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Schmallenbergvirus: Neue Seuche im Stall

Fehlgebildetes Gehirn, gekrümmte Glieder:  In NRW hat sich unter Schafen und Rindern eine Krankheit ausgebreitet. Und Forscher stoßen auf einen neuen Erreger.

Mark Holsteg war einer der Ersten, die Alarm schlugen. Holsteg ist Tierarzt und arbeitet beim Rindergesundheitsdienst der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen. Im Spätsommer des vergangenen Jahres traf er immer wieder Bauern, die klagten, einige Kühe würden weniger Milch geben. Manche der Tiere hatten auch Fieber. Holsteg machte sich Sorgen. Er rief beim Friedrich-Loeffler-Institut für Tiergesundheit (FLI) an.

Mit einem Anruf dort, auf der Insel Riems im Greifswalder Bodden, beginnen die meisten Geschichten über große Tierseuchen in Deutschland: Vogelgrippe, BSE, Blauzungenkrankheit. Holstegs war so ein Anruf.

Inzwischen ist aus der milden Infektion einiger Kühe eine echte Tierseuche geworden. Rinder, Schafe und Ziegen auf zahlreichen Höfen in den Niederlanden, Deutschland und Belgien sind betroffen. Hunderte Kälber und Lämmer kommen tot zur Welt. Und während in Berlin die Internationale Grüne Woche beginnt, versuchen Forscher herauszufinden, wie groß die Bedrohung durch den Erreger ist.

Die Tiere, die nun geboren werden, waren im Sommer noch ein Zellhaufen in der Gebärmutter. Offenbar wurde das Muttertier damals mit einem Virus infiziert. Das breitete sich aus und gelangte über die Plazenta in den heranwachsenden Fötus, wo es sich hervorragend vermehrte – und so die Entfaltung des genetischen Bauplans störte. Die schweren Folgen kann man nun bei den neugeborenen Tieren sehen: Manchmal ist das halbe Gehirn bei den neugeborenen Tieren durch einen flüssigkeitsgefüllten Sack ersetzt, das Kleinhirn ist häufig unterentwickelt, der Nacken ist überstreckt, die Glieder versteift und verdreht. Häufig müssen die Tiere mit einem Kaiserschnitt auf die Welt gebracht werden. Auf manchen Bauernhöfen ist die Hälfte des Nachwuchses betroffen – und die meisten sterben. „Wir nehmen das sehr, sehr ernst“, sagt der Präsident des FLI, Thomas Mettenleiter. Und sein holländischer Kollege Wim van der Poel, Leiter des Zentralen Veterinär-Instituts in den Niederlanden sieht es ähnlich: „Das ist eine ernste Bedrohung für die Tiergesundheit in Europa.“

Wir sind Bilder von Schafen gewohnt, die gemütlich ins saftige Grün beißen, nicht grausam gedrechselter Lämmerleiber. Aber seit der Mensch Tiere hält, um sich mit Eiern, Milch oder Fleisch zu versorgen, muss er sich auch mit Tierseuchen herumschlagen: Rotz, Geflügelpest, Maul-und-Klauenseuche. Dabei ist der wirtschaftliche Schaden, den ein einziger Erreger verursachen kann, enorm. Die Schweinepest kostete die Niederlande in den Jahren 1997 und 1998 2,3 Milliarden Euro. Und das waren nur die direkten Kosten. Die indirekten waren noch einmal so hoch. Zwölf Millionen Schweine wurden damals getötet.

Kein Wunder, dass die Veterinärmedizin, die ihren Anfang vor allem als (militärische) Pferdeheilkunst nahm, sich bald auch mit den zahlreichen Krankheiten anderer Nutztiere beschäftigte. Im 19. Jahrhundert tat sich vor allem Friedrich Loeffler, ein Schüler Robert Kochs, hervor. Er entdeckte die Erreger des Rotzes (einer Pferdekrankheit), des Schweinerotlaufs und der Maul- und Klauenseuche.

Heute ist das nach ihm benannte Institut der oberste Veterinärwächter in Deutschland. Als Holsteg im September dort anrief und wenig später auch erste Proben von erkrankten Tieren eintrafen, begannen die Erben Loefflers mit der Arbeit. Die Mikrobenjäger konzentrierten sich auf die Blutproben und untersuchten sie auf die gängigen Erreger: Maul- und Klauenseuche, bovine Virusdiarrhoe, bovines Herpesvirus, Blauzungenkrankheit. Ohne Erfolg. Auch Tests auf seltenere Erkrankungen wie Ephemeralfieber oder Rift-Valley-Fieber blieben negativ. „Dann haben wir den Schlussstrich gezogen und gesagt, die Standardmethoden sind ausgeschöpft“, sagt Thomas Mettenleiter, Präsident des FLI.

Forscher am Friedrich-Loeffler-Institut haben das neue Virus Schmallenbergvirus getauft.

Schweinepest, Vogelgrippe oder Rinderpest. Heute können Waren oder Menschen aus fremden Erdteilen auch bisher unbekannte Krankheiten einschleppen.
Schweinepest, Vogelgrippe oder Rinderpest. Heute können Waren oder Menschen aus fremden Erdteilen auch bisher unbekannte Krankheiten einschleppen.

© LAVES-LVI Oldenburg, Pathologi

Zur gleichen Zeit waren Forscher in den Niederlanden auf der Suche nach dem Erreger. Denn auch dort sorgte eine Reihe von Erkrankungen für Unruhe. Neben Fieber und einem Rückgang in der Milchproduktion litten die Tiere häufig unter Durchfall. Das Wort von der Hollandseuche machte die Runde. Inzwischen ist klar, es war der gleiche Erreger.

Die FLI-Forscher entschieden sich nun für die Hightech-Variante, eine Metagenomanalyse. Dabei wird das gesamte Erbgut, das in einer Probe enthalten ist, entziffert und hinterher analysiert. Der Großteil der so entschlüsselten Genfragmente gehörte natürlich zum Rind. Aber dazwischen fanden sich auch Bruchstücke eines Virus, das in eine exotische Klasse von Erregern gehörte: die Orthobunyaviren.

Die Gruppe umfasst zahlreiche Viren, die Tiere befallen, wie das Akabanevirus oder das Shamondavirus, aber auch das Oropouchevirus, das Menschen infizieren kann. Doch keiner der bekannten Erreger stimmte genau mit den Sequenzen überein, die sich im Rinderblut fanden. Offenbar handelte es sich um ein neues Virus. Die Forscher tauften es auf den Namen Schmallenberg. Es hätte auch Dinslaken, Hünxe, Wardenburg oder Großenkneten sein können. Überall dort ist das Virus inzwischen aufgetaucht. Aber die Proben aus der Stadt Schmallenberg im Hochsauerlandkreis waren die ersten, in denen die Forscher das Virus fanden. Nun zittern Bauern in Europa vor dem Schmallenbergvirus. „In früheren Jahrzehnten hätte es Jahre gedauert, den Erreger zu identifizieren“, sagt Bernhard Rüb von der Landwirtschaftskammer NRW.

Orthobunyaviren sind vor allem aus Japan und Australien bekannt. „Das Virus ist schon sehr exotisch“, sagt Mettenleiter. Seit Jahren predigt Deutschlands wichtigster Veterinärmediziner allerdings auch etwas anderes: „Exotische Krankheiten gibt es nicht mehr. Was heute exotisch ist, kann morgen hier sein.“

So wie 2006 die Blauzungenkrankheit. Das Virus, bis dahin vor allem in Afrika und Asien bekannt, tauchte plötzlich im Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande auf. „Bei der Blauzungenkrankheit hat Donnerstagnachmittag einer gesagt: ,In Aachen gibt es die Blauzungenkrankheit.’ Dann haben wir die Krankheit erst mal gegoogelt“, erzählt Rüb. Auch viele Tierärzte hätten das erst nachschlagen müssen. 885 kranke Tiere waren es im ersten Jahr in Deutschland. 2007 waren es über 20 000.

Fünf Jahre später ist es ein Orthobunyavirus, das wie aus dem Nichts auftaucht. Die meisten Viren dieser Gruppe werden von Gnitzen, einer bestimmten Gruppe von Mücken übertragen. Im Sommer haben die Insekten offenbar viele Kühe gestochen und das Virus langsam nach Osten verbreitet. Das sei bei über die Luft übertragenen Erregern meistens so, sagt Rüb. „Weil der Wind hier meist aus Westen weht.“ Inzwischen berichten hunderte Höfe in Belgien, Deutschland und den Niederlanden über die charakteristischen Missbildungen beim Nachwuchs. Und die Forscher erwarten, dass die Zahlen sich noch deutlich erhöhen, denn Kälber, die im Sommer des vergangenen Jahres gezeugt wurden, werden erst im Februar und März geboren. „Der Höhepunkt steht uns noch bevor“, sagt Mettenleiter.

Inzwischen haben Forscher am FLI den Erreger im Gehirn missgebildeter Lämmer nachgewiesen und das Virus isoliert. Sie haben es auf Insekten- und auf Hamsterzellen gezüchtet und in einem ersten Versuch drei Kühe damit infiziert. Eine bekam Fieber und Durchfall.

Könnten möglicherweise auch Menschen krank werden? Das ist die eine Frage, die bei einem neuen Erreger zwangsläufig auftritt. Mehr als zwei Drittel aller menschlichen Krankheitserreger sind schließlich tierischen Ursprungs. Das Aidsvirus HIV schaffte mindestens drei Mal den Sprung von Schimpanse und Gorilla auf den Menschen. SARS wurde vermutlich von Fledermäusen übertragen. Mücken bringen Malaria oder Denguefieber. Und auch Rinder können Krankheiten übertragen: Milch wurde ursprünglich pasteurisiert, weil sich viele Menschen mit einer Rinderform der Tuberkulose ansteckten.

Auch beim Orthobunyavirus setzten sich sofort Experten zusammen, um die Gefahr abzuschätzen. Noch vor Weihnachten gab die europäische Seuchenschutzbehörde ECDC in Stockholm eine erste Risikoeinschätzung ab, an der sich bisher nichts geändert hat: Es sei unwahrscheinlich, dass das Virus Menschen krank machen könne. Ausgeschlossen werden könne es aber nicht.

Um auf Nummer sicher zu gehen, wird am Robert-Koch-Institut demnächst das Blut einiger Tierärzte und Bauern untersucht, die mit kranken Tieren in Berührung gekommen sind. Das sei eine reine Vorsichtsmaßnahme, erklärt Andreas Nitsche. „Wir müssen uns eben Gedanken machen, können wir das zur Not diagnostizieren, wenn es beim Menschen wichtig wird? Können wir dem entgegentreten?“ Bisher sind keine Erkrankungen von Bauern oder Tierärzten gemeldet worden. „Wir können nicht in die Glaskugel gucken, aber wir gehen davon aus, dass für den Menschen kein Risiko besteht“, sagt Nitsche.

Die andere Frage bei jedem neuen Erreger lautet: Woher kommt er so plötzlich? Menschen und Waren werden heute um den gesamten Erdball geschifft, geflogen und gefahren. Ob Rosen aus Afrika, Lebensmittel aus Asien oder Touristen aus Amerika, Krankheitserreger haben viele Reisemöglichkeiten. Die Asiatische Tigermücke, die Denguefieber und Chikungunya-Virus übertragen kann, wurde mit einer Ladung Altreifen nach Italien eingeschleppt. Das Westnilfieber wurde vermutlich von Vögeln in die USA getragen.

Und das Orthobunyavirus? Noch sei völlig unklar, wo es herkam, sagt Mettenleiter. Aber wie alle Forscher weist auch er darauf hin, dass die Blauzungenkrankheit 2006 in derselben Gegend ihren Ursprung nahm. Warum jetzt schon wieder dort? „Das kann Zufall sein oder es steckt mehr dahinter“, sagt er. „Die Frage stellt man sich natürlich. Das ist auffällig“, sagt auch Klaus Osterrieder, Veterinärmediziner an der Freien Universität in Berlin.

Doch erst einmal sind alle damit beschäftigt das neue Virus in den Griff zu bekommen. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat bereits eine Änderung der Verordnung über meldepflichtige Krankheiten auf den Weg gebracht. Nun muss noch der Bundesrat zustimmen, dann ist das Schmallenbergvirus auch ganz offiziell eine Tierseuche.

Und das FLI hat alle interessierten Wissenschaftler aufgerufen, sich an der Erforschung des neuen Erregers zu beteiligen. „Wir haben uns bewusst entschieden, keine Patente anzumelden und alles freizugeben“, sagt Mettenleiter. „Das ist ein völlig neuer Erreger, da gibt es sehr viel zu tun.“

Osterrieder ist dem Aufruf gefolgt. Er will versuchen, einen Impfstoff gegen den neuen Erreger zu entwickeln. Schließlich hatte ein Impfstoff auch die Blauzungenkrankheit besiegt. 2010 und 2011 gab es keinen einzigen Fall. Das würden Forscher gerne auch beim Schmallenbergvirus schaffen. Aber die Zeit drängt. Die Tage werden länger. Und im Sommer sind die Gnitzen wieder unterwegs. Dann wird sicher wieder das Telefon klingeln auf der Insel Riems.

Schon immer haben Tierseuchen die Nutztiere des Menschen bedroht: Schweinepest, Vogelgrippe oder Rinderpest. Heute können Waren oder Menschen aus fremden Erdteilen auch bisher unbekannte Krankheiten einschleppen. Forscher am Friedrich-Loeffler-Institut haben in kranken Kühen ein neues Virus nachgewiesen und es Schmallenbergvirus getauft.

Viele Tierseuchen sind auch für den Menschen gefährlich. Solche Krankheiten, die von dem Tier auf den Menschen übertragen werden, nennen Forscher „Zoonosen“. Sie stellen rund zwei Drittel aller menschlichen Krankheitserreger.

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