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Schützling. In den ersten Wochen der Schwangerschaft sind Embryonen besonders anfällig für Fehlentwicklungen. Leicht geraten Medikamente, die die Mutter in dieser Zeit nimmt, in den Verdacht, der Auslöser dafür zu sein. Nicht immer zu Recht.

© picture alliance / Mary Evans Pi

Fehlbildungen bei Neugeborenen: Freispruch für umstrittene Hormone

Löst Duogynon Fehlbildungen aus? Forscher finden keinen ursächlichen Zusammenhang.

Die Harnblase wuchs außerhalb des Körpers, der Penis blieb verkümmert. Mehr als ein Dutzend korrigierende Operationen waren nötig. Schmerzen und Komplikationen mit einem künstlichen Blasenausgang blieben. Selten, aber immer wieder gibt es Fälle von fehlentwickelten Neugeborenen. Sie sind tragisch und bei jedem einzelnen Fall suchen Eltern und später mitunter der Betroffene selbst nach der Ursache. Jahrzehntelang stand das Medikament Duogynon der Berliner Pharmafirma Schering, die heute zum Bayer-Konzern gehört, im Verdacht, solche Fehlbildungen ausgelöst zu haben. Die Kombination der Hormone Norethisteron und Ethinylestradiol wurde Frauen als Schwangerschaftstest und auch als Mittel gegen ausbleibende Monatsblutungen bis 1973 verkauft, unter dem Namen Cumorit noch bis 1980. Jetzt hat eine britische Untersuchungskommission alle zur Verfügung stehenden Daten geprüft und erklärt, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Einnahme der Arznei und den Fehlbildungen nicht nachweisbar ist.

Der Sammler der Warnsignale

Damit bestätigen die britischen Kollegen das Urteil (pdf-Datei) Berliner Forscher, die 2012 keine Belege für eine fruchtschädigende Wirkung erkennen konnten. „Das Ergebnis ist identisch“, sagt Christof Schaefer. Dem Leiter des Pharmakovigilanzzentrums für Embryonaltoxikologie an Uniklinikum Charité kann eine Nähe zur Pharmaindustrie nicht nachgesagt werden. Seit fast 30 Jahren führt er den unabhängigen Dienst „Embryotox“, der Schwangere darüber berät, welche Medikamente sie nehmen können und welche sie besser absetzen sollten. Täglich werden etwa 70 Anfragen telefonisch bearbeitet, die Website embryotox.de hat bis zu 11.000 Besucher am Tag. Die Einrichtung ist weltweit einmalig.

„Es gibt wissenschaftliche Prinzipien, wie man ursächliche Zusammenhänge zwischen einem Wirkstoff und einer Nebenwirkung prüfen kann“, sagt Schaefer. Heute müsste ein Hersteller etwa 1000 Schwangere, die Duogynon bekommen, mit 1000 Schwangeren vergleichen, denen das Medikament nicht verabreicht wurde. Das war damals so nicht üblich.

Ein anderer Weg sei es, Informationen darüber zu sammeln, ob bei Einnahme einer Arznei in einer bestimmten Schwangerschaftswoche häufig und wiederkehrend die gleichen Fehlbildungen auftreten. „Schwangerschaften entstehen häufig ungeplant, so dass versehentlich Medikamente weiter genommen werden, bevor die Frau von der Schwangerschaft erfährt und das Medikament absetzen kann“, sagt Schaefer. Aus Berichten über solche Fälle lässt sich lernen, ob und wie ein Medikament Embryonen schadet. Seit Jahrzehnten sammelt Embryotox systematisch solche Hinweise.

Keine Häufung festzustellen

„Weltweit gibt es weder für Ethylylestradiol noch Norethisteron Informationen über eine Häufung von Fehlbildungen“, sagt Schaefer. Und das, obwohl die Wirkstoffe auch heute noch hunderttausendfach eingesetzt werden, beispielsweise in der „Pille danach“ zur nachträglichen Verhinderung einer Schwangerschaft.

Auffällig ist, dass die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (Bfarm) gesammelten Hinweise auf Fehlbildungen, bei denen die Mutter zuvor Duogynon genommen hat, im Vergleich zur üblichen Rate von Fruchtschäden überzufällig häufig Berichte über Blasenfehlbildung enthalten. „Das ist natürlich zunächst mal ein Verdachtsmoment“, sagt Schaefer. Doch nach sorgfältiger Prüfung kam die Forschergruppe zu dem Schluss: Erst weil einzelne Betroffene, die Duogynon für den Verursacher ihrer Blasenextrophie halten, ihren Verdacht in den Medien äußerten, hätten sich Menschen mit dieser Fehlbildung gemeldet. „So ist es zu einer selektiven Erfassung dieser Fehlbildung gekommen“, sagt Schaefer. Zum einen könne ein solcher „Berichtsfehler“ keinen kausalen Zusammenhang erklären, zum anderen: „Diese Fehlanlage der Harnblase ist international nirgendwo berichtet worden, nur in der Fallserie vom Bfarm.“

Verjährung statt Fakten

Hundertprozentig könne man eine Nebenwirkung für ein Medikament nie ausschließen, sagt Schaefer. „Aber wir können sagen, dass in diesem Fall ein Zusammenhang unwahrscheinlich ist.“ Diese Einschätzung hätten jetzt die britischen Kollegen unabhängig und ausgehend von anderen Daten bestätigt.

Unabhängig von der damit abgeschlossenen wissenschaftlichen Aufarbeitung, ist Schaefer mit der Kommunikationspolitik von Schering und dem Rechtsnachfolger Bayer nicht einverstanden. „Da ist einiges unglücklich gelaufen, zum Beispiel, dass Bayer den Fall aufgrund der Verjährungsfristen zu den Akten gelegt hat und nicht aufgrund der wissenschaftlicher Ergebnisse.“

Erst sorglos, jetzt übervorsichtig

Pharmafirmen hätten aus Fällen wie Duogynon zwar gelernt, seien aber inzwischen mit ihren Warnhinweisen nicht selten übervorsichtig. Heute würden Pharmafirmen so strikt vor der Medikamenteneinnahme in der Schwangerschaft warnen, dass sie Schwangeren, die unter schweren Krankheiten leiden, Angst machen, notwendige Medikamente zu nehmen, obwohl sie gar nicht fruchtschädigend sind. „Vor vielen Medikamenten, von denen die Firmen vorsichtshalber abraten, warnen wir nicht, weil sie hinreichend gut untersucht und verträglich sind“, sagt Schaefer. Ein Rat, den die Experten von Embryotox nicht auf die leichte Schulter nehmen. Doch bei ernsten Erkrankungen wie etwa Epilepsie kann das unnötige Absetzen von Arzneien schwerwiegende Folgen für die werdende Mutter haben – und damit auch für das Kind.

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