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Spekulativ. Angeblich werden jährlich Tausende von Klinikpatienten zu Opfern des überlasteten Personals.

© Olaf Döring/Imago

Fragwürdige "Studie": Kliniken: Mord aus ökonomischem Druck?

Angeblich sind deutsche Krankenhäusern lebensgefährlich, weil Ärzte und Pflegekräfte aus Überlastung töten. Den Beweis bleiben die Autoren schuldig.

Dass eine in keiner Fachzeitschrift veröffentlichte „Studie“ so viel Aufmerksamkeit erhält, dürfte eher selten vorkommen. Erscheinen die Ergebnisse in einem Buch, das sich den Titel von einer sonntäglichen TV-Krimiserie mit Kultstatus leiht, sieht die Sache offensichtlich anders aus. Zumal, wenn der SPD-Gesundheitsexperte, Arzt und Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach bei der Vorstellung des Buches assistiert. Der Psychiater Karl Beine und die Journalistin Jeanne Turczynski wollen in „Tatort Krankenhaus“ zudem einer eminent politischen Frage nachgehen: „Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert“, heißt der Untertitel.

Schon vor der Präsentation des Buches am gestrigen Mittwoch in Berlin hatte der Verlag eine schockierende Behauptung herausposaunt: Möglicherweise seien mehr als 21 000 Tötungsdelikte in jedem Jahr in deutschen Kliniken und Pflegeheimen zu beklagen, begangen durch Ärzte und Pflegekräfte. Eine ungeheuerliche Zahl – mehr als 36-mal höher als die Zahl polizeilich erfasster Morde und Totschlagfälle, wie Karl-Josef Laumann (CDU), der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, in einer ersten Reaktion zu bedenken gab.

SPD-Politiker Lauterbach verschafft Publicity - aber distanziert sich

Bei der Pressekonferenz wurde deutlich, dass diese Zahl eigentlich einen Warnhinweis tragen muss: Vorsicht, Schätzung! Erstens ist die unter der Leitung von Beine, Chefarzt in Hamm und Hochschullehrer an der Universität Witten-Herdecke, gestartete Befragung, auf die im Herbst 2015 Ärzte und Pflegekräfte aus Krankenhäusern und Heimen antworteten, nicht repräsentativ. Zweitens handelt es sich bei der Zahl um das Ergebnis einer Kalkulation, wie die Autoren betonen. Sie haben dafür die Selbstauskünfte von 5055 Mitarbeitern aus Kliniken und Pflegeheimen hochgerechnet. Drittens kann man auch die Frage selbst als problematisch betrachten.

Um eine Chance auf ehrliche Antworten zu haben, fragten Beine und seine Mitarbeiter verklausuliert: „Haben Sie schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?“ Ärzten könnten das als Frage danach missverstanden haben, ob sie bereits lebensverlängernde Behandlungen im Einklang mit dem Willen des Patienten beendet haben. Also als Frage nach ganz legaler passiver Sterbehilfe. Jedenfalls fällt auf, dass 3,4 Prozent der Ärzte die Frage bejahten, doch nur 1,5 Prozent der Krankenhaus-Pflegekräfte. „Die Zahl ist nicht für belastbar zu halten“, urteilte Lauterbach denn auch gleich zu Beginn.

Das bestätigte auch Beine. Der Psychiater, der sich seit 25 Jahren mit Krankenhausmorden beschäftigt und schon einige Untersuchungen zu Täterprofilen vorgelegt hat, sagte, er habe kein wissenschaftliches Buch geschrieben. Er wolle allerdings dafür sensibilisieren, dass die Persönlichkeit der Täter zusammen mit den heutigen Arbeitsbedingungen katastrophale Folgen haben kann.

"Das Gesundheitssystem fördert diese Delikte"

Breiten Raum nimmt im Buch die Geschichte des Intensivpflegers Niels H. ein, der in Delmenhorst und Oldenburg arbeitete und wegen mehrerer Taten in Haft ist. Er hatte Patienten mit todbringenden Spitzen behandelt, um sich anschließend als Held der Wiederbelebung profilieren zu können. Beine beschreibt ihn als unsichere Persönlichkeit, die auf Anerkennung fixiert, den Härten des Berufs und zusätzlichen persönlichen Problemen nicht gewachsen war, der aufgrund persönlicher Niedergeschlagenheit die Leiden der Patienten im schlimmsten Licht sah und dessen Hemmschwelle immer weiter sank.

Doch dass Menschen wie Niels H. als Einzeltäter bezeichnet werden, empfindet Beine als beschwichtigend. Der Chefarzt hat eine These, die darüber hinausweist. „Wir leben in einem Gesundheitssystem, das diese Delikte fördert“, sagt er. So wird das Buch über weite Strecken zur Kritik an der Ökonomisierung des stationären Gesundheitswesens, der Abrechnungsart nach Fallpauschalen, die einen Anreiz bildet, sich lukrative Fälle herauszugreifen und am Personal zu sparen. Die folglich zur Arbeitsverdichtung, zum Machtzuwachs des betriebswirtschaftlich ausgerichteten Managements und zur wachsenden Burn-out-Gefahr für die Mitarbeitenden führt. „Das System ist marode“, resümieren die Autoren.

Lauterbach: Das deutsche Gesundheitswesen ist gar nicht so übel

Diesen Satz teile er „weder als Politiker noch als Wissenschaftler“, antwortete Lauterbach auf Nachfrage des Tagesspiegels und verwies auf die überdurchschnittliche Qualität der Versorgung in vielen Gebieten der Medizin. „Unsere Ergebnisse sind verbesserungsfähig, aber sie können sich durchaus sehen lassen.“ Den ökonomischen Druck, insbesondere die Engpässe in der Pflege, prangert auch der Politiker an. Im Wahlprogramm seiner Partei werde sich die Forderung finden, dass Kliniken in den Fallpauschalen den Anteil der Pflege an den Kosten ausweisen müssen. „Tatort Krankenhaus“ könne als „Debattenbuch“ nützlich sein.

Die Debatte zur Ökonomisierung im Krankenhaus wurde allerdings in differenzierterer Form längst angestoßen. 2016 etwa veröffentlichte der Deutsche Ethikrat seine lesenswerte Stellungnahme „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus“. „Tatort Krankenhaus“ dagegen vereint zwei Bücher zu wichtigen Themen. Das Problem ist, dass die Brücke zwischen ihnen durch eine fragwürdige Zahl geschlagen wird.

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