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Gewichtige OP. Rund 340000 Menschen legten sich 2011 für eine Magenverkleinerung, ein Magenband oder eine Magen-Bypass-OP unters Messer.

© SPL

Medizin: Die Skalpell-Diät

Für Fettleibige ist eine Operation oft der letzte Ausweg. Viele von ihnen sind hinterher schlanker und gesünder. Doch die Krankenkassen in Deutschland zahlen nur ungern.

Am Ende aller Diäten wog Maren Brüggemann 140 Kilogramm. Fast drei Zentner, bei einer Körpergröße von 165 Zentimeter. Dazu hatte sie Bluthochdruck und war zuckerkrank, konnte mit ihren 46 Jahren nicht mehr arbeiten und wurde von Luftnot gequält. „Nach drei Treppenstufen brauchte ich meine Sauerstoffflasche“, erinnert sich die Potsdamerin. In ihrer Verzweiflung suchte sie im Internet und stieß auf die Möglichkeit, sich wegen schwerer Fettsucht operieren zu lassen.

Am 1. März 2011 war es so weit. An der Berliner Charité bekam Brüggemann einen Magen-Bypass. Innerhalb von 18 Monaten nahm sie 75 Kilo ab. Der Blutdruck normalisierte sich, und der Diabetes verschwand. „Das war mein zweiter Geburtstag“, sagt Brüggemann.

Von 140 auf 65 Kilo – seine Potsdamer Patientin ist ein mustergültiges Beispiel. Das weiß auch Jürgen Ordemann, ihr Operateur. Der Chirurg hat an der Charité ein Zentrum für Adipositas (Fettsucht) und Metabolische Chirurgie aufgebaut, wobei „metabolisch“ so viel heißt wie „Stoffwechsel“. Ordemann weist darauf hin, dass die Operation nur Teil eines umfassenden Behandlungskonzepts ist, längst nicht immer den erwünschten Effekt hat und zudem mit Nebenwirkungen behaftet ist. Und doch gibt es keine Methode, die so erfolgreich Fettsucht bekämpfen kann. Eine Operation befreit den Patienten von 30 bis 80 Prozent seiner überflüssigen Pfunde und drei von vier Zuckerkranke von ihrem Leiden.

Es ist deshalb kein Wunder, dass die „bariatrische Chirurgie“ (von Baros, griechisch für Gewicht) in den letzten Jahren einen starken Aufschwung genommen hat. Wurden zwischen 1987 und 1989 weltweit ganze 5000 Operationen vorgenommen, waren es 2011 bereits 340 000, zwei Drittel davon in Nordamerika. Für eine Operation infrage kommen Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI, Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat) ab 40, also erheblich Fettsüchtige. Gibt es bereits medizinische Folgeerkrankungen wie die Zuckerkrankheit Diabetes mellitus, kann ein Eingriff schon bei einem BMI von 35 erfolgen. Nach einer Hochrechnung kanadischer Wissenschaftler müsste demnach allein in den USA jeder Zehnte unters Messer. Mehr als 90 Prozent der Eingriffe erfolgen heute minimalinvasiv, also mit Schlüssellochtechnik.

Wie bei vielen Erfindungen stand auch bei der Chirurgie der Fettsucht der Zufall Pate. Medizinern war aufgefallen, dass Patienten deutlich an Gewicht verloren, wenn ihnen etwa wegen einer Krebserkrankung der Magen oder Teile des Dünndarms entfernt wurden. Vor einem halben Jahrhundert begannen dann amerikanische Operateure, aus der Nebenwirkung eine Hauptwirkung zu machen – die bariatrische Chirurgie war geboren.

Seit fast 40 Jahren erprobt und am wenigsten eingreifend ist das Magenband. Es wird um den oberen Teil des Magens geschlungen (s. Grafik) und lässt sich von außen verengen oder weiter stellen und jederzeit wieder entfernen. Das Band verkleinert den Magen, das Gefühl der Sättigung stellt sich dadurch viel eher ein und man isst weniger. „Der Nachteil ist, dass das Band nicht betrugssicher ist“, sagt Ordemann. „Eis, Cola, Säfte oder Pudding lässt es ungehindert passieren.“ Weil der Gewichtsverlust nicht so stark ausfällt, ist die Technik zudem kaum für Superdicke geeignet.

Vor 20 Jahren entwickelten Chirurgen die Schlauchmagen-Technik. Sie verzeichnet weltweit in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung. Dabei wird ein großer Teil des Organs entfernt, aus einem „Fußball-“ wird ein „Bananen-Magen“. Ähnlich wie beim Magenband wird man schneller satt. Außerdem wird der Appetit gedämpft, weil der Magengrund bei dem Eingriff entfernt wird. Damit kann das in dieser Zone gebildete hungerauslösende Hormon Ghrelin seine Wirkung nicht mehr entfalten. Die Gewichtsabnahme ist stärker als beim Magenband.

Den stärksten Effekt hat der weltweit bei jedem zweiten Patienten erfolgte Magen-Bypass. Dabei wird der obere Teil des Magens direkt an den vorderen Dünndarm angenäht, der größte Teil des Magens und der Zwölffingerdarm werden damit aus der direkten Nahrungsmittelpassage herausgenommen. Die Verdauungssekrete aus Gallenblase und Bauchspeicheldrüse werden erst etwa 100 Zentimeter unterhalb der Verbindung von Magen und Dünndarm über eine weitere Verbindung in den Dünndarm eingeführt.

Die Operation hat es in sich. Sie beeinflusst den Hormonstoffwechsel, kann Riechen und Schmecken verändern und so zu tiefgreifenden Veränderungen führen, was Appetit und persönliche Vorlieben für Speisen angeht. „Ich bin zum Gourmetesser geworden“, sagt Maren Brüggemann. „Es gibt nur noch Kinderportionen, beim Grillen lieber ein Straußensteak als Bratwurst und Kammscheibe.“ Viele Patienten berichten, dass nach dem Eingriff der Appetit auf Dickmacher wie Pommes und Sahneeis geringer wird und dafür die Neigung zu Obst und Gemüse zunimmt.

Nach der Operation brauchen die Patienten jedoch weiterhin medizinische und psychologische Betreuung. Sie müssen Ernährung und Lebensstil langfristig umstellen. Mitunter leiden sie nach dem Essen unter dem Dumping-Syndrom, bei dem es zu Bauchschmerzen, Übelkeit, Kreislaufstörungen und plötzlicher Unterzuckerung kommen kann. Nach einem Magen-Bypass müssen zudem lebenslang Vitamine und Spurenelemente eingenommen werden.

Nicht in jedem Fall ist der Erfolg von Dauer. „Das ist fast wie bei Krebs, man fürchtet sich vor dem Rückfall“, sagt die Patientin Brüggeman. Der Chirurg Ordemann schätzt, dass 20 bis 30 Prozent der Operierten in ihre alten Essensgewohnheiten zurückfallen und damit den Therapieerfolg gefährden.

Der rasche und meist anhaltende Gewichtsverlust nach der Schlauchmagen- und der Bypass-Operation erhöht nicht nur die Lebensqualität, sondern hat auch sehr erwünschte medizinische Nebenwirkungen. Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, Schlafapnoe (Atemaussetzer im Schlaf), Asthma und weitere Gesundheitsprobleme bessern sich dramatisch oder verschwinden ganz. Besonders bedeutsam ist dabei die Zuckerkrankheit, denn jahrelang anhaltender Diabetes schädigt Blutgefäße und Nerven und erhöht das Risiko für Herz- und Gefäßleiden deutlich.

Warum die Fettsucht-Chirurgie die Zuckerkrankheit in die Schranken weist, ist nicht endgültig geklärt. Vermutlich ist es nicht der Gewichtsverlust allein, sondern auch ein veränderter Hormonhaushalt im Verdauungstrakt, der den Stoffwechsel wieder ins Gleichgewicht bringt. Und so gibt es Überlegungen, mit der Operation direkt Diabetes zu kurieren. An vier Kliniken in den USA und Taiwan wurde die Diabetes-Chirurgie nun wissenschaftlich geprüft.

An der Studie von Sayeed Ikramuddin von der Universität von Minnesota in Minneapolis nahmen 120 Patienten teil, die seit mindestens sechs Monaten an Diabetes Typ 2 („Alterszucker“) litten und einen BMI von 30 bis 39,9 hatten, also allenfalls gering oder mittelgradig fettsüchtig waren. Die eine Hälfte der Patienten bekam neben Medikamenten lediglich eine Diätberatung, die andere erhielt einen Magen-Bypass. Nach einem Jahr hatte die Diätgruppe acht, die Bypass-Gruppe dagegen 26 Prozent an Gewicht verloren. Zudem hatten sich bei den Operierten Blutzucker, Cholesterin und Bluthochdruck erheblich gebessert, so dass weniger Medikamente benötigt wurden. Auf der anderen Seite hatten die Bypass-Patienten aufgrund des Eingriffs auch mehr Nebenwirkungen als die Nichtoperierten. Die entscheidende Frage ist, ob der Nutzen des Eingriffs die Risiken bei Diabetikern überwiegt, deren Gewicht nicht zu stark erhöht ist. Um darauf eine Antwort zu finden, bedarf es noch weiterer Untersuchungen.

Der Charité-Mediziner Ordemann ist überzeugt, dass die Adipositas-Chirurgie den Betroffenen langfristig hilft und nicht nur vor Krankheiten, sondern auch vor einem frühen Tod bewahren kann. Er verweist auf die Ergebnisse der schwedischen „SOS“-Studie, in der rund 2000 Patienten nach einer Adipositas-Operation mit 2000 schwergewichtigen Nichtoperierten verglichen wurden. Während sich beim Gewicht der nicht operierten Dicken in 15 Jahren praktisch nichts tat, ging es bei den Operierten um im Mittel 13 bis 18 Prozent (Magenband-Verfahren) und 27 Prozent (Magen-Bypass) zurück. Von den Operierten starben 101, von den Nichtoperierten 129. Das Risiko zu sterben war im Untersuchungszeitraum für Operierte also um ein Viertel (rund 25 Prozent) verringert.

Allerdings gibt es abgesehen von der SOS-Studie nur wenige vergleichende Langzeituntersuchungen. Und trotz der Erfolge zahlen deutsche Krankenkassen nur äußerst ungern für den Eingriff. Womöglich, weil sie auch einen finanziellen Dammbruch befürchten. Eine Operation kann je nach Art des Eingriffs 6000 bis 13000 Euro kosten. Chirurgen argumentieren, dass diese Ausgaben bereits nach einigen Jahren durch geringere Aufwendungen für Medikamente und andere Therapien aufgewogen werden.

Die Hürden sind hoch. So müssen herkömmliche Therapien wie Sport- oder Diätprogramme ein halbes Jahr erprobt und sich als nachweislich aussichtslos erwiesen haben. Selbst dann dauert es häufig Jahre, bis der Antrag für eine Adipositas-Operation durch die Krankenkasse genehmigt wird. Für manchen kommt die Hilfe zu spät. Ordemann erinnert sich an den Anruf einer Mutter vom Totenbett ihres Sohnes. Er war mit 40 Jahren an einer Lungenembolie gestorben, einer Komplikation extremen Übergewichts. „Wir haben vier Jahre erfolglos um die Kostenübernahme für eine Operation gekämpft“, erinnert sich der Chirurg.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind die Operationszahlen in Deutschland niedrig. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2008 erfolgten hierzulande rund 2100 Eingriffe, damit lag das Land zum Beispiel hinter Spanien (6000) und Frankreich (fast 14 000). Auch die Mentalität mag eine Rolle spielen. In Deutschland gilt Dicksein als Charakterschwäche. „Meine Patienten bekommen oft zu hören, dass sie sich zusammenreißen sollen“, sagt Ordemann. In den USA begegne man schweren Patienten anders. Eben als Patienten. Dazu passt, dass die US-Ärztevereinigung AMA (American Medical Associaton) beschlossen hat, erhebliches Übergewicht (BMI ab 30) als Krankheit einzustufen. Damit wird es vermutlich leichter für die Betroffenen, Hilfe zu bekommen. Aber Kritiker monieren, dass nun jeder dritte Amerikaner als krank abgestempelt wird – qua Gewicht. Eine Übertreibung, von der man in Deutschland weit entfernt ist.

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