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Deportation und Vernichtung. Die Schweiz wies zahlreiche jüdische Flüchtlinge von ihrer Grenze ab, obwohl die Konsequenzen bekannt waren.

© imago/imagebroker

Flucht vor dem Holocaust: Risiko Fluchthilfe

Die Berlinerin Luise Meier half in der NS-Zeit unter großer Gefahr Juden, in die Schweiz zu fliehen – bis sie verraten wurde.

Als die Nationalsozialisten im Oktober 1941 mit den reichsweiten Deportationen begannen, suchten immer mehr Verfolgte verzweifelt nach einem Ausweg. Das zur selben Zeit verhängte Auswanderungsverbot für Juden vom 23. Oktober 1941 machte eine legale Ausreise endgültig zunichte. Die Schweiz – das einzige an Deutschland angrenzende neutrale Land – war aber auch aus anderen Gründen kaum erreichbar: Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 an das Deutsche Reich waren mehrere tausend österreichische Juden in die Schweiz geflohen. Diese reagierte mit einer restriktiven Flüchtlingspolitik und wies seit August 1938 Personen ohne Visum zurück.

Das „volle Boot“ wurde zum Symbol dieser Politik. Da man glaubte, aus militärischen, politischen und wirtschaftlichen Gründen keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen zu können, verhängte der Bundesrat am 13. August 1942 eine (fast) totale Schließung der Grenzen und verstärkte deren Bewachung. Gelangten jüdische Flüchtlinge dennoch illegal ins Land, mussten sie mit ihrer Auslieferung an Deutschland rechnen. Dass dies einer Entscheidung über Leben und Tod gleichkam, war den Schweizer Behörden zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Auch wenn die einzelnen Kantone die Grenzschließung unterschiedlich streng handhabten, wurde sie erst am 12. Juli 1944 offiziell aufgehoben. Für die meisten Verfolgten kam dieser Kurswechsel zu spät.

Über 24.000 Menschen wies die Schweiz ab

Insgesamt beherbergte die Schweiz – bei einer Gesamtbevölkerung von unter vier Millionen – bis Mai 1945 knapp 300.000 Menschen, über 24.000 jedoch wurden abgewiesen. Unter den zivilen und militärischen Schutzsuchenden – entwichene Kriegsgefangene, Zwangsarbeitskräfte, Deserteure sowie nur kurzfristig aufgenommene Grenzflüchtlinge – befanden sich etwa 21.000 Flüchtlinge jüdischer Herkunft, darunter 1400 aus Deutschland.

Da die badischen und die Saarpfälzer Juden bereits im Oktober 1940 nach Frankreich deportiert wurden, lebten fast alle Verfolgten, die in den 1940er Jahren in die Schweiz gelangen wollten, fernab der Grenzregion und waren in dem oft schwierigen Terrain auf die Hilfe von Einheimischen angewiesen. Deren Kenntnisse des Geländes und der örtlichen Sicherheitssysteme waren durch nichts zu ersetzen. Knapp die Hälfte der jüdischen Frauen, Männer und Kinder im Deutschen Reich lebte um 1941 in Berlin; hier verbargen sich die meisten „Untergetauchten“.

Deshalb war eine Flucht in die Schweiz mit einer sehr weiten Reise zur Grenze verbunden, wofür man Geld, gut gefälschte Papiere und nicht zuletzt eine gehörige Portion Mut und starke Nerven brauchte. So stellten etwa die Ausweiskontrollen im Zug, von denen besonders Männer im „wehrfähigen“ Alter bedroht waren, eine große Gefahr dar.

Luise Meier war eine gläubige Katholikin

Ihren Anfang nahm die Geschichte des Fluchthilfenetzes um Luise Meier und Josef Höfler im vornehmen Berliner Villenviertel Grunewald, wo Luise Meier seit 1936 mit ihrer Familie lebte. Ebenso wie ihr Ehemann lehnte die gläubige Katholikin das NS-Regime ab und unterstützte jüdische Nachbarn, die zunehmend unter den verschiedensten Restriktionen litten. Im November 1942 entkamen zwei ihrer Nachbarinnen, Fedora Curth und Ilse Franken, in den Schweizer Kanton St. Gallen, indem sie nahe Bregenz durch den Alten Rhein schwammen. Luise Meier gelang es, diese gefahrenvolle Fluchtroute ausfindig zu machen und auf demselben Weg auch einem älteren jüdischen Ehepaar zur Flucht zu verhelfen. Herta und Felix Perls hatte sie zuvor in ihrer eigenen Wohnung im Grunewald versteckt, was besonders gefährlich war, da das Ehepaar Perls im Haus bekannt war.

Luise Meier, inzwischen verwitwet, war schließlich bereit, auch Lotte Kahle zu helfen, die im Oktober 1942 nur um Haaresbreite der Deportation entgangen und mit ihrem Freund und späteren Ehemann Herbert Strauss untergetaucht war.

Man ging arbeitsteilig vor

Zwei deutsche Fluchthelfer konnten gewonnen werden, die in Südbaden nahe der Schaffhauser Grenze lebten. Da dies der einzige Kanton der nördlichen Schweiz ist, der über eine längere Landgrenze zu Deutschland verfügt, schien diese Region für Fluchten besonders geeignet. Einer der Männer war Josef Höfler, der als Facharbeiter in der Rüstungsindustrie in Singen beschäftigt war. Der andere war der Elektromonteur Willy Vorwalder, ein Arbeitskollege Höflers bei den Aluminium-Walzwerken. Während Höfler zur Hilfe bereit war, da er das NS-Regime ablehnte, sah es Vorwalder als seine „menschliche Pflicht“ an, den Verfolgten beizustehen, wie er kurz nach Kriegsende angab. Zwischen Mai 1943 und Mai 1944 brachte Luise Meier gemeinsam mit den badischen Fluchthelfern etwa 28 jüdische Flüchtlinge aus Berlin auf Schweizer Boden.

Bei den Hilfsaktionen ging man arbeitsteilig vor: Häufig begleitete Luise Meier die in Berlin untergetauchten jüdischen Frauen und Männer persönlich auf der Fahrt nach Singen. Dort holte Willy Vorwalder sie am Bahnhof ab und brachte sie zu Josef Höfler, der sie dann an die Grenze führte.

Das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Helfern war nicht unproblematisch

Es zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen den Helfern einerseits und den Flüchtlingen andererseits nicht unproblematisch und von unterschiedlichen Interessen geprägt war. Die Konflikte lagen in der Natur der Sache. So waren die Verfolgten in erster Linie am Gelingen der eigenen Flucht interessiert und wollten beispielsweise möglichst lange von der Ortskenntnis der Fluchthelfer profitieren – während diese bemüht waren, das Risiko für sich, aber auch für den Fluchtweg so gering wie möglich zu halten. Auch wenn sie den Flüchtlingen einschärften, bei Verhören durch die Schweizer Polizei ihre Namen tunlichst zu verschweigen, lebten die Helfer mit der begründeten Angst, nachträglich noch aufgespürt und von der NS-Justiz zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Problematisch war auch, dass manche Flüchtlinge sich nicht an die getroffenen Absprachen, etwa bezüglich des Treffpunkts, hielten oder zusätzliche Begleitung mitbrachten. Auch waren die meisten unerfahren in konspirativem Verhalten und schätzten die Gefahr, die etwa ein mitgeführtes Gepäckstück in Grenznähe bedeutete, falsch ein. Dass das Risiko, Verdacht zu erregen, tatsächlich sehr groß war, sollte sich bald zeigen – und letztendlich auch zur Entdeckung und Festnahme aller Beteiligten führen.

Das Risiko der Entdeckung stieg

Die Hilfstätigkeit von Luise Meier hatte sich in Berlin herumgesprochen. Immer mehr Verfolgte meldeten sich bei ihr, ebenso andere Helferinnen, die nach einer Möglichkeit suchten, ihre Schützlinge in Sicherheit zu bringen, nicht zuletzt vor den immer stärker werdenden Luftangriffen. Mit der Zahl der Mitwisser stieg auch das Risiko der Entdeckung.

Im Herbst 1943 erhielt Luise Meier Post von einer Unbekannten, die um ein Treffen bat. Es war Hilde Staberock. Nachdem die Portiersfrau mitangesehen hatte, wie vor aller Augen Juden verhaftet und in Möbelwagen gepfercht wurden, um deportiert zu werden, war sie zu allem entschlossen. Sie ließ mehrere Verfolgte in den Büroräumen eines großen Berliner Geschäftshauses übernachten, das praktischerweise über zwei Ausgänge verfügte.

Schließlich sollte im Mai 1944 auch Emmi Brandt, die ebenfalls bei Hilde Staberock versteckt war, in Sicherheit gelangen. Doch im Regionalzug nach Singen fiel einem Arbeiter das Reisegepäck der Fremden auf, und er denunzierte sie bei der Polizei. Im Verhör gab Emmi Brandt die ihr bekannten Namen preis. Staberock, Meier, Höfler und Vorwalder wurden verhaftet.

Wer an Juden nur verdienen wollte, erschien weniger gefährlich

Von Interesse bei den Ermittlungen war offenbar, ob „in Berlin noch weitere Hintermänner ermittelt werden“ könnten und ob „die Meier nur ein Mitglied einer noch größeren Judenschlepporganisation ist“. Auch eine Rolle dürfte gespielt haben, ob die Beschuldigten – nach Einschätzung des Gerichts – primär aus humanitären Gründen gehandelt hatten oder vor allem aus materiellen Interessen. Denn wer an den jüdischen Flüchtlingen lediglich verdienen wollte, erschien den Machthabern weniger gefährlich als jemand, der aus Mitmenschlichkeit handelte und dessen Tun daher als Akt des Widerstands gegen das Regime ausgelegt wurde.

Doch zur Verhandlung kam es glücklicherweise nicht mehr. Über die Gründe kann aufgrund fehlender Gerichtsakten nur spekuliert werden. War der „Volksgerichtshof“ nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 mit Prozessen überlastet? Lag es am Chaos der letzten Kriegsmonate? Im Fall einer Verhandlung vor dem „Volksgerichtshof“, der für seine zahlreichen Todesurteile berüchtigt war, hätten die Beschuldigten mit dem Schlimmsten rechnen müssen. „Im Gegensatz zu meinen Mitgefangenen war ich niemals verzweifelt oder verzagt; obwohl ich an meinem Todesurteil nicht zweifelte, blieb ich heiter und zuversichtlich – gestärkt durch Gebete“, beschrieb Luise Meier 1955 ihre damaligen Empfindungen.

Schmerzhaft war es für die ehemaligen Helferinnen und Helfer, dass sie nach dem Krieg jahrelang um eine finanzielle Entschädigung für die Haftzeit beziehungsweise für die von der Gestapo beschlagnahmten Sachwerte kämpfen mussten. Bis auf Josef Höfler, der 1984 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde, blieb den Helfern eine offizielle Anerkennung zu Lebzeiten versagt. Erst posthum, im Jahr 2001, wurden Luise Meier sowie Josef Höfler und seine Frau Elise für ihre Hilfe von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet.

Der Text beruht auf einem Aufsatz in dem Buch von Else Krell „Wir rannten um unser Leben. Illegalität und Flucht aus Berlin 1943“, herausgegeben von Claudia Schoppmann. – 229 Seiten, Metropol, Publikationen der Gedenkstätte Stille Helden, Band 5, Berlin 2015, 19 Euro. Schoppmann stellt das Buch am 26. Februar um 19.30 Uhr in der Galerie Olga Benario, Richardstr. 104, Berlin-Neukölln, vor.

Claudia Schoppmann

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