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Konservierte Sprache. Die Forscher analysierten Texte in Büchern, Zeitungen und bei Wikipedia.

© picture alliance / dpa

Sprachforschung: Deutsch lebt

Der „Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ widerlegt Skeptiker, die den Verfall fürchten. Tatsächlich wird der Wortschatz immer größer und vielfältiger. Die Grammatik hingegen wird einfacher.

Nie zuvor haben die Deutschen so viel und so gut geschrieben wie heute. Sie beherrschen 1,6 Millionen Wörter mehr als vor 100 Jahren. Sie gehen kreativ mit Grammatik um und schaffen immer größere Ausdrucksmöglichkeiten. Fremdsprachliche Neuzugänge integrieren sie wohlwollend in die Kerngrammatik.

Zu diesem Ergebnis kommen vier Sprachwissenschaftler der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Am Freitag stellten sie gemeinsam den ersten „Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ in Berlin vor. Darin haben sich die Sprachforscher mit der öffentlichen Besorgnis über den „Verfall“ des Deutschen auseinandergesetzt und Entwarnung gegeben.

Seit der Rechtschreibreform in den 1990er Jahren ist das Interesse an Sprachregeln gestiegen. Skeptiker sprechen vom Verlust des deutschen Formenreichtums, etwa bei starken Verben. Einen Satz wie „Wenn ich Mehl hätte, büke ich“ findet man nur noch selten. Der „Verein zur Wahrung der deutschen Sprache“ fürchtet den Einfluss des Englischen, andere mäkeln am bürokratischen Nominalstil herum. Die Sprachforscher sehen ihre Studien als Beitrag zur öffentlichen Diskussion. Sie wollten zeigen, ob sich die Vorwürfe empirisch belegen ließen.

Dazu haben sie große Textmengen aus den letzten 100 Jahren ausgewertet. Ihr Interesse gilt dem „Standarddeutschen“, das heißt, geschriebenen und redigierten Texten, die gedruckt vorliegen oder, wie im Fall der Internetenzyklopädie Wikipedia, stark bearbeitet sind. Die Forscher verglichen Zeitungsartikel, Belletristik und wissenschaftliche Literatur aus drei Zeitscheiben: Anfang, Mitte und Ende des 20. Jahrhunderts. Dafür nahmen sie Stichproben von je zehn Millionen Wörtern und rechneten das Ergebnis hoch.

Wo die Forscher auch hinsahen, ihre Untersuchung widerlegt Fatalisten auf ganzer Linie. Wolfgang Klein, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nijmegen, fand heraus, dass der deutsche Wortschatz seit 1914 um ein Drittel gewachsen ist. Heute verwenden wir rund fünf Millionen Wörter. „Ich weiß nicht, wie man da von Verarmung sprechen kann.“ Besonders groß war der Zuwachs der Ausdrücke in den Zeitungen; Klein vermutet, dass dies am breiten Themenspektrum liegt. In Vergessenheit geraten Worte oft, weil die Gegenstände, die sie bezeichnen, selbst veralten, wie etwa die „Droschke“. Gleichzeitig kommen neue Ausdrücke hinzu, wie „rödeln“ oder „motzen“.

Während der Wortschatz größer wird, schwindet die grammatikalische Komplexität. Dativ und Genitiv sind immer schwerer zu unterscheiden, der Genitiv fällt in der gesprochenen Sprache ohnehin häufig weg oder wird durch „von“ ersetzt, etwa in „Besuch von der Tante“ statt „Besuch der Tante“. Grundsätzlich vollzieht das Deutsch damit eine Entwicklung, die alle großen Kultursprachen durchlaufen: Die Sprache wird grammatikalisch einfacher, während sie Wörter hinzugewinnt.

Zum Wortreichtum gehören auch die Anglizismen, die Peter Eisenberg, emeritierter Sprachwissenschaftler der Universität Potsdam, untersucht hat. Immer mehr englische Ausdrücke finden ihren Weg in die deutsche Schriftsprache, seit Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die Menge mehr als verzehnfacht. Im Werbebereich, der nicht ausgewertet wurde, tummeln sich noch deutlich mehr englische Begriffe, eine Sättigung ist nicht abzusehen. Kritiker warnen daher gerne vor einer „Verdrängung des natürlichen Deutschen“. Und zwar schon über Jahrhunderte. „Das Deutsche müsste schon dreimal tot sein, wenn die Kritiker recht gehabt hätten“, sagt Eisenberg.

Seine Analyse zeigt stattdessen, dass die Wörter häufig Internationalismen sind und weniger dem Englischen entsprechen als dem Deutschen selbst. Dazu gehören Pseudo-Anglizismen wie der „Kaffee to go“, den es im Englischen gar nicht gibt (da heißt es „take away coffee“).

Eine Kritik an dem Bericht könnte lauten, dass er an der eigentlichen Problematik vorbeigeht. Internetblogs oder Chatgespräche flossen nicht in die Analyse ein, auf sie zielt jedoch die meiste Sprachkritik ab. „Genau diese Kritik hat aber das Standarddeutsche zum Maß“, sagt Eisenberg. Deshalb haben sich die Forscher darauf konzentriert und Verbesserung in allen Bildungsschichten festgestellt. Zum Vergleich: „Ein Soldat in der Armee von Kaiser Wilhelm konnte gerade mal seinen Namen schreiben.“

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