zum Hauptinhalt
Koloss-Kalmar

© dpa

Riesentintenfische: Titanen der Tiefsee

Noch immer geben mysteriöse Riesentintenfische der Wissenschaft Rätsel auf und liefern Stoff für Romane.

Gesehen wurde das seltsame Tier aus den Tiefen der Weltmeere nur tot oder sterbend. Bis am 30. September 2004 in 900 Meter Tiefe, um 9.15 Uhr Ortszeit vor den japanischen Ogasawara-Inseln im Nordpazifik eine Sensation geschah: Hier gelang die erste Lebendbeobachtung der mysteriösen Monster, die zu den größten Tieren der Erde zählen. Pfeilschnell aus der lichtlosen Tiefe kommend, die an dieser Stelle bis zu 1200 Meter hinabreicht, schoss ein acht Meter großer Riesentintenfisch empor und schlang seine mit Saugnäpfen besetzten Fangarme um einen an einer Leine ausgelegten Köder. Dabei wurde der rötlich gefärbte Riese von der darüber montierten Kamera des japanischen Meeresforschers Tsunemi Kubodera wenigstens digital eingefangen.

Mehr noch: Der Riesenkalmar (Architeuthis) verfing sich in dem mit Haken versehenen Köder und verschwand erst nach stundenlangem Kampf, wobei er einen seiner zehn Arme einbüßte. In dieser Zeit schoss die Kamera 550 Bilder von dem ansonsten so scheuen Tintenfisch. Und als der abgetrennte Arm zusammen mit dem Köder an Bord des Forschungsschiffes gebracht wurde, spürte Kubodera noch, wie die mit hornigen Zähnchen ausgestatteten Saugnäpfe des sagenhaften Tieres sich festhaften wollten.

Tatsächlich sagenhaft waren bis dahin jene Seeungeheuer, die mit tellergroßen Saugnäpfen und hornigen Schnäbeln – ähnlich denen von Papageien – durch Berichte von Seefahrern und Walfängern geisterten. Als „Riesenkraken“ tauchen sie bereits in der griechischen Mythologie auf. Den Griechen galt das Fleisch des achtarmigen Kraken Oktopus als aphrodisisch, in Japan lieferte die imaginierte Lüsternheit der vielarmigen Umschlingung eines Tintenfischs die Vorlage für berühmte Holzschnitte. „Kein Schrecken gleicht dem plötzlichen Erscheinen des Krakens, dieser Meduse mit Schlangen! Die Bestie dringt in das Fleisch des Opfers ein, und das Opfer wird in die Bestie hineingesaugt“, schrieb Viktor Hugo.

Das ultimative Meeresungeheuer indes, verantwortlich für mehr Schauermärchen als irgendein anderes Geschöpf, ist der Riesentintenfisch Architeuthis. Jules Verne schildert in seinem Roman „20 000 Meilen unter dem Meer“ den Angriff so eines Riesenkalmars auf ein U-Boot.

Bis heute mischen sich selbst in der wissenschaftlichen Literatur über diese Tiere Fakten und Fantasie. Unlängst erwies sich sogar ein in Alkohol konservierter, fast zwei Meter langer vermeintlicher Riesentintenfisch in der Weichtiersammlung des Berliner Museums für Naturkunde bei Nachuntersuchungen („Mitteilungen aus dem Museum für Naturkunde, Zoologische Reihe“, Band 80, Seite 53) als Humboldt-Kalmar Dosidicus gigas – eine Tintenfischart, die nicht annähernd an die verbürgte Länge von 18 bis 20 Metern eines echten Architeuthis heranreicht.

Da so ein Riesenkalmar vor der Beobachtung in Japan wohl kaum einmal lebend gesehen wurde, blühten die Spekulationen. In seinem 1998 erschienenen Buch über die Suche nach dem Riesenkalmar hatte Richard Ellis, der weltweit wohl beste Kenner dieser und anderer vermeintlicher Tiefseemonster, noch angenommen, dass Architeuthis vergleichsweise träge ist und mehr treibend als aktiv schwimmend durch die Tiefsee zieht. Auch den langen, aber dünnen Fangtentakeln trauten Forscher laut Ellis keine allzu aktive Rolle beim Beutefang zu.

Tatsächlich stützen sich alle Erkenntnisse über diese Tiefseebewohner auf Kadaver, die an Land gespült wurden, halb verdaut aus Walmägen geborgen wurden oder Fischern tot ins Netz gingen. Bisher habe man immer nur die lahmen, kranken und verirrten Riesenkalmare gefunden, bemerkte dazu der amerikanische Forscher Clyde Roper von der Smithsonian Institution in Washington. Roper hatte bei seiner jahrelang völlig ergebnislosen Suche nach den Riesentintenfischen der Tiefsee Millionen von Dollar buchstäblich im Ozean versenkt. Zuletzt war er 1997 zu einer groß angelegten Suchaktion zum Kaikoura Canyon vor der Küste Neuseelands aufgebrochen, um die lebenden Riesenkalmare zu finden und unter Wasser mit ferngesteuerten Kameras zu filmen. In diesem Gebiet war Architeuthis mehrfach in Tiefseenetze geraten. Doch auch diese Expedition Ropers war ein Fehlschlag.

Erst die Lebendbeobachtungen Kuboderas, die er in den „Proceedings of the Royal Society“ (Band 272, Seite 2583) veröffentlichte, zeigen ein neues Bild des Architeuthis. Der Forscher vom Nationalen Wissenschaftsmuseum in Tokio macht seit Jahren Jagd auf Riesentintenfische. Seine Wunderwaffe ist jene mit einem Tiefenortungssystem kombinierte Digitalkamera – und ein für Tintenfische unwiderstehlicher mit Garnelen bestückter Köder. Bei ihrer Suche machten sich die Forscher Pottwale zu Helfern. Denn die Meeressäuger fressen Riesentintenfische und tauchen auf der Suche nach ihnen mehr als 1000 Meter tief.

Um diese Titanen der Tiefsee und ihren Kampf mit Pottwalen geht es auch in Bernhard Kegels jüngst erschienenen Roman „Der Rote“. Schauplatz ist jene einmalige Meeresregion nahe Kaikoura. Der Wissenschaftsthriller um den deutschen Meeresbiologen Hermann Pauli auf Neuseeland erzählt eine atemberaubende Geschichte vom Eigensinn der Natur. Darin löst ein gewaltiges Seebeben vor Kaikoura, das jederzeit so passieren könnte, eine Kette fataler Ereignisse aus. Bei Bernhard Kegel, der einmal als der deutsche Michael Crichton („Jurassic Park“) tituliert wurde, verbindet sich wie bei diesem fundierte Sachkenntnis mit erzählerischer Qualität. In seinem Roman verknüpft er die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse mit einer spannenden und humorvollen Geschichte. Darin erfährt man ganz nebenbei auch, dass Architeuthis noch einen ähnlich riesigen Vetter namens Mesonychoteuthis hamiltoni hat. Auf dessen Armen und Fangtentakeln sitzen neben den Saugnäpfen zusätzlich noch gefährliche Haken. Dieser Kolosskalmar wurde bislang noch nie lebend gesichtet.

Bernhard Kegel, promovierter Biologe, liest am 30. Januar 2008 um 19.30 Uhr im Museum für Naturkunde, Invalidenstraße 43, aus „Der Rote“ (Marebuch Verlag, Hamburg 2007). Eintritt: 1,50 Euro.

Matthias Glaubrecht

Zur Startseite