissen. Da die Amish kaum zum Arzt gehen, wird Diabetes meist erst erkannt, wenn durch die langjährigen Blutzuckerschwankungen bereits Organschäden aufgetreten sind oder Blindheit droht. Inzwischen haben Shuldiners Studien dazu geführt, dass Diabetes bei den Amish früh genug erkannt und behandelt wird. Zum Beispiel in seiner „Amish Research Clinic“, wo die Amish nicht nur für Studien untersucht werden, sondern auch kostenlose ärztliche Hilfe bekommen.

Die Amish essen viel und fett - typisch deutsch

Bislang zeigen die Analysen, dass die Amish seltener Diabetes entwickeln als die übrige weiße Bevölkerung der USA. „Aber sie sind ebenso häufig übergewichtig“, sagt Shuldiner. „Sie essen viel und fett, also durchaus nicht immer gesund.“ Eigentlich bedeutet mehr Übergewicht auch mehr Diabetes, doch die Amish arbeiten körperlich in der Landwirtschaft und sind viel zu Fuß unterwegs. Das schütze sie zwar nicht vor Übergewicht, aber immerhin vor Diabetes, meint der Hormonspezialist. Und auch die Blutfettwerte sind trotz ihrer Ernährung, die noch immer typisch deutsch und fettreich ist, besser als in der amerikanischen Normalbevölkerung, sagt Shuldiner. Allerdings verlassen inzwischen immer mehr Amish die Farmen und wechseln zu Jobs, bei denen weniger körperliche Arbeit gefordert ist. „Wir könnten vielleicht in Zukunft auch bei den Amish mehr Diabetes-Fälle sehen“, befürchtet der Forscher.

Eine Genmutation verlangsamt den Abbau bestimmter Fette

Erst kürzlich entdeckte Shuldiner mit Hilfe der Amish eine Mutation in einem Gen namens HSL (hormonsensitive Lipase), das im Fettstoffwechsel eine Rolle spielt. Sie erhöht das Risiko, an Altersdiabetes zu erkranken. In der nicht-amischen Bevölkerung ist die Mutation mit 0,2 Prozent Häufigkeit zu selten, als dass eine Studie diese Wirkung hätte feststellen können. Bei den Amish trugen immerhin rund fünf Prozent der 2700 Studienteilnehmer die Mutation. Da Diabetes und auch Übergewicht durch das Zusammenspiel von vielen unterschiedlichen Genvarianten ausgelöst wird, tragen Shuldiners Amish-Studien dazu bei, die Liste dieser Gene zu vervollständigen. Erst dann lässt sich überprüfen, ob bei den Polynesiern die gleichen Genvarianten die Neigung zum Übergewicht verursachen oder ob es eher der Lebensstil ist, der zu überflüssigen Pfunden führt. Eine andere, eher positive Genmutation, die Shuldiner bei den Amish fand, verlangsamt den Abbau von bestimmten Fetten im Blut und schützt offenbar vor Herzkreislauferkrankungen.

Auch wenn die Amish 8000 Kilometer entfernt leben, genetisch sind sie eine Stichprobe aus dem Deutschen Genpool des 18. Jahrhunderts. Die Genvarianten der Amish, die Übergewicht und Diabetes fördern, dürften also auch im Mutterland der Emigranten existieren, sagt Shuldiner: „Es wäre interessant zu wissen, wie verbreitet diese Mutationen in der deutschen Gesamtbevölkerung sind.“

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