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Nichts wie weg. Für manche Angstpatienten sind Menschenmassen unerträglich.

© picture alliance / dpa

Psychische Gesundheit: Wenn Ängste das Leben ärmer machen

Panikattacken, Phobien, extreme Schüchternheit, generalisierte Angststörungen: Experten haben sich auf neue Standards für die Behandlung geeinigt.

Es passierte aus heiterem Himmel: Ihr Herz raste, sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, sie schwitzte höllisch, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und fürchtete um ihr Leben. Oder zumindest um ihren Verstand. Nach einer Viertelstunde war der schlimme Zauber vorbei. Während des Unterrichts war das der 39-jährigen Lehrerin noch nicht passiert. Doch die Panikattacken hatten ihr in der letzten Zeit so zugesetzt, dass sie sich nicht mehr traute, ihre Kinder nachmittags mit dem Auto zur Musikstunde zu fahren.

Grund genug, sich therapeutische Hilfe zu suchen. Zur Psychotherapie gehörten unter anderem Autofahrten, bei denen der Therapeut sie begleitete. Zusätzlich nahm sie morgens ein Medikament aus der Gruppe der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI), das nach drei Wochen zu wirken begann. Nun, zwei Monate später, fühlt sie sich stabil und gesund. Seine Patientin wolle nun nur noch die bevorstehende Klassenfahrt abwarten und danach das Medikament absetzen, berichtet ihr behandelnder Arzt Borwin Bandelow.

Der Stellvertretende Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen hat „Das Angstbuch“ und „Das Buch für Schüchterne“ geschrieben und kann als Deutschlands „Angst-Papst“ gelten. Er mag sein Spezialgebiet schon deshalb, weil es ihm immer wieder Erfolge beschert: „Die Behandlung geht relativ schnell und ist sehr erfolgreich, 85 Prozent der Patienten sind danach geheilt oder fühlen sich deutlich besser“, berichtete der Psychiater und ärztliche Psychotherapeut bei einer Presseveranstaltung in Berlin.

Es geht nicht nur um plötzliche Angst-"Anfälle"

Anlass war die Vorstellung der neuen Behandlungsleitlinie „Angststörungen“, die 20 Fachgesellschaften und Organisationen in den letzten sechs Jahren erarbeitet haben. Sie umfasst Panikstörungen, also plötzliche Angst-„Anfälle“ wie den der jungen Lehrerin, genauso wie die generalisierte Angststörung, die den gesamten Alltag durchzieht, und die soziale Phobie, eine extreme Form der Schüchternheit, die zum völligen Rückzug führen kann. Jeder siebte Bundesbürger habe im Verlauf eines Jahres mit krankhaften Ängsten zu kämpfen, so war bei der Veranstaltung zu hören. Dabei sind „spezifische Phobien“, wie die Angst vor Spinnen, allerdings mitgezählt.

Allenfalls die Hälfte aller Angststörungen werde erkannt und angemessen behandelt, berichtete Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz. „Viele Betroffene kommen stattdessen mit körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Zittern und Schwitzen in die Notaufnahme oder ein Zentrum für Brustschmerzen.“ Wenn dort nach gründlicher Abklärung ein Herzinfarkt ausgeschlossen werden könne, folgten danach oft weitere Arztbesuche und teure Untersuchungen. „Es verfestigt sich dann allmählich die Überzeugung, dass etwas körperlich nicht stimmt.“

Dass nichts gefunden wird, könne zum großen Problem werden, ergänzte Thomas Lichte, niedergelassener Allgemeinmediziner und Professor für sein Fachgebiet an der Universität Magdeburg. Das Gespräch mit dem Hausarzt, der einen womöglich schon lange kennt und dem man vertraut, ist in dieser Situation besonders wichtig. Oft kann nur eine rasche und gezielte Behandlung die Betroffenen davor bewahren, alles aus ihrem Leben zu streichen, was ihnen Angst macht. „Vermeidungsverhalten“ nennen es die Psychotherapeuten.

Die kognitive Verhaltenstherapie hilft

Für die neue Leitlinie, die dem höchsten fachlichen Standard S3 genügt und unter der Schirmherrschaft der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erstellt wurde, wurden alle verfügbaren Studien und etliche internationale Leitlinien zum Thema ausgewertet. Dabei erwies sich unter den Psychotherapien die kognitive Verhaltenstherapie, zu der zahlreiche gute wissenschaftliche Studien vorliegen, als besonders empfehlenswert. Für einige Krankheitsbilder sieht die Therapie Ausflüge zu angstauslösenden Plätzen und Situationen vor, auch gemeinsam mit dem Therapeuten.

Zu tiefenpsychologischen und analytischen Psychotherapien, die in der Leitlinie als „psychodynamische“ Verfahren zusammengefasst wurden, gibt es bisher weit weniger Studien. Von den Experten werden sie trotzdem empfohlen, und zwar für den Fall, dass die kognitive Therapie nicht ausreichend wirkt oder wenn ein gut informierter Patient sie bevorzugt. Einige Studien laufen derzeit noch und Beutel ist überzeugt, dass sie in späteren Neuauflagen der Leitlinie zu einer günstigeren Einschätzung führen.

Zu einigen Ansätzen aus den USA, darunter die interpersonelle Therapie und das „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR), gibt es bisher keine ausreichenden wissenschaftlichen Belege. Die „Virtual Reality Therapy“, in der Betroffene am Bildschirm mit angstauslösenden Situationen konfrontiert werden, ist zwar wirksam. Sie ist aber nur an speziellen Zentren verfügbar. Zu Gruppentherapien gebe es dagegen zu wenige Studien, berichtete Bandelow. Eine Kombination zwischen Einzel- und Gruppentherapie könne aber sinnvoll sein: „Etwa, wenn es bei einer sozialen Phobie darum geht, vor anderen eine Rede zu halten.“

Benzodiazepine sollten nicht verordnet werden

Unter den Medikamenten werden an erster Stelle die auch gegen Depressionen wirksamen SSRIs und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs) empfohlen. Beruhigende Benzodiazepine sollten dagegen nicht verordnet werden, auch wenn sie noch immer recht gebräuchlich sind. „Sie sollten allenfalls in Ausnahmefällen angewandt werden, da sie abhängig machen können“, erläuterte Bandelow.

Der Balanceakt zwischen Überdiagnose und Linksliegenlassen seelischer Leiden, über den in den letzten Jahren vor allem am Beispiel des „Burnout“ und der Depression diskutiert wurde, ist auch bei den Angststörungen eine Herausforderung. Denn ganz ohne Angst ist menschliches Leben nicht denkbar. „Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie“, gab Erich Kästner zu bedenken. Doch ab wann wird die Vorwegnahme von Gefahren, die uns normalerweise Schutz bietet, ihrerseits zur Gefahr – und zur behandlungsbedürftigen Krankheit? „Man sollte sich Rat holen, wenn man im Alltag nicht mehr funktioniert“, schlägt Sebastian Rudolf vom Deutschen Fachverband für Verhaltenstherapie (DVT) vor: wenn man aus Angst vor der Angst wichtige Bereiche des Lebens ausklammert oder wenn man ihnen nur unter Qualen gerecht zu werden vermag.

Bandelows Patientin hat sich im richtigen Moment ein Herz gefasst. Und ist ihre Panikattacken dank der Behandlung recht schnell losgeworden.

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