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Gletscher: Flüsse aus Eis

Viele Gletscher schrumpfen – mit dramatischen Folgen. In einem Wettlauf gegen die Zeit versuchen Glaziologen, noch möglichst viel über die Eismassen zu erfahren.

Es schneit. Selbst jetzt mitten im Hochsommer kann es in den höheren Lagen der Alpen und in anderen Gebirgen der Welt schneien. Und genau dort können Gletscher entstehen. „Fallen über Jahre hinweg mehr feste Niederschläge in Form von Schnee oder Graupel als abschmelzen, sammelt sich mit der Zeit einiges an“, sagt der Forscher Tobias Bolch von der Universität Zürich. Je höher sich der Schnee häuft, umso mehr Gewicht lastet auf den unteren Schichten. Anfangs besteht die weiße Masse überwiegend aus Luft. Diese presst der wachsende Druck jedoch mit der Zeit aus den tieferen Schichten heraus. Aus dem Schnee wird langsam Eis.

Dehnt sich das Eis über Flächen aus, die größer als die Schweiz sind, entstehen „Eisschilde“, von denen es derzeit aber nur zwei gibt: auf Grönland und in der Antarktis. Diese spektakulären Eismassen ziehen Forscher aus aller Welt an. Tobias Bolch und seine Kollegen erforschen die echten Gletscher in den Alpen, dem Himalaja oder den Anden – mit guten Gründen. Obwohl diese Gletscher insgesamt nur einen Bruchteil allen Eises auf der Erde enthalten, schmelzen sie derzeit so schnell, dass sie erheblich zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen.

Und sie versorgen die Menschen in manchen Regionen auch in trockenen Sommern zuverlässig mit Wasser. Verschwinden die Gletscher, können also auch die Bewohner der Umgebung kaum bleiben. Darüber hinaus stecken im Gletschereis Daten über das Klima der jeweiligen Umgebung, an die Forscher vor allem in den wärmeren Regionen der Erde sonst kaum herankommen.

Wie ein Gletscher entsteht.
Wie ein Gletscher entsteht.

© Fabian Bartel

Sobald in diesem Gletschereis der starke Druck von oben in der Tiefe die relativ schwachen Kräfte übersteigt, die übereinanderliegende Molekülschichten zusammenhalten, verformt sich das Eis. Ähnlich einer sehr harten Knetmasse, deren Form ein kräftiger Händedruck ändert, kommt so in eine große Eismasse sehr langsam Bewegung. Friert das Eis am Untergrund oder an den Seiten des Gletschers fest, stoppt diese Bewegung wieder, benachbarte Lagen werden gebremst. Bald haben die einzelnen Schichten unterschiedliche Geschwindigkeiten.

Mit steigendem Druck schmilzt das Eis eher, der Grund eines 500 Meter dicken Gletschers wird daher bereits bei minus 0,35 Grad Celsius wieder flüssig. „Liegen die Temperaturen über dem Schmelzpunkt, kann sich an der Sohle des Gletschers ein dünner Wasserfilm bilden, auf dem das Eis relativ schnell abwärtsgleitet“, sagt Christian Huggel, der ebenfalls an der Universität Zürich forscht.

Gletscher erreichen so erstaunliche Geschwindigkeiten. Als Rekordhalter gilt der aus dem Eisschild auf Grönland herausfließende Jakobshavn-Isbræ-Gletscher, der mit einem Tempo von bis zu 35 Metern am Tag an der Westküste Grönlands ins Meer rast. „Die meisten Gletscher sind aber viel langsamer unterwegs und legen jedes Jahr – wenn überhaupt – nur einige hundert Meter zurück“, sagt Bolch.

Manchmal beschleunigen solche „normalen“ Gletscher aus noch nicht genau bekannten Gründen allerdings für wenige Jahre enorm, nur um danach etliche Jahrzehnte wieder gemächlich weiterzugleiten. In einer solchen aktiven Phase erreichte der Bruarjökull in Island 1963 ein Tempo von 125 Metern am Tag.

Beim Fließen schmirgelt der gewaltige Druck den Untergrund ab. Manchmal sickert Schmelzwasser in Ritzen und Spalten, friert dort wieder fest und sprengt dabei Stücke aus dem Boden heraus. Stößt ein Gletscher im Untergrund auf ein großes Hindernis, wächst dort der Druck. Bildet sich dadurch Schmelzwasser, kann das Eis schneller fließen und wird von den nachfolgenden Massen über die Bodenschwelle gedrückt. Manchmal fließt das Eis also auch aufwärts. Insgesamt ist die Richtung aber eindeutig: bergab.

Irgendwo weiter unten schmilzt dann mehr Eis, als sich durch Schnee und Hagel neu bildet. Dort schrumpft der Gletscher. Da Eis nur langsam taut, fließen die weißen oder blauen Massen oft sehr weit: Der Fedtschenko-Gletscher im Pamir-Gebirge in Tadschikistan kommt aus einer Höhe von mehr als 6200 Metern über dem Meeresspiegel 77 Kilometer weit bis in rund 2900 Meter Höhe, wo sein Schmelzwasser sich auf den langen Weg in Richtung Aral-See macht. In den Alpen bringt es der Aletschgletscher immerhin noch auf eine Länge von 23,7 Kilometern.

Während Wissenschaftler die Länge eines Gletschers meist noch relativ einfach bestimmen können und Messungen von hohen Bergen in der Nachbarschaft oder aus Flugzeugen und Satelliten die Flächen des Eises liefern, sieht es bei der Masse schon schwieriger aus. „Steckt man Stangen in einen Gletscher, sieht man nach einiger Zeit an den länger werdenden Stangen, wie viel Eis inzwischen geschmolzen ist“, sagt Huggel. Das sei eine klassische Methode, Änderungen der Gletschermasse zu messen.

Inzwischen bestimmen die Forscher dieses Schmelzen auch mithilfe von Lasern und errechnen die Massenbilanz mit Computermodellen, erfahren damit aber immer noch wenig über die gesamte Dicke des Eises und damit über sein Volumen. Dazu müsste man die Form des Geländes unter dem Eis möglichst gut kennen. Diese lässt sich zwar grob abschätzen, weil sich die Geschwindigkeit des Gletschers mit dem Untergrund ändert und dadurch im Eis Spalten und Risse entstehen, die wiederum Rückschlüsse auf den Untergrund zulassen. Mit speziellen Radargeräten, die auf Schlitten montiert oder von Hubschraubern aus mit Frequenzen zwischen fünf und fünfzig Megahertz arbeiten, durchleuchten Forscher inzwischen das Eis auch bis in größere Tiefen. Trotz solcher raffinierter Methoden können die Schätzungen des Eisvolumens aber immer noch um zwanzig oder dreißig Prozent danebenliegen.

Entsprechend schwierig ist es, das Volumen des auf der Erde insgesamt vorhandenen Eises sowie die von ihm bedeckte Fläche zu bestimmen. Der Fernerkundungsspezialist Tobias Bolch nennt insgesamt eine Fläche von etwa 16,3 Millionen Quadratkilometern, die auf dem Globus unter Eis liegen. Im Vergleich damit sieht ganz Europa mit rund 10,2 Millionen Quadratkilometern eher bescheiden aus. Den mit Abstand größten Teil davon machen die Eisschilde auf Grönland und der Antarktis aus, die so groß und dick sind, dass sie nahezu das gesamte Gelände unter sich begraben. Sie enthalten mehr als 99 Prozent der gesamten Eismasse. Die eigentlichen Gletscher warten dagegen mit kümmerlichen 170 000 Kubikkilometern oder rund 0,6 Prozent der Masse des auf dem Globus vorhandenen Eises auf. Diese vergleichsweise winzige Masse aber liefert derzeit so viel Schmelzwasser, dass der Meeresspiegel jedes Jahr um rund 0,7 Millimeter ansteigt, berichteten Frank Paul und Tobias Bolch von der Züricher Universität und ihre Kollegen im Mai in der Fachzeitschrift „Science“. Die Antarktis und Grönland mit ihren gigantischen Eismassen dagegen liefern mit 0,8 Millimetern im Jahr kaum mehr Anstieg des Wassers in den Ozeanen.

Die Gletscher schmelzen also viel schneller als das Inlandseis. Und das bei Weitem nicht in allen Weltregionen gleichmäßig. „Gletscher entstehen durch das Zusammenspiel von Temperatur und Niederschlag“, erklärt Bolch. So bringen die Monsunwinde im Sommer nicht nur Indien, sondern auch den Hochlagen des Himalajas reichliche Niederschläge, die dort fast immer als Schnee fallen. Dort entstehen also große Gletscher, die bis in tiefere Regionen fließen und dort wieder schmelzen. Wenn der Klimawandel in den Tropen höhere Temperaturen bringt, verschwindet dieses Eis wie der Schnee in gemäßigten Breiten im Frühling. Ändern sich gleichzeitig die Niederschläge kaum, verlieren die Gletscher Eis.

Nordwestlich des Himalaja sieht die Situation im Karakorum und im Pamir-Gebirge ganz anders aus. Dort kommen die Niederschläge kaum vom Monsun aus dem Süden, sondern eher aus westlicher Richtung. Und sie nehmen anscheinend zu. „In diesen Gebirgen wachsen die Gletscher zur Zeit leicht“, schließt Bolch aus Satellitenbeobachtungen. Solche Gletschervorstöße gab es nach schneereichen Wintern in den 1980er Jahren auch in den Alpen und in den 1990er Jahren in Norwegen.

Es blieben allerdings nur Episoden. Heute ziehen sich die Gletscher in Europa genau wie in den meisten anderen Gebirgen der Erde wieder zurück. Schätzungen zufolge wird in 30 Jahren von den fünf deutschen Gletschern nur noch der Höllentalferner auf der Zugspitze übrig bleiben.

„Allein die fließenden Gletscher Grönlands verlieren ohne das Inlandseis jedes Jahr so viel Masse, dass ihr Schmelzwasser den Genfer See einmal füllen könnte“, schreiben Bolch und seine Kollegen im Fachmagazin „Geophysical Research Letters“. Das kann für die Menschen in verschiedenen Weltregionen verheerende Auswirkungen haben. Wenn im Sommer die Gletscher schmelzen, liefern sie nämlich viel Wasser in die Flüsse weiter unten. Das spielt im zentralen und östlichen Himalaja bisher nur eine geringe Rolle, weil die Flüsse dort im Sommer zusätzlich von den starken Monsunregenfällen versorgt werden. Weiter nordwestlich im trockeneren Karakorum dagegen regnet es im Sommer kaum und die Menschen brauchen das Gletscherwasser in den Flüssen, um ihre Felder zu bewässern und die Viehherden zu tränken. Da die Gletscher dort zurzeit eher wachsen, gibt es bisher keine größeren Probleme.

Auch in den tropischen Anden Südamerikas versorgen die Gletscher in den Hochlagen die Menschen in den Tälern während einiger Monate ohne Niederschläge mit Wasser. Anders als im Karakorum schrumpfen die Gletscher dort, Eis und Schmelzwasser werden knapp. „In der Cordillera Blanca in Peru flammen daher bereits erste Konflikte zwischen den Menschen in den Tälern um das lebensnotwendige Schmelzwasser auf“, berichtet Huggel. Mit den Gletschern schmelzen auch die Chancen dieser Menschen, in ihrer Heimat zu bleiben.

Forscher schätzen, dass Gletscher weniger als ein Prozent der Eismasse auf der Erde ausmachen. Die Eisschilde auf Grönland und der Antarktis dagegen tragen 99 Prozent bei.

An Orten, an denen es das ganze Jahr über schneit, können Schneemassen durch ihr eigenes Gewicht zu Eisfeldern werden. Diese Gletscher rollen langsam bergab.

Weil die Gletscher zurzeit viel schneller schmelzen, lassen sie den Meeresspiegel fast genauso stark steigen wie das Schmelzen der Eisschilde.

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