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Erste Nahrung. Die meisten Frauen geben ihrem Kind die Brust.

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Stillen: Zur Brust genommen

Das Stillen hat viele Vorteile. Das gilt vor allem, wenn die Empfehlungen sich nicht zur Ideologie verfestigen. Werdende und junge Mütter sollten von Ärzten und Hebammen beim Stillen unterstützt werden.

Pünktlich zum Muttertag erregte nicht nur in den USA ein Foto die Gemüter. Das Titelbild der Zeitschrift „Time“ zeigte eine Frau, die einem knapp vierjährigen stehenden Knaben die Brust gibt. Ein Einzelfall, doch kein extremer. Auch in Deutschland gebe es eine „unfassbar hohe Dunkelziffer an lange gestillten Kleinkindern“, schreibt die Hebamme Karen Dannhauer in ihrem Blog. Nur finde das meist „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ statt.

Doch was ist „lange“, wenn es um die erste Nahrung des Menschen geht? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die nicht allein die Industrienationen im Blick hat, sprach sich 2001 dafür aus, Kinder in den ersten sechs Monaten ausschließlich mit Muttermilch zu ernähren, ihnen aber auch im zweiten Lebensjahr noch ergänzend die Brust zu geben.

Deutschen Müttern gibt die Nationale Stillkommission bewusst keinen Stichtag an, zu dem endgültig abgestillt werden sollte. Anders als in den armen Ländern dieser Erde, wo sauberes Trinkwasser, sichere Lebensmittel und auch verlässliche Empfängnisverhütung nicht selbstverständlich sind, fehle hierzulande eine solide wissenschaftliche Basis für die Festlegung eines solchen Datums.

Auch wenn sich trefflich streiten lässt, ob es nun eher schön oder schockierend ist, wenn Vorschulkinder sich nach der abendlichen Familienpizza noch für einen Schlummertrunk unter Mamas Pullover verkriechen: Experten für kindliche Ernährung interessieren sich eher für den Zeitpunkt, bis zu dem ein Baby dort Vollpension genießen soll und darf.

In die Frage, wie lange Babys ausschließlich gestillt werden sollten, kam 2011 Bewegung, als Mary Fewtrell vom University College in London die Sechs-Monate-Regel der WHO infrage stellte. In Ländern, in denen sauberes Wasser verfügbar ist und kaum lebensbedrohliche Magen-Darm-Infektionen auftreten, sollte von vier Monaten an zusätzlich ab und zu ein Brei gegeben werden, forderte sie im „British Medical Journal“.

Das vom Verbraucherschutzministerium gegründete Netzwerk Junge Familie veröffentlichte schon 2010 seine Empfehlungen zur Säuglingsernährung. Sie bestätigen die in Deutschland bestehenden Empfehlungen und lassen im fünften und sechsten Lebensmonat Spielraum: Vier Monate lang sollte das Kind nach Möglichkeit nur von Muttermilch leben, mit einem halben Jahr sollte es weitere Nahrungsmittel kennenlernen, als Beikost zusätzlich zum Stillen. Dazwischen bleibt eine Zeitspanne, in der die Experten den Familien nicht reinreden wollen.

Der Kinderarzt Frank Jochum vom Waldkrankenhaus Spandau rät dazu, sich dann von der Entwicklung und der Neugier des Kindes leiten zu lassen. Studien zeigen, dass etwas weniger Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten auftreten, wenn die Aufnahme von Lebensmitteln wie Fisch, Getreide, Milch und Eiern in den Speiseplan zusätzlich zur Muttermilch schon früher beginnt. Die Mischung bekommt dem sich entwickelnden Immunsystem anscheinend gut.

Für Eltern, die ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihrem Baby schon vor der magischen Sechsmonatsfrist einen Brei zu essen geben, ist das eine befreiende Nachricht. Und sie dürfte die Mehrheit betreffen: Die KiGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts ergab, dass nur 22,4 Prozent der Kinder sechs Monate lang voll gestillt wurden. Allerdings zeigte sich zwischen 1986 und 2005 ein deutlicher Anstieg. Die Studie Stillen und Säuglingsnahrung des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund, für die 1717 Frauen befragt wurden, hatte für 1997/98 ergeben: Ein Drittel der jungen Mütter stillt vier Monate, nur jede zehnte ein halbes Jahr nach der Geburt noch ausschließlich. Ein paar Jahre später waren es in der Studie „Stillverhalten in Bayern“ schon 48 und 25 Prozent.

Direkt nach der Geburt stillen in Deutschland seit Jahren neun von zehn Müttern. Dass Muttermilch für fast alle neuen Erdenbürger die perfekte und zugleich die praktischste Nahrung ist, und dass auch die Frauen gesundheitlich vom Stillen profitieren, gehört heute zur Allgemeinbildung, öffentliche Werbung für industriell hergestellte Ersatzmilchprodukte ist verboten, Stillen in der Öffentlichkeit kein Tabu mehr.

Die französische Philosophin Elisabeth Badinter fürchtet jedoch, dass der allgemeine Stillkonsens junge Mütter unter Druck setzen könnte. „In unseren Gesellschaften, in denen die Kindersterblichkeit so niedrig ist wie nie zuvor, führt man dabei nicht mehr das Überleben der Kinder ins Feld, sondern ihre körperliche und seelische Gesundheit, die ausschlaggebend für das künftige Wohl des Erwachsenen und die soziale Harmonie sei. Welche Mutter empfindet da nicht zumindest Gewissensbisse, wenn sie sich den Gesetzen der Natur verweigert?“, schreibt die dreifache Mutter in ihrem Buch „Der Konflikt. Die Frau und die Mutter“. Und wirklich berichten Frauen in Internetforen über distanzlose Bemerkungen, die sie sich anhören müssen, wenn sie ihrem Säugling im Café das Fläschchen geben. Da fühle sich jeder und jede zur Frage berufen: Stillen Sie etwa nicht?

Die Dortmunder Ernährungswissenschaftlerin Mathilde Kersting findet es wichtig, dass werdende und junge Mütter von Ärzten und Hebammen beim Stillen unterstützt werden. „Wenn eine Frau sich aber informiert gegen das Stillen entscheidet, dann sollte sie auch dabei ein gutes Gefühl haben dürfen und sich keine ungebetenen Ratschläge anhören müssen.“ Kersting plädiert überhaupt für mehr Lockerheit. „Wir müssen gerade beim Stillen weg von apodiktischen Empfehlungen.“ In Fragen der Ernährung und Erziehung sind sie selten hilfreich.

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