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Wissen: Stippvisite beim Neandertaler

Leipziger Forscher haben das Erbgut des Urmenschen in groben Zügen entziffert

Pünktlich zu Charles Darwins 200. Geburtstag haben Leipziger Forscher eine erste Version des Neandertaler-Erbguts präsentiert. Zusammen mit der US-amerikanischen Firma 454 Life Sciences entzifferten sie insgesamt mehr als drei Milliarden Buchstaben des Erbmaterials verschiedener Neandertaler. Daraus lasse sich mehr als 60 Prozent des Erbguts dieses Urmenschen erstellen, teilte das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie am Donnerstag mit. „Diese Sequenzen können nun mit den bereits sequenzierten Genomen von Menschen und Schimpansen verglichen werden“, sagte der Hauptautor Svante Pääbo.

Normalerweise sorgen in der Welt der Wissenschaft eher neue Studien für Aufregung. Aber die Pressekonferenz, die am gestrigen Nachmittag im Leipziger Institut für Molekulare Anthropologie stattfand, war anders.

Erstens, weil sie von Svante Pääbo einberufen wurde. Der Direktor am Leipziger Max-Planck-Institut war in den letzten Jahren immer wieder für eine Sensation gut. Und zweitens, weil sie groß aufgezogen war. Immerhin lauschten zeitgleich in Chicago Journalisten und Wissenschaftler beim größten interdisziplinären Forschertreffen der Welt via Liveübertragung den Ausführungen Pääbos.

Und drittens, weil die Nachricht tatsächlich ein Meilenstein ist: Das Genom des Neandertalers ist entschlüsselt, zumindest teilweise. Pääbo und sein Team haben nach zweieinhalb Jahren Arbeit eine erste vorläufige Fassung der etwa drei Milliarden Basen-„Buchstaben“ umfassenden  DNS fertiggestellt. Es wird voraussichtlich noch einmal zwei bis drei Jahre dauern, um ein qualitativ hochwertiges Genom zu erstellen.

Die Arbeit ist auch deswegen ein Meilenstein, weil sie einen neuen Maßstab in der Sequenzierung von DNS darstellt, was die Kosten angeht. In enger Zusammenarbeit mit der amerikanischen Firma 454 Life Sciences hat Pääbo das Neandertalergenom für nur fünf Millionen Euro „lesen“ können. Zum Vergleich: Die Entzifferung des Genoms des Rhesusaffen vor drei Jahren kostete noch rund 17 Millionen Euro, das Humangenomprojekt wurde 1990 sogar mit zwei Milliarden Euro veranschlagt.

Aber auch im Umgang mit uralter DNS hat Pääbo erneut Fortschritte gemacht. Die Forscher nutzten Knochen von drei Fossilien, die in einer Höhle bei Vindija in Kroatien gefunden wurden und schätzungsweise 38 000 Jahre alt sind.

Aus diesen Knochen isolierten die Forscher die Erbsubstanz. Nach mehreren zehntausend Jahren befindet die sich in keinem guten Zustand mehr. Man kann sich das Genom des Neandertalers wie eine Schriftrolle vorstellen, die rund drei Milliarden Buchstaben enthält. Im Laufe der Zeit wurde diese Schriftrolle aber zerstört und die Forscher fanden nur noch Fragmente, die weniger als 100 Buchstaben lang waren. Ein gigantisches Puzzle.

Hinzu kommt, dass die Erbsubstanz verunreinigt ist. „Nur etwa fünf Prozent der DNS in einer guten Neandertalerprobe sind vom Neandertaler“, sagt Richard Green, der an dem Projekt mitgearbeitet hat. Es sind zwei unterschiedliche Kontaminationen, mit denen die Forscher kämpfen: Zum einen sind über die Jahrtausende zahlreiche Mikroorganismen in die Knochen eingedrungen. Bei der Isolierung der DNS erhalten die Forscher mit der Neandertaler-Erbsubstanz auch die Erbinformation dieser Organismen. Mit Computern lassen sich die Sequenzen aber gut voneinander trennen, da die Buchstabenfolge bei Bakterien und Menschen sehr unterschiedlich ist.

Schwieriger zu bereinigen ist die zweite Form der Kontamination, die durch den Menschen. Die meisten Knochen sind durch zahlreiche Hände gegangen und dabei mit menschlicher DNS verunreinigt worden. Das Problem: Die Buchstabenfolge von Mensch und Neandertaler unterscheidet sich um weniger als ein Prozent. Die meisten Bruchstücke wären also bei Mensch und Neandertaler identisch, was es fast unmöglich macht, die beiden im Nachhinein zu trennen. 

Die Forscher untersuchten deshalb mehr als 70 Fossilien. Anhand bestimmter Sequenzen, deren Unterschiede bekannt sind, konnten sie feststellen, welche Fossilien am wenigsten mit menschlicher DNA verunreinigt waren. Nur diese nutzten sie dann für das Genomprojekt. Die Knochen aus Kroatien boten das beste Fenster in die Welt unseres engsten Verwandten.

Der Neandertaler lebte etwa 300 000 Jahre lang in Europa und Teilen Asiens, ehe er vor etwa 30 000 Jahren ausstarb. Lange gingen Forscher davon aus, dass es sich bei ihm um einen Vorfahren des modernen Menschen handelt. 1997 gelang es Pääbo erstmals, Erbsubstanz des Neandertalers zu gewinnen und damit die Frage zu beantworten. „Neandertaler nicht unsere Vorfahren!“ verkündeten damals Zeitungen überall auf der Welt.

Dennoch könnte es ein gewisses Maß an Vermischung gegeben haben, immerhin lebten die beiden fast 10 000 Jahre Tür an Tür. „Wenn überhaupt hat der Neandertaler aber nur wenig zur Vielfalt beim modernen Menschen beigetragen“, sagt Pääbo. Er schätzt, dass der letzte gemeinsame Vorfahr vor etwa 660 000 Jahren lebte, dreimal früher als der letzte gemeinsame Vorfahre aller heute lebenden Menschen. Ähnlich war uns Homo neanderthalensis trotzdem. „Wenn er einen Anzug anhaben würde, bin ich mir nicht sicher, dass man einen Neandertaler erkennen würde“, hat der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk einmal bemerkt.

 Kai Kupferschmidt[Leipzig]

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