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Junge steht stumm an der Tafel

© mauritius images

Mutismus: Jenseits der Stille

Wenn es Kinder an bestimmten Orten die Sprache verschlägt, hat das weder mit Trotz noch mit einem Trauma zu tun. Ihre Zunge löst sich auch nicht irgendwann von allein – das Schweigen sollte therapiert werden.

Es ist ein seltsames Paar, das da tagein tagaus durch das Stadtviertel geht: Die elegante junge Frau hat den fünfjährigen Jungen fest an der Hand, zusammen betreten sie einige Geschäfte, doch sie bleiben nur ganz kurz. Die Frau gibt eine Liste mit ihren Kaufwünschen ab, dann verlassen beide den Laden. Sie werden die Waren später abholen. Nur kein Aufenthalt. Sie grüßen nicht. Sie bleiben stumm. Selbst wenn die Metzgersfrau dem kleinen Jungen eine Scheibe Wurst anbietet. „Ach Gott, er kann uns ja gar nicht verstehen“, sagt sie betreten.

Der Junge versteht sehr wohl. Er ist nicht taub, er hat keine geistige Behinderung, die ihm das Erlernen des Zeichensystems Sprache unmöglich machen würde. Das Konzept ist ihm vertraut, sein Vater hat von klein auf mit ihm gesprochen. Er leidet auch nicht an einer Form des Autismus, die ihm prinzipiell den Kontakt zu seinen Mitmenschen erschweren würde. Er ist mit seinen Gefühlen ganz präsent, er bemerkt, dass seiner Mutter und ihm mitleidige Blicke folgen, dass ihnen bisweilen der Hohn der Leute entgegenschlägt.

„Wie gern hätte ich mich zur Wehr gesetzt und es allen Spöttern gezeigt, aber ich konnte es nicht“, erzählt Hanns-Josef Ortheil in seinem Buch „Die Erfindung des Lebens“. Es ist ein Roman mit autobiografischem Hintergrund. Der Mann, der später ein erfolgreicher Schriftsteller werden sollte, hat bis in die Grundschulzeit hinein geschwiegen – aus enger Verbundenheit mit seiner Mutter, der es erst als erwachsener Frau die Sprache verschlug. Später erfuhr Ortheil, welche Schicksalsschläge dazu geführt hatten. Die Eltern hatten vor seiner Geburt vier Söhne verloren.

Was Lehrer und Erzieher aggressiv macht, ist keineswegs so gemeint

Als „Totalen Mutismus“ (von lateinisch: mutus, stumm) bezeichnet die Wissenschaft das situationsübergreifende Schweigen, das Ortheils Mutter befiel, mit dem der Sohn aufwuchs und das er teilte. Ein Extremfall. Viel öfter kommt es vor, dass ein Kind nur in einigen Lebenslagen nicht redet, zum Beispiel in der Schule oder im Kindergarten. Kinder- und Jugendpsychiater verwenden dafür den Begriff „Selektiver Mutismus“. Im offiziellen Diagnose-Manual der Krankheiten, dem ICD-10, wird er als eine Störung definiert, „die durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert ist, sodass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht“.

Es steckt mehr dahinter als schlichte Maulfaulheit. Im Nachwort zum Kinderbuch „Der Junge in der Nussschale“ macht sich die Atem-Sprech- und Stimmlehrerin Sigrid Schönecker gewissermaßen zum Sprachrohr der Verstummten: „Den Kindern bereitet es Qualen, vor oder mit Fremden, Nachbarn und anderen, nicht zum engeren Familienkreis gehörenden Menschen zu sprechen.“

Rund 300 solcher Jungen und Mädchen hat die Kinder- und Jugendpsychiaterin Angelika Gensthaler vom Universitätsklinikum in Frankfurt am Main in den letzten Jahren kennengelernt. „Ihr Schweigen wird oft als eine passive Form der Aggression, als Ausdruck von Trotz und Verweigerung gesehen“, sagt sie. Doch was Lehrer und Erzieher auf die Dauer aggressiv machen kann, ist keineswegs so gemeint. Es ist vielmehr ein Unvermögen zu sprechen, ein „failure to talk“, wie es im amerikanischen Manual psychischer Erkrankungen, dem DSM, heißt, sagt Gensthaler. „Es ist ein Glück, dass der Selektive Mutismus dort nun endlich unter die Angststörungen eingereiht wurde.“

"Mit mir spricht es ja", stellt der Kinderarzt lapidar fest

Anders als Kindern, die nur ausgeprägt schüchtern sind, sieht man mutistischen Kindern ihre Angst meist nicht an. Sie wirken eher starr als nervös, verziehen keine Miene statt vor Verlegenheit rot zu werden. Und mit der Zeit verringern sich die Chancen, dass das Problem „sich von allein auswächst“. Anders als Schüchternheit wird das Schweigen oft sogar schlimmer und dehnt sich auf weitere Lebensbereiche aus. Später kann das zu sozialer Zurückweisung und Depressionen führen. Die Kinder brauchen also möglichst zeitnah Hilfe, sagt Gensthaler. „Zuwarten ist ein Kunstfehler!“

Eltern sind allerdings mitunter versucht abzuwarten, weil ihr Sohn oder ihre Tochter zuhause vor Mitteilungsbedürfnis geradezu übersprudelt. Gehen sie doch zum Kinderarzt, dann stellt der oft nur lapidar fest: „Mit mir spricht es ja!“ Und verkennt so die Tragweite des Problems. Viele Kinder treibt nämlich die Angst, etwas Falsches zu sagen. „Manche können deshalb vorbereitete Referate halten“, sagt Genthaler. „Sie beteiligen sich aber nicht am Unterrichtsgespräch.“

Für die Diagnostik hat sie zusammen mit ihrer Gießener Kollegin Christina Schwenck einen Fragebogen entwickelt, den die Eltern ausfüllen. Er wurde inzwischen an 334 Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich überprüft und hat sich als brauchbares Instrument erwiesen, um gesunde, sozial ängstliche und selektiv mutistische Heranwachsende voneinander zu unterscheiden – wobei die Schweiger meist zugleich auch die Diagnosekriterien für soziale Ängstlichkeit erfüllen und häufig unter Phobien leiden. Bei jedem vierten Jugendlichen mit Selektivem Mutismus wird eine ausgewachsene Agoraphobie, also eine übertriebene Angst vor bestimmten Situationen, festgestellt.

Die Kluft zwischen Elternhaus und weiter Welt verunsichert

Jedes fünfte der betroffenen Kinder spricht in der Schule überhaupt nicht, die meisten anderen nur in ausgewählten Situationen, etwa auf dem Schulhof mit drei bis vier Freunden – wenn der Lehrer nicht in der Nähe ist. Meist fällt die Sache im Kindergarten auf, mit knapp drei bis höchstens vier Jahren. „Es ist die Kluft zwischen Elternhaus und weiter Welt, die die Kinder zum Schweigen bringt“, sagt die Logopädin und Psychotherapeutin Nitza Katz-Bernstein, die bis vor kurzem an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund das Zentrum für Beratung und Therapie leitete.

Sie meint Kinder wie Giuseppe. Seine Familie stammt aus Kalabrien, zuhause spricht er die raue Mundart der Herkunftsregion. Er kann nicht gut Italienisch und gilt trotzdem in seiner Schule im Ruhrpott als „der Italiener“. Giuseppe verunsichert das. Er fühlt sich in keiner Sprache heimisch und erlebt in seiner Familie lauter wortkarge Männer. In einem Kindergarten war er nie, in der Schule schwieg er bis vor Kurzem konsequent.

Das Schweigen ist eine Bewältigungsstrategie

Die Forscher vermuten heute, dass viele dieser Kinder schon ein Temperament mitbringen, das sie mit Unbehagen und Erstarren auf neue Reize reagieren lässt. Dafür, dass das Veranlagung ist, sprechen in vielen Fällen die introvertierten, sozial gehemmten, schweigsamen Verwandten. Als denkbare biologische Erklärung gilt eine Überaktivität des Mandelkerns, der Amygdala. Sie ist das Angstzentrum im limbischen System des Gehirns. Dazu kommt möglicherweise eine zu spärliche Versorgung mit dem Hirnbotenstoff Serotonin. Eine andere These gilt dagegen als widerlegt: Die Kinder sind nicht traumatisiert worden. Sie stehen auch nicht unter dem Eindruck von Vernachlässigung oder Missbrauch.

Als Anja Starke von der TU Dortmund an Grund- und Förderschulen in Nordrhein-Westfalen Kinder befragte, fand sie bei 2,6 Prozent von ihnen deutliche Symptome eines Mutismus. Vor allem bei mehrsprachig aufwachsenden Schüler und Schülerinnen. Inzwischen hat Starke in einer Längsschnittstudie, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind, das Geschick von 30 Drei- bis Fünfjährigen über neun Monate verfolgt. 18 von ihnen hatten anfangs in der Kita geschwiegen, elf wuchsen mehrsprachig auf.

Kein Argument gegen mehrsprachige Erziehung

Es zeigte sich, dass nicht die Zweisprachigkeit an sich es ist, die die Kinder verstummen lässt. Was sie hemmt, ist vielmehr ein Mix aus Wesensmerkmalen und Lebensumständen, aus eigener Ängstlichkeit und den Schwierigkeiten, die ihre Eltern haben, nach der Migration kulturell Fuß zu fassen. „Es muss bei einem mehrsprachigen Kind viel zusammenkommen, damit es ein höheres Risiko hat“, sagt Starke. Auf keinen Fall lasse sich aus dem Problem ein Argument gegen mehrsprachige Erziehung ableiten.

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Der Selektive Mutismus trifft sowohl perfektionistische Kinder als auch solche, die Angst haben, „irgendwie komisch“ zu sprechen. Zum Beispiel, weil sie bestimmte Laute nicht aussprechen können oder stottern. Begleitende Sprachentwicklungsstörungen werden in 30 bis 50 Prozent der Fälle diagnostiziert. „Wir helfen dem Kind dann, sein Sprechen anderen zuzumuten“, sagt Nitza Katz-Bernstein. Die Therapeutin sieht das Schweigen als Bewältigungsstrategie: „Sie verschafft dem Kind ein Gefühl von Kontrolle.“ Gleichzeitig führt es ihm allerdings seine Machtlosigkeit vor Augen. Denn seine Befangenheit und die Angst sind echt. Auch wenn das Schweigen auf Lehrer und Erzieher anders wirkt. Es damit allein zu lassen, würde ihm Entwicklungschancen verbauen.

Situationen schaffen, in denen das Kind spontan sprechen möchte

Auf keinen Fall dürfe man zulassen, dass das Kind nicht in den Kindergarten oder in die Schule geht, sagt Katz-Bernstein. Im Gegenteil. Dort muss das Problem gelöst werden. „Die Therapie sollte möglichst am Ort des Schweigens stattfinden“, sagt auch Gensthaler. Bewährt hat sich eine Behandlung nach verhaltenstherapeutischen Prinzipien, die ohne Druck auskommt und die Aufmerksamkeit nicht auf das Sprechen lenkt. Nach und nach entstehen Situationen, in denen sich ein Kind spontan mitteilen möchte und das Schweigen dabei ganz vergisst. In schweren Fällen können zusätzlich Antidepressiva wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) dabei helfen, zeigte eine kanadische Studie der Arbeitsgruppe von Katharina Mannassis. Die derzeitigen Therapieempfehlungen sind in einem Konsens-Papier zusammengefasst, das 2008 im „British Medical Journal“ erschienen ist. Vielen Kindern helfe es, nach einer Leiter zu suchen, sagt Nitza Katz-Bernstein. Auf deren Stufen können sie aus der verfestigten Situation aussteigen.

Für den kleinen Jungen, von dem Hanns-Josef Ortheil erzählt, war diese Leiter der Vater. Er fuhr mit ihm in seine ländliche Heimat und brachte ihm die Natur nahe. Eines Abends sah der Junge vor der Dorfwirtschaft zwei andere Kinder Fußball spielen. „Ich schaute ihnen zu, es war so schön, das zu sehen, dieses ruhige Kicken, kein Streit, kein Sprechen, nur dieses Kicken hin und her. Da machte ich eine kleine Bewegung nach vorn und rief den beiden zu: Gebt mal her!“ Fast wäre der Junge gestürzt, so sehr erschrak er über seine eigenen Worte. Sie waren ganz beiläufig gefallen.

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