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Gefährliche Aufgabe. In Pakistan, wo diese Aufnahme entstand, wurden Impfhelfer von Islamisten ermordet. Foto: dpa

© dpa

Kinderlähmung: Zäher Kampf gegen ein Virus

Seit 25 Jahren versucht die Weltgesundheitsorganisation, Polio auszurotten: Es gibt viele Fortschritte, aber auch herbe Rückschläge.

Die Frauen waren wütend. Im Radio hatten sie gehört, dass sie zu ignorant seien, um den Sinn der Polioimpfung zu verstehen. Stattdessen würden sie Gerüchten auf den Leim gehen und damit das Leben ihrer Kinder gefährden. Nun kam wieder ein Besserwisser aus dem Westen in ihr Dorf. „Wenn wir so dumm sind, warum hinterfragen wir dann, was gut für unsere Kinder ist?“, schleuderte eine von ihnen Heidi Larson an den Kopf. Die Anthropologin stutzte. „Diese Mütter hatten einen Punkt“, sagt sie. „Menschen hassen Propaganda. Egal, wo sie leben. Man kann nicht einfach sagen: Vertrau mir. Ich weiß, was gut für dich ist.“

Das ist etwa zehn Jahre her, Larson war damals für die Kommunikationsstrategien rund um die Impfkampagnen von Unicef zuständig. Dass gut gemeinte Infoplakate und Broschüren kaum einen Impfgegner überzeugen, war ihr nur allzu bewusst. Sie wollte verstehen, welches Problem die Menschen vor Ort wirklich mit der Impfung hatten. Deshalb reiste sie auch in weit abgelegene Dörfer im Norden Nigerias. Dorthin, wo Polio bis heute nicht besiegt ist.

2018 soll Polio endgültig vom Globus vertrieben sein

Seit 25 Jahren versucht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Kinderlähmung auszurotten. Das Poliovirus findet keinen anderen Wirt im Tierreich und so ist es theoretisch möglich, es völlig zu vertreiben. 1980 ist das mit den Pocken gelungen, Polio sollte bis zum Jahr 2000 folgen. Das Ziel wurde immer wieder verschoben, laut dem neuen Strategieplan der Global Polio Eradication Initiative (GPEI) soll es nun 2018 so weit sein. Der Versuch hat bisher mehr als sieben Milliarden Euro gekostet, finanziert aus öffentlichen Kassen und durch private Spender wie Rotary und die Gates-Stiftung.

Polio ist ein heimtückischer Gegner. 90 Prozent der Infizierten merken davon gar nichts, stecken aber andere an. Viele bekommen Fieber, fühlen sich müde, erbrechen sich. Sie haben einen steifen Hals und schmerzende Glieder. Nur einer von 200 Erkrankten erleidet die klassische Kinderlähmung, mit irreversiblen Folgen. „Das Virus kann sich zunächst unbemerkt verbreiten“, sagt Elizabeth Miller, Vorsitzende einer Expertengruppe, die die WHO zur Polioausrottung berät. „Die Pocken waren auffälliger, die Symptome konnte jeder erkennen. Da war es leichter, im Falle eines Ausbruchs alle im Umkreis zu impfen.“

Trotzdem ist die GPEI erfolgreich. Im Vergleich zu 1988 ist die Zahl der gemeldeten Fälle um 99 Prozent gesunken. 2012 waren es noch 223 weltweit – ein historischer Tiefststand. Selbst in Indien, einst das Land mit den meisten Poliopatienten, zirkulieren seit zwei Jahren keine Polioviren mehr. Nur in drei Ländern sind sie noch heimisch: Afghanistan, Pakistan und Nigeria.

Dieses letzte Prozent ist widerspenstig. Es gibt Rückschläge. Von Nigeria aus fanden die Viren im Frühjahr ihren Weg zum Horn von Afrika, seitdem sind allein in Somalia mehr als 170 Menschen erkrankt. Polioviren aus Pakistan wurden im Dezember letzten Jahres im Abwasser von Ägypten gefunden. Seit April weiß man, dass sie auch nach Israel und in die palästinensischen Gebiete vorgedrungen sind.

Nun ist die Weltgemeinschaft abermals alarmiert: In Syrien, im umkämpften Deir al Zour, sind 22 Kinder mit typischen Lähmungen aufgefallen. Der letzte Nachweis steht noch aus, doch die WHO und Unicef gehen davon aus, dass es Polio ist. In zwei Jahren Bürgerkrieg ist die Gesundheitsversorgung zum Teil zusammengebrochen, etwa eine halbe Million Kinder wurden nicht geimpft. Die Eltern mussten für das unmittelbare Überleben ihrer Familien sorgen, Hunderttausende flüchteten. Gleichzeitig schafften überfüllte Notunterkünfte und schlechte hygienische Bedingungen beste Bedingungen für Seuchen wie Masern, Keuchhusten und Polio.

Damit sie nicht weiter um sich greifen, startete am vergangenen Donnerstag eine Notfallimpfaktion. Sie soll 2,4 Millionen Kinder in Syrien und weitere acht Millionen in den Nachbarländern erreichen. Beide Konfliktparteien sind einverstanden, doch kein Experte rechnet damit, dass es einfach wird. „Es kostet jedes Mal unglaublich viel Kraft und Geld, das Virus wieder aus vormals poliofreien Gebieten zu vertreiben“, sagt Heidi Larson, die mittlerweile an der London School of Hygiene and Tropical Medicine ein Projekt zum Vertrauen in Impfungen leitet. „Deshalb ist es so wichtig, Gerüchte rund um Impfungen zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren, bevor sich die Situation zuspitzt.“

Im Jahr 2003 zum Beispiel war das Ziel, Polio aus Nigeria zu verbannen, zum Greifen nahe. Plötzlich boykottierten die politischen und religiösen Führer dreier Staaten im Norden die Impfung. Ihre Argumente klangen haarsträubend: Die Polioimpfung würde Mädchen unfruchtbar machen, sie würde das Immunschwächevirus HIV übertragen, man könne davon Krebs bekommen. Alles eine Verschwörung des Westens gegen die Muslime. Und sie hatten Beweise! „Sie haben uns dicke Ordner überreicht, voller Versatzstücke aus dem Internet“, sagt Larson. „Wenn Menschen irgendetwas glauben, finden sie dafür Belege.“

Misstrauen gegen den Westen führte zum Impfboykott

Die tatsächlichen Gründe waren vielschichtiger. Amerika war gerade in den Irak einmarschiert, viele verstanden das als Krieg gegen die Muslime. Verdächtig war auch, dass die Impfhelfer mit kostenloser Medizin hausieren gingen. Schließlich fragte sonst auch niemand nach ihrer Gesundheit. Andere erinnerten sich daran, dass Pfizer in der Region etliche Jahre zuvor ein Mittel gegen Meningitis getestet hatte – ein Kind war damals gestorben. Auch wenn kein Zusammenhang nachgewiesen wurde, die Menschen fühlten sich als Versuchstiere benutzt und waren seitdem misstrauisch. Zu allem Überfluss hatte bei den Präsidentschaftswahlen gerade ein Kandidat aus dem christlichen Süden gewonnen. Die Machthaber im muslimischen Norden hatten kein Interesse daran, ihn vor den Augen der Welt gut aussehen zu lassen. Eine Mischung aus politischem Kalkül und echter Besorgnis hatte zu dem Boykott geführt.

Elf Monate dauerte es, bis die Machthaber in den drei Regionen einer nach dem anderen vom Gegenteil überzeugt waren. Es wurde unter anderem ein muslimischer Impfstoffproduzent gefunden, Proben in muslimischen Ländern getestet, Konferenzen organisiert. „Aber die Gerüchte waren in der Welt“, sagt Larson. „Sie sind bis heute da. Nur weil es sich die Führung anders überlegt, heißt das noch nicht, dass die Bevölkerung es ihnen sofort gleichtut.“ Prompt stiegen die Fallzahlen in Nigeria erneut. Während der Haddsch 2005 wurde das Virus von Zentralafrika über die Heiligen Stätten in Saudi-Arabien bis nach Indonesien getragen.

Mittlerweile wäre das nicht mehr möglich. Wer während der Haddsch nach Mekka und Medina pilgern will, muss heute eine Polioimpfung vorweisen. Es ist nicht die einzige Lektion, die die Welt in dieser Zeit gelernt hat.

Einer, der in Nigeria die Wogen glättete, ist Muhammad Ali Pate. Er studierte in den USA, machte Karriere, unter anderem bei der Weltbank. Nachdem 2008 die Weltgesundheitsversammlung Nigeria öffentlich getadelt hatte, rief der Präsident bei ihm an. Ob er seinen Lebenslauf schicken könne? Er suche nach einem Leiter der Task Force zur Polioeradikation.

Die Impfung gegen Kinderlähmung ist Teil einer umfassenden Vorsorge

Pate sagte zu. Fünf Jahre lang tauschte er Maßanzüge mit der traditionellen weißen Robe und Kappe. Auch als Gesundheitsminister konnte er die Verwaltungen auf regionaler und lokaler Ebene zu nichts zwingen, und so wurde er zum Diplomaten. Unermüdlich stattete er Emiren und Lokalregierungen Besuche ab, lobte, tadelte und erklärte. Wo immer es möglich war, brachte er nicht nur die Tropfen für die Polioimpfung mit, sondern auch Vitamin A und zum Teil andere Routineimpfungen. „Die Mütter wollen ihre Kinder zum Beispiel gegen Lungenentzündung und Masern schützen. Sie sehen, was die Krankheiten anrichten“, sagt Pate. Kinderlähmung dagegen sei selten geworden. Gerüchte rund um diese Impfung haben es deshalb leichter.

Bei „Pseudowissenschaftlern“ hört Pates Geduld auf. Schon der Boykott von 2003 wurde durch ihre Halbwahrheiten angeheizt, zehn Jahre später ist eine CD im Umlauf, die die Menschen vor der Polioimpfung warnt. Wohin das in einem Gebiet führen kann, in dem Gewalt an der Tagesordnung ist, zeigte sich im Februar in Kano, ein Staat im Norden Nigerias. Bewaffnete stürmten dort in zwei Kliniken, in denen sich Impfhelferinnen versammelt hatten. Sie erschossen zehn.

In Nigeria war das bislang ein einzelner Vorfall, doch ähnliche Angriffe gab es auch in Pakistan. Weil die CIA bei der Jagd nach Osama bin Laden eine Impfkampagne gegen Hepatitis nutzte, sind auch dort Polioimpfhelfer zum Ziel von Extremisten geworden. „Das hat wie ein Brandbeschleuniger gewirkt“, sagt Larson. Sie stehen nun vielen im Weg, die eigentlich die Impfung befürworten. Doch ihre Einschüchterungsversuche sind erfolglos. Die Impfhelferinnen machen weiter.

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