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Körpereigene Waffe. T-Zellen (violett eingefärbt) attackieren eine Tumorzelle.

© STEVE GSCHMEISSNER/SCIENCE PHOTO

Erste Gentherapie gegen Krebs: Lebende Medikamente

Eine revolutionäre Behandlung gegen Blutkrebs steht vor der Zulassung in den USA. Sie wird eingesetzt, wenn herkömmliche Mittel versagen.

Das Votum fiel einstimmig aus. Alle Mitglieder eines von der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA beauftragten Expertengremiums empfahlen vor kurzem erstmals die Marktzulassung einer Gentherapie gegen Krebs. Zellen von Krebskranken werden dabei gentechnisch so verändert, dass sie die Tumorzellen attackieren. Für die „New York Times“ bricht damit eine „neue Ära der Medizin“ an. Auch viele Experten sind elektrisiert.

Hersteller des „lebenden Medikaments“ mit Namen Tisagenlecleucel ist das Basler Pharmaunternehmen Novartis. Die Firma hatte der FDA Ergebnisse einer Studie an 63 Kindern und jungen Erwachsenen vorgelegt, die an einer akuten lymphoblastischen Leukämie mit B-Vorläuferzellen erkrankt waren.

Alle Patienten hatten bereits mehrere letztlich erfolglose Chemotherapie-Behandlungen oder Stammzelltransplantationen hinter sich und besaßen kaum noch Überlebenschancen. Die Gentherapie drängte bei 52 der 63 Teilnehmer (rund 80 Prozent) die Blutkrebszellen zurück, bei 40 Patienten waren sogar keine Leukämiezellen mehr nachweisbar. Nach einem Jahr lebten noch 80 Prozent der Kranken, bei herkömmlich Behandelten überleben in diesem Stadium lediglich 20 bis 40 Prozent das erste Jahr.

"Tausende von Kindern retten"

Die heute zwölfjährige Emily Whitehead war das erste Kind, das mit der Gentherapie behandelt wurde. Das war vor fünf Jahren. Zu jener Zeit bestand keine Hoffnung mehr, die Eltern diskutierten darüber, das Mädchen in einem Hospiz unterzubringen. Seit der Behandlung ist Emily frei von Leukämiezellen. Gemeinsam mit ihren Eltern berichtete sie beim FDA-Treffen über ihre Erfahrungen. „Wir glauben, dass diese Behandlung, wenn sie einmal zugelassen ist, das Leben von Tausenden von Kindern überall auf der Welt retten wird“, sagte Emilys Vater. Ein anderer Vater berichtete vom zwölfjährigen Kampf seines Sohnes gegen die Leukämie. Vor einem Jahr bekam der heute 15-Jährige dann die Gentherapie. Nun spielt der einst Geschwächte wieder Hockey, berichtete die „New York Times“.

Zwar sind das nur einzelne Fallgeschichten, aber sie illustrieren das Potenzial des neuen Therapieansatzes. Vorausgegangen waren Jahrzehnte der Forschung und ungezählte Rückschläge. Jetzt stehen neben Novartis noch weitere Firmen in den Startlöchern, um ihre Gentherapien zu vermarkten. Vorrangig geht es um die Behandlung von Blut-, Lymphknoten- und Knochenmarkkrebs, doch ist auch die Therapie der viel häufigeren soliden Tumoren (wie Brust-, Lungen-, Darm- oder Prostatakrebs) ein – vorerst in der Ferne liegendes – Ziel.

Das Aids-Virus als Gen-Taxi

Für die Gentherapie werden dem Patienten zunächst T-Zellen, eine wichtige Komponente des Immunsystems, aus dem Blut entnommen. Diese werden dann mit Hilfe von unschädlich gemachten Aids-Viren genetisch verändert. Die T-Zellen erhalten über das Virus die Erbinformation für eine Andockstelle namens CD-19-Rezeptor.

Der CD-19-Rezeptor wird von den Krebszellen massenhaft produziert. Sie machen sich damit zur Zielscheibe für die genetisch veränderten T-Zellen. Diese werden im Labor künstlich vermehrt und dem Patienten nach rund drei Wochen zurückgegeben. Tisagenlecleucel ist ein Medikament aus der Manufaktur. Es wird für jeden Kranken individuell hergestellt. Die Kosten für die – einmalige – Behandlung betragen schätzungsweise 300 000 bis 500 000 Dollar, möglicherweise noch mehr.

In Fachkreisen ist die Gentherapie auch als CAR-T bekannt, abgeleitet von Chimäre Antigen-Rezeptor-T-Zellen. Ihr Schöpfer ist Carl June von der Universität Pennsylvania. Der Wissenschaftler wurde 2015 zusammen mit James Allison (Universität Texas) mit dem Paul-Ehrlich- und Ludwig-Darmstaedter-Preis geehrt. Gemeinsam haben die Forscher einen alten Traum der Medizin, nämlich die Tumorbekämpfung durch das körpereigene Immunsystem, einen großen Schritt nach vorn gebracht. Junes Erfindung von CAR-T wurde von Novartis in Lizenz übernommen.

Eine Therapie-Zelle tötet bis zu 100000 Krebszellen

June bezeichnet „seine“ CAR-T sarkastisch als „Serienmörder“. Eine einzige genetisch getunte T-Zelle kann bis zu 100 000 Krebszellen umbringen. Diese enorme (und lang anhaltende) Wirkung hat ihren Preis. Die Behandlung hat erhebliche Nebenwirkungen.

Etwa jeder zweite Patient in der Novartis-Studie erlitt einen Zytokin-Sturm. Damit wird eine gefährliche Übererregung des Immunsystems durch die T-Zellen bezeichnet, die zu Fieber, Kreislaufproblemen und sogar zu Organschäden führen kann. Zu Tode kam dadurch aber keiner der Patienten.

Fast ebenso häufig traten Probleme mit Gehirn und Nervensystem auf, wie Verwirrtheit, Halluzinationen, Krampfanfälle, Muskelschwäche und Bewusstseinsstörungen. Sie bildeten sich stets zurück. Dennoch ist klar, dass die neue Behandlung in die Hände von Spezialisten gehört. Jederzeit muss die Möglichkeit bestehen, die Kranken intensivmedizinisch zu betreuen und notfalls zu beatmen.

In den USA wird die Therapie wohl dieses Jahr zugelassen. Einen Antrag auf Zulassung in der Europäischen Union will Novartis ebenfalls noch 2017 stellen.

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