zum Hauptinhalt
Zusammenstehen. Die Bewegung „Pulse of Europe“ steht für ein neues Narrativ, das populistischer Kritik an Europa und Absetzungsbewegungen eine erfreuliche Botschaft entgegensetzen soll.

© picture alliance / Jörg Carstens

Liberalismus versus Populismus: Erzählen um die Wette

Westlicher Liberalismus und Weltoffenheit stehen unter Druck. In Berlin wurde diskutiert, was sie dem Populismus entgegensetzen können.

Fact checking, das sieht mancher als Heilmittel gegenüber falschen Behauptungen populistischer Politiker oder ihrer Anhänger. Wenn erst die Wahrheit im Fall X oder Y nachgewiesen ist, dann wird doch keiner mehr ihren Lügen Glauben schenken! Dann wird doch die Überlegenheit einer liberalen, faktenbasierten Weltsicht deutlich! Albrecht Koschorke, Literaturwissenschaftler aus Konstanz, ist da skeptisch: „Im Signalsystem populistischer Rhetoriken ist der wörtliche Inhalt von Äußerungen nur ein und nicht das wichtigste Element“, sagt Koschorke.

Wichtiger seien die affektiven und Gruppensignale, die populistische Führer aussenden. Und die bestehen in einer doppelten Botschaft: Man sieht sich überall von „den Eliten“ unterdrückt und benachteiligt und berauscht sich an einer „rücksichtslosen Selbstermächtigung“, dass jetzt endlich einmal gesagt und getan werden dürfe, was zuvor angeblich verboten war. Ob die Fakten stimmen oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle.

Kampf um die Zukunft

Bei dem Kampf zwischen populistischen und liberalen Strömungen geht es eben nicht nur um Tatsachen, Auffassungen, politische Inhalte. Es geht um Erzählungen – „Fact follows fiction“, in den Worten von Albrecht Koschorke – oder, sozialwissenschaftlich gesprochen, um Narrative. Wer hat die bessere, die überzeugendere, wirkmächtigere Erzählung? Wessen „Zukunftsversprechen“ ist glaubwürdig?

„Wettbewerb der Narrative – Zur globalen Krise liberaler Erzählungen“ war kürzlich der Titel einer Tagung von Goethe Institut, Heinrich-Böll-Stiftung, Käte Hamburger Kolleg und dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) – eine ungewöhnliche Kombination von Tagungsveranstaltern. Aber, so Stefan Mair vom BDI: „Die deutsche Industrie ist die am meisten globalisierte der Welt, auf Basis einer liberalen Wirtschaftsordnung.“ Wenn diese Ordnung angegriffen werde, müsse sich auch die Industrie in die Diskussion einbringen.

Der Blick von außen, den die Tagung im Gebäude der Akademie der Wissenschaften dezidiert suchte, zeigt, dass die liberale „Erzählung“ in anderen Weltteilen durchaus kritisch gesehen wird. Chandran Nair, Gründer eines Thinktanks in Hongkong, sieht darin einen „Teil einer selbstsüchtigen Agenda“, um die vom Westen entworfene, mit krasser Ungleichheit verbundene Weltordnung zu erhalten. Was nützt das Recht auf freie Meinungsäußerung, wenn ein Mensch keinen Zugang zu Trinkwasser hat?, fragte er. Die „Populisten-Revolte“ komme für die westlichen Eliten nur deshalb überraschend, „weil sie die tragischen Konsequenzen ihres engstirnigen Verständnisses von Fortschritt und Moderne“, darunter die Aushöhlung von Kulturen und Traditionen, zu lange geleugnet hätten.

Sollen Leistungsträger neben Volksvertretern entscheiden?

Der chinesische Philosoph Tongdong Bai schlug eine konfuzianische Alternative zur liberal-demokratischen Ordnung, eine Meritokratie, vor: Da die Massen weder moralisch noch intellektuell kompetent seien, politische Entscheidungen zu treffen, solle es neben einer demokratisch gewählten Kammer auch eine Kammer mit ernannten, „verdienten“ Leistungsträgern geben.

Dass im Liberalismus selbst auch illiberale Momente stecken, betonte die schwarze US-amerikanische Juraprofessorin Michele Goodwin. „Man erzählt uns, es ginge in der amerikanischen Verfassung um Gleichheit“, sagte sie. „Aber in Wirklichkeit geht und ging es immer um Hierarchie.“ Selbst die als „Abgehängten“ bezeichneten weißen Arbeitslosen blickten immer noch auf andere Gruppen herunter: auf Schwarze, auf Latinos. „Sie würden deren Arbeit nicht machen.“

Das „Zukunftsversprechen“ der liberalen Erzählung jedenfalls, dass es einmal allen besser gehen werde, dass Freiheit und Gerechtigkeit für alle herrschen würden, sei nicht mehr glaubwürdig: Das hatte Albrecht Koschorke schon in seinem einleitenden Vortrag gesagt. Die liberalen westlichen Gesellschaften als ganze blendeten aus, dass sie auf Kosten der ärmeren Länder und der ökologischen Ressourcen kommender Generationen leben, so Barbara Unmüßig von der Böll-Stiftung. Aber die Nationalisten ihrerseits haben keine Antworten auf genau diese Probleme, die – wie der Klimawandel – nicht national zu lösen sind.

Begriffe der Populisten umdeuten

Was also tun? Eva Horn, Literaturwissenschaftlerin aus Wien, schlug vor, Begriffe der Populisten zu übernehmen und für liberale Zwecke umzudeuten. So wie die Schwulenbewegung sich das Wort „gay“ – einst ein Schimpfwort – angeeignet habe, so könnten auch Liberale Wörter wie „Heimat“ umdefinieren: „Heimat lässt sich ja auch als Ort definieren, an dem verschiedene Kulturen zu Hause sind.“ Liberale sollten ihre Tendenz, „vom moralisch hohen Ross zu predigen“, kritisch befragen. „Viele glauben, sie seien im alleinigen Besitz der Wahrheit. Deswegen erscheinen liberale Diskurse oft als illiberal.“ Mehr Humor, Offenheit, andere, inklusive Formen der Kommunikation: Das praktiziere etwa die Initiative „Offene Gesellschaft“ um den Soziologen Harald Welzer, die in Town Hall Meetings das Gespräch zwischen den Bürgern organisiert.

Vielleicht steckt ein Teil der Lösung nicht in der „Erzählung“, sondern im „Erzählen“ selbst. Unter den Teilnehmern der Konferenz war auch die schottische Erzählkünstlerin Rachel Clarke. Sie organisiert in Berlin eine „Storytelling Arena“, in der Syrer und Deutsche aus ihrem Leben erzählen, einem gemischten Publikum ihre Erfahrungen und Empfindungen verstehbar machen.

Mit diesem Konzept möchten Clarke und ihre Erzähler demnächst auch in Ostdeutschland auftreten. Kleine Utopie: dass auch AfD-Sympathisanten unter den Zuhörern sein könnten und einfach mal den ganz persönlichen Berichten der Geflüchteten zuhören. Wer zuhört, schimpft und ängstigt sich nicht, und einen Menschen, dem man zugehört hat, wird man hinterher nicht angreifen.

Die Utopie wäre (nur) dann komplett, wenn auch die AfD-Sympathisanten von ihren Problemen, Ängsten, Sehnsüchten erzählen und damit auf interessierte Zuhörer treffen würden. Erzählungen können trennen; Erzählen verbindet.

Zur Startseite