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Im Freien. Jacques Derrida (1930 - 2004) habilitierte sich im Alter von 50 Jahren, arbeitete lange ohne Assistenten. „Er war sein eigenes Proletariat“, sagt eine Schülerin. Biograf Benoît Peeters schildert auch seine bislang wenig bekannte politische Sozialisation durch den Algerienkrieg. Das Bild zeigt Derrida 2001 auf der Veranda seines Hauses bei Paris.

© AFP

Philosophie: Derridas algerische Wunde

Die erste Biografie über Jacques Derrida zeigt seinen Weg vom gequälten jungen Mann zum Stardenker.

Im Jahr 1992 beantwortet Jacques Derrida den berühmten Proust’schen Fragebogen: „Ihr Traum vom Glück? Weiter träumen. Was möchten Sie sein? Ein Dichter.“ Der Dichtertraum sollte einer bleiben. Anfang Oktober des Jahres 2004 wird gemunkelt, der Philosoph erhalte den Literaturnobelpreis. Wenige Tage später geht er an Elfriede Jelinek, am 9. Oktober stirbt Derrida mit 74 Jahren. Ein kleiner Treppenwitz, dass er heute zu den großen Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt. Er, der für manche ein obskurer Dichter statt ein ordentlicher Philosoph zu sein schien.

Nun liegt auf Deutsch die erste Biografie Jacques Derridas von Benoît Peeters vor (Übersetzung: Horst Brühmann). Die fast tausend Seiten wiegen schwer, denn sie dürften der Startschuss sein für eine neue Phase der Auseinandersetzung mit Derrida, den sein Mentor Louis Althusser als „den einzigen Großen unserer Gegenwart und vielleicht den letzten für lange Zeit“ bezeichnete. Mit seinem nüchternen Ton und einer denkbar konventionellen Gliederung – Geburt, Leben, Tod – lässt Peeters dem Philosophen allen Glanz.

Wie kaum ein anderer steht der Name Jacques Derridas als Synonym für das Theoriegebäude des Poststrukturalismus. 1965 katapultierte er einen Begriff in den Diskursorbit, der dem philosophischen Denken neue Attraktivität verlieh: Dekonstruktion. „Unter anderem wollte ich die Heidegger’schen Wörter Destruktion und Abbau übersetzen“, erläuterte er später. Derridas neue Art, philosophische Texte zu befragen, sein verspielter Schreibstil weckte Skepsis und erschütterte die Tradition. Am Ende sollten es über 80 Bücher sein, in denen Derrida als Dekonstrukteur den großen philosophischen Kanon in seine Einzelteile zerlegt, die Bausubstanz kritisch beäugt und kopfüber wieder zusammengezimmert hatte.

Längst gibt es Einführungen in das Werk Derridas, aber so praktikabel sie sind, so blutleer sind sie auch. Peeters’ Biografie dagegen begibt sich mitten auf die Baustelle. Sie zeigt einen emsigen Denkzimmermann bei der Arbeit und spart die Späne nicht aus: Derridas Essgewohnheiten und Ängste, sein Einnicken bei Kolloquien, seine Lust am Fernsehen und Autofahren. Derrida ist auch der Mensch, der grüne Kleidungsstücke mied, weil er diese Farbe mit Unglück verband, der „schrecklich sentimental und bis zum Äußersten großzügig“ war.

Peeters nimmt drei große Zäsuren vor: Von „Jackie“ (sein eigentlicher Vorname) zu „Derrida“ (hier etabliert er sich als Autor) zu „Jacques Derrida“ (die Jahre seines Ruhms). Mit seiner ersten Publikation hatte er die Änderung seines Namens vorgenommen: „Ich fand, Jackie sei kein Vorname eines potenziellen Autors und wählte sozusagen ein Halb-Pseudonym.“ Weitere Häutungen zeigen sich. Nicht immer schon war Derrida der Charismatiker, als der er einem heute vor Augen steht.

Der junge Derrida litt war depressiv, nahm Schlaf- und Aufputschmittel

In seinen ersten Jahren in Paris, als er für die Aufnahme an der École Normale Supérieure paukte, war er ein von Depressionen gequälter junger Mann, der Amphetamine und Schlafmittel schluckte. Über seine erste Lehrtätigkeit berichtet ein Schüler: „Derrida war verschlossen. Er hatte offenbar keinen Sinn für Anekdoten oder amüsante Beispiele. Er versuchte nicht, nett zu sein, sondern uns solide gezimmerte Kurse anzubieten.“

Trotz stetig wachsendem Erfolg blieb Derrida ein unkonventioneller Philosoph, der sich erst mit fünfzig Jahren habilitierte. Lange arbeitete er ohne Assistenten oder Sekretärin, kopierte seine Texte, schleppte Bücher, schrieb hunderte Briefe und Gutachten. „Er war an manchen Tagen sein eigenes Proletariat, zumindest nach amerikanischen Universitätsstandards“, erinnert sich seine Schülerin Avital Ronell.

Ein neues Licht auf sein Werk wirft vor allem die Erzählung von Derridas Jugend in Algerien, wo er als Kind jüdischer Eltern unter dem Antisemitismus leidet, und von seinem späteren Militärdienst. Den Algerienkrieg sieht Peeters als „Ferment seines ganzen politischen Denkens“: die späten Texte über „Vergebung und Versöhnung, das Unmögliche und die Gastfreundschaft“ seien „Nachwirkungen dieser algerischen Wunde“, meint Peeters.

Ohne platt von Leben auf Werk zu schließen, wird deutlich, dass Derridas Philosophie immer schon von Politik affiziert war. Er war nicht nur ein „Handlungsreisender des Denkens“, sondern hielt auch politische Fürsprachen, etwa als Vizepräsident der Jan-Hus-Gesellschaft, die in den 80er Jahren heimlich Intellektuelle in der Tschechoslowakei unterstützte und Derrida eine unheimliche Verhaftung in Prag einbrachte. Der Geheimdienst hatte ihm Drogen untergeschoben und ihn daraufhin in eine Zelle gesperrt – offenbar ohne dass die tschechischen Dienste um die Prominenz Derridas wussten. Nach diplomatischer Intervention ließen sie ihn kleinlaut frei. Eine schöne Pointe, dass Derrida in diesen Tagen an einem Text über Franz Kafka arbeitete und ihm sein Anwalt zuflüsterte: „Nehmen Sie die Sache nicht tragisch, sondern betrachten Sie es als eine literarische Erfahrung.“

Behutsam erzählt Peeters von der Familie Derridas und von einer langjährigen Liebesbeziehung, aus der ein drittes Kind hervorging, berichtet von den zahlreichen Disputen, Kränkungen und Eifersüchteleien zwischen Derrida und seinen Zeitgenossen, wie Michel Foucault. Als einen „befreienden Text“ hatte dieser einen frühen Aufsatz Derridas bejubelt, doch als dann Foucault selbst zum Gegenstand einer Derrida’schen Dekonstruktion wurde, reagierte er gereizt. Zunehmend stichelte er auf Konferenzen und in Interviews gegen Derrida, dessen Philosophie ihm plötzlich „trostlos“ erschien. Jahrelang sollte zwischen den ehemaligen Freunden Funkstille herrschen.

Deutschland argwöhnte lange gegen Derrida. Von Jürgen Habermas heißt es, er habe sein Denken „als nihilistisch, obskurantistisch und politisch fragwürdig“ beschrieben. Wenngleich Habermas und Derrida später eine intellektuelle Allianz bildeten, klebt der Vorwurf der politischen Fragwürdigkeit bis heute an der Dekonstruktion. Vielleicht gerade weil sie „das rentabelste Produkt“ ist, „das je auf den Markt der akademischen Diskurse geworfen wurde“ (François Cusset). Peeters’ Gesamtschau macht sichtbar, was Derrida für seinen späten Text „Marx’ Gespenster“ apostrophiert hatte: nämlich dass sein Werk durchaus als „eine politische Tat“ zu lesen ist.

Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biographie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Suhrkamp, Berlin 2013. 935 Seiten, 39,95 Euro.

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