zum Hauptinhalt
Schlingtheorie. Physiker lösen das Rätsel sich öffnender Schnürsenkel.

© Mauritius

Knotenkunde: Endlich aufgeklärt: Warum sich Schnürsenkel lockern

Jeder hat sich schon gefragt, warum die Knoten in den Schnürsenkeln immer aufgehen. Die Antwort ist verknüpft mit Einsteins Relativitätstheorie.

Seit ich meine Schuhe selber zubinden kann, habe ich stets das Gefühl gehabt, dass die Knoten überdurchschnittlich oft wieder aufgingen. Seit Kurzem weiß ich, dass mein Gefühl nicht getrogen hat. Denn ich habe 60 Jahre lang den „Altweiberknoten“ geschnürt, der offenbar genauso gut „Altmännerknoten“ heißen könnte. Und der hält nun mal nicht so gut wie der richtige Knoten. Die Knotenkunde kennt ihn als „doppelt-geslippten Kreuzknoten“. Ich habe mich eine geschlagene Stunde lang abwechselnd wie ein Segelschüler oder wie ein Kind gefühlt, ehe ich ihn knüpfen konnte. Von acht Möglichkeiten sind vier falsch.

Tröstlich, dass auch der richtige Knoten nicht ewig hält. Joggerinnen und auch Jogger können ein Lied davon singen. Nun aber haben endlich drei Wissenschaftler der University of California in Berkeley sich des Problems angenommen. Im Fachblatt „Proceedings of the Royal Society“ haben sie beschrieben, wie und warum jeder Schuhknoten irgendwann aufgeht. Aber eigentlich hätte es schon Isaac Newton vor fast 400 Jahren herausfinden können – wenn es ihn interessiert hätte.

Die Trägheit löst selbst beste Knoten

Newton hätte nur die von ihm gefundenen Gesetze der Mechanik anwenden müssen. Das grundlegende erste Gesetz beschreibt die „Trägheit der Materie“. Damit ist natürlich nicht eine der sieben Todsünden gemeint, sondern die Eigenschaft unbeseelter Materie. Jeder Körper behält seine Bewegung so lange bei, bis ihn eine äußere Wirkung beschleunigt oder abbremst oder seine Bewegungsrichtung ändert.

Beim Schnürsenkel-Problem macht sich die Trägheit bei jedem Schritt gleich auf doppelte Weise bemerkbar. Zunächst wird der Schuh beim Aufsetzen auf den Boden jäh in seiner Bewegung nach unten gestoppt. Der Schnürsenkel aber bewegt sich wegen seiner Trägheit je nach Elastizität noch ein kleines bisschen weiter, ehe auch er abgebremst wird. Dadurch wird der Knoten jedes Mal ein bisschen gedehnt und gelockert.

Beim Aufsetzen des Schuhs wird zweitens auch seine Vorwärtsbewegung unterbrochen. Die beiden Schleifen des Knotens und seine beiden freien Enden schwingen wegen ihrer Trägheit jedoch noch ein Stück weiter nach vorn. Dadurch ziehen sie mit jedem Schritt den bereits vorgelockerten inneren Knoten ein bisschen weiter auf. Die beiden losen Enden des Schnürsenkelknotens schnellen dabei meistens noch etwas weiter nach vorn als die steiferen Schleifen. Und deshalb ziehen sie letzten Endes den Knoten in aller Regel so auf, wie wir ihn auch absichtlich öffnen würden, durch einen entschlossenen Zug an einem der beiden losen Enden. Der umgekehrte Fall, bei dem die Schleifen die losen Enden herausziehen würden, tritt zum Glück nur selten auf. Der dabei entstehende Knotenkuddelmuddel ist bekanntlich nur mit langen Fingernägeln zu öffnen. Offenbar sind die Gesetze der Mechanik hier auf unserer Seite.

Die Trägheit der Materie bleibt unüberprüfbar

Die drei Wissenschaftler, die jetzt endlich diese Lücke im Wissen der Menschheit geschlossen haben, sind aussichtsreiche Anwärter auf den „Ig-Nobelpreis“. Dieser satirische „ignoble“, also „unedle“ Anti-Nobelpreis würdigt Arbeiten, die „zuerst zum Lachen und dann zum Nachdenken reizen“ – in diesem Fall also zum Nachdenken über das Wesen der „Trägheit“. Genau besehen ist die Trägheit von Körpern eine sehr gewagte Behauptung. Würde zum Beispiel ein Raumschiff tatsächlich antriebslos für immer und ewig auf einem vollkommen geraden Weg weiterfliegen, wenn es sich vollkommen unbeeinflusst von anderen Körpern bewegen würde? Um dies zu überprüfen, bräuchte man erstens einen unendlich großen Raum, zweitens unendlich viel Zeit und drittens unendliche Geradlinigkeit. Dieser „absolute Raum“, wie Newton ihn taufte, dürfte also keinen einzigen weiteren Körper enthalten, der mit seiner anziehenden Gravitationskraft das Raumschiff auf eine krumme Bahn ablenken würde. Fazit: Die Trägheit der Materie ist eine unüberprüfbare Eigenschaft. Aber immerhin ist es eine Eigenschaft, die erklären würde, warum sich irgendwann jeder Schuhknoten öffnen muss.

Die meisten Menschen jedoch würden die ärgerliche Knotenöffnung sowieso nicht auf die Trägheit der Materie zurückführen. Denn sie hätten wohl nur den Schnürsenkel im Blick, nicht aber die Abbremsung des Schuhs. Und aus dieser Sicht widerfährt dem Schnürsenkel das gleiche Geschick, das auch jeder Autofahrer aus leidvoller Erfahrung kennt, wenn er nicht angeschnallt einen Auffahrunfall erlebt. Beim Aufprall fühlt er sich von einer unwiderstehlichen Kraft gegen die Windschutzscheibe geschleudert. Und genau so scheint bei jedem Schritt eine Kraft die beweglichen Teile des Knotens zu ergreifen und vom Schuh weg nach vorne zu ziehen.

Wer lockert die Schleife - Kraft oder Trägheit?

Doch was bewegt sowohl den Autofahrer als auch Knotenschleifen und lose Enden eines Schnürsenkels denn nun wirklich, eine Kraft oder ihre Trägheit? Vor rund 100 Jahren grübelte auch Albert Einstein über diese Frage. Hätte er dabei an Schuhknoten gedacht, wäre er zu folgendem Ergebnis gekommen: Ob Trägheit der Materie oder eine Kraft am Werk gesehen wird, ist nur eine Frage der Relativität. Es hängt davon ab, auf welchen Raum man die Bewegung bezieht. Von außen gesehen bewegen sich zunächst der Schuh und der Knoten zusammen durch den umgebenden Raum. Nach dem Auftreten und Abbremsen des Schuhs sorgt dann die Trägheit der beweglichen Schnürsenkelteile für ihre Weiterbewegung. Eine Kraft ist dazu nicht nötig.

Ganz anders sieht dieser Vorgang aus, wenn man ihn aus der Sicht des Schuhs beschreibt, relativ zu einem Raum, der sich mit dem Schuh mitbewegt und auch mit ihm zusammen abgebremst wird. Im Vergleich zu diesem mitbewegten und dann abgebremsten Raum bleibt der Schuh die ganze Zeit über in Ruhe. Auch der Knoten bewegt sich zunächst nicht. Plötzlich aber fliegen, wie von Geisterhand gepackt, die Schleifen und die losen Enden des Schuhknotens nach vorne vom Schuh weg. Ein Beobachter in diesem Raum könnte also vermuten, dass eine anziehende Gravitationskraft die Ursache der Bewegung war.

Eben diese Überlegungen führten Einstein zu den Grundideen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie. Trägheit und Gravitation sind eng miteinander verwandt. Was in einem Bezugsraum aussieht wie Trägheit kann in einem anderen Bezugsraum wie Gravitation erscheinen. Und daraus zog Einstein einen kühnen Schluss: Gravitation, seit Newton als Anziehungskraft zwischen Massen interpretiert, ist in Wahrheit ein Phänomen des Raumes. Angewendet auf den Bezugsraum „Kosmos“: Wenn man ihm die richtige Geometrie verpasst, bewegen sich die Himmelskörper kräftefrei auf krummen, aber ganz natürlichen Bahnen genauso durch ihn hindurch, wie man es beobachtet.

Ärgern Sie sich also nicht, wenn Ihr Schuhknoten aufgegangen ist. Der Knoten-lösende Tanz der Schleifen und losen Enden des Schnürsenkels durch den Raum um den Schuh herum kann Ihnen eine Ahnung schenken von Einsteins Grübeleien über die Geheimnisse der Gravitation in der Raum-Zeit-Geometrie der Welt. Es erstaunt, dass der Knotentanz den gleichen Gesetzen folgt, nach denen auch Monde, Planeten, Kometen und Sterne durch die Räume des Kosmos fliegen. Sie können also sicher sein: Falls es sonst noch irgendwo im Kosmos Schuhknoten geben sollte wie bei uns, dann gehen sie auch dort auf.

Zur Startseite