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Gezeichnet. Der elfjährige Okello leidet an der Nickkrankheit. Er lebt im Bezirk Gulu nördlich der ugandischen Hauptstadt Kampala.

© James Akena/Reuters

Nickkrankheit: Tödliche Verwechslung

Auf der falschen Fährte: Bei der rätselhaften Nickkrankheit attackiert das Immunsystem offenbar das Gehirn.

Im hintersten Winkel Afrikas, in der Grenzregion zwischen Uganda und dem Südsudan, leiden mehrere tausend Kinder an einer mysteriösen Erkrankung, der Nickkrankheit. Der Name leitet sich ab von den Nickbewegungen des Kopfes der Patienten. In etwa der Hälfte der Fälle beginnt die Erkrankung mit den charakteristischen Kopfbewegungen. Jetzt glauben amerikanische Forscher, die Ursache des tödlichen Leidens gefunden zu haben. Sie nehmen an, dass das Immunsystem Nervenzellen attackiert, weil es diese mit einem Parasiten „verwechselt“.

Bei einem Drittel fällt den Müttern als erstes Krankheitszeichen auf, dass sich das Kind unnormal verhält. Es hört nicht zu, kapselt sich von der Außenwelt ab und wirkt autistisch.

Bei den übrigen Patienten beginnt das Leiden mit epileptischen Anfällen. Sie treten erst einzeln, dann häufiger auf und nehmen an Schwere zu. Die Kinder fallen in offene Kochstellen und tragen schwere Verbrennungen davon oder ertrinken, wenn sich ein epileptischer Anfall beim Baden im Fluss ereignet. Weil sie das reflexartige Nicken hindert, essen die Kinder immer weniger. Parallel schwindet ihr Verstand. Die Kinder müssen festgebunden werden, damit sie nicht weglaufen und sich in der Savanne verirren.

Tausende Kinder sind betroffen

In den vergangenen zehn Jahren hat die Nickkrankheit das Ausmaß einer biblischen Plage angenommen. Nach Angaben von Hilfsorganisationen sind allein in Uganda tausende Kinder betroffen. Es ist für Außenstehende nur schwer vorstellbar, welches unermessliche Leid die bislang unerklärliche Krankheit bei Patienten und Angehörigen verursacht.

Kernspintomografische Untersuchungen zeigten einen deutlichen Abbau von Gehirnsubstanz, insbesondere von Arealen, in denen das Denkvermögen lokalisiert ist. Entzündungszeichen als Hinweis auf Krankheitserreger fand man dagegen nicht.

Mysteriös ist auch, dass die Erkrankung auf ein Gebiet begrenzt ist, in dem das Volk der Acholi lebt. Eine Ethnie aus der Völkergruppe der Niloten, die vor mehreren hundert Jahren vom Nil kommend in das Grenzgebiet zwischen dem Südsudan und Uganda eingewandert ist. In der baumbestandenen Savanne gibt es seit biblischen Zeiten ein großes Spektrum von Tropenkrankheiten von der Malaria bis zur Flussblindheit, auch Onchozerkose genannt.

Der Körper attackiert sich selbst

Eine Gruppe amerikanischer Wissenschaftler unter der Leitung von Tory Patricia Johnson vom Nationalen Institut für Neurologische Erkrankungen in Bethesda, Maryland, USA, glaubt nun, den krankmachenden Mechanismus der Nickkrankheit entdeckt zu haben. Die Forscher fanden Hinweise, dass gegen bestimmte Eiweiße von Gehirnzellen gerichtete Abwehrmoleküle (Antikörper) die Ursache sein könnten.

Die Bildung dieser Autoantikörper – also gegen körpereigene Strukturen gerichteter Antikörper – wird vermutlich durch parasitäre Würmer induziert, die die Verursacher der Onchozerkose sind, schreiben die Forscher im Fachjournal „Science Translational Medicine“.

Um ihre Hypothese zu überprüfen, setzte die Gruppe aus Neurologen, Immunologen und Proteinforschern ein Arsenal von Hightech-Labormethoden ein. In einem ersten Schritt suchten sie im Blut von Patienten mit Nickkrankheit nach Autoantikörpern und verglichen das Ergebnis mit dem von gesunden Kindern aus dem gleichen Dorf. Nach aufwendigen Reinigungsverfahren wurden sie fündig. Bei acht von zehn erkrankten Kindern (aber nur bei einem Drittel der Gesunden) ließen sich Antikörper gegen Leiomodin-1 nachweisen. Das Eiweiß findet sich im Inneren von Blutgefäß-, Muskel- und Gehirnzellen. Seine Aufgabe ist unbekannt.

Gesunde Gehirnzellen sterben ab

Um zu überprüfen, ob diese Autoantikörper tatsächlich Nervenzellstrukturen erkennen, wurden in Kultur gehaltene gesunde Nervenzellen (Neuronen) mit der Rückenmarkflüssigkeit eines Patienten zusammengebracht. Das Ergebnis war frappierend: Die Leiomodin-1-Antikörper banden sich nicht nur an die gesunden Gehirnzellen, sie führten nach einiger Zeit auch zu deren Absterben.

In einem letzten Schritt wurden Onchozerkose-Würmer auf Proteine untersucht, die in ihrer Struktur dem menschlichen Leoimodin-1 ähneln. Ausgesprochen überrascht waren die Wissenschaftler, als sie systematisch die Muskelzellen des Parasiten durchforsteten. Ein Eiweiß namens Tropomyosin war in seiner Aminosäuresequenz zu etwa einem Viertel mit der des Leiomodin-1 identisch. Die Teile des Tropomyosin-Moleküls, die als Erkennungsstellen für Immunzellen fungieren, waren sogar zu über 70 Prozent baugleich mit den entsprechenden Abschnitten von Leiomodin-1.

Die Wissenschaftler vermuten, dass ein Antigen-Mimikry für die Gehirnschäden bei der Nickkrankheit ursächlich ist. Demnach würden Tropomyosin-Eiweiße der Parasiten, die in das Blut eines Menschen gelangen, die Bildung von Antikörpern hervorrufen, die nicht nur die charakteristischen Abschnitte von Tropomyosin erkennen, sondern gleichzeitig auch die zufällig identisch aufgebauten Abschnitte des Nervenzellproteins Leiomodin-1. Gelangen diese Autoantikörper in das Gehirn, binden sie sich an solche Neuronen, die Leiomodin-1-Eiweiß in sich tragen. Das würde zeitverzögert diese Gehirnzellen absterben lassen.

Das Leiden trifft fast nur Kinder

So überzeugend die Resultate der anspruchsvollen Laborexperimente sind, erlauben sie gleichwohl keinen definitiven Rückschluss, ob der Ursachen-Wirkungs-Mechanismus zutrifft. Unerklärlich bleibt beispielsweise, warum sich die Nickkrankheit nahezu ausschließlich bei Kindern im Alter von fünf bis 15 Jahren entwickelt, wohingegen Jugendliche und Erwachsene von der Krankheit verschont bleiben. Dabei ist die Wurmkrankheit Onchozerkose im ländlichen Afrika bei Erwachsenen häufiger und stärker ausgeprägt als bei Kindern.

Außerdem ist schwer zu erklären, warum die schädlichen Antikörper nur bei den Patienten in das Zentralnervensystem gelangen. Und schließlich bestand in Bezug auf die Häufigkeit einer vorhandenen oder früher durchgemachten Onchozerkose kein gravierender Unterschied zwischen den Gruppen: Bei den Patienten lag der entsprechende Kennwert bei 80, bei den Gesunden bei 53 Prozent.

Die Autoren der Studie sind sich der Lücken ihrer Beweisführung bewusst und konzedieren, dass sie möglicherweise nur den Endstrang eines Ursachen-Wirkungs-Netzwerks gefunden haben. Welche Faktoren letztendlich die tödliche Kettenreaktion in Gang gesetzt haben, bleibt nach wie vor rätselhaft.

Gleichwohl sind die Ergebnisse ein Durchbruch, legen sie doch nahe, dass die Nickkrankheit eine Störung des Immunsystems ist. Dementsprechend könnten Medikamente eingesetzt werden, die auch bei anderen Immunstörungen des Gehirns helfen. Derzeit erhalten die Kranken nur Vitamine und Antiepileptika, die die Häufigkeit der epileptischen Anfälle vermindern sollen.

Hermann Feldmeier

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