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Nach dem Beben. Das Dorf Amatrice in Zentralitalien wurde durch Erdstöße am 30. Oktober 2016 völlig zerstört. Das Beben hatte eine Magnitude von 6,6.

© Massimo Percossi/dpa

Erdbebenforschung: Unter Trümmern begraben

Beben in Serie: Warum Italien immer wieder erschüttert wird – und was ein Frühwarnsystem bringt.

Manchmal hat er diesen alarmierten Blick. Dann sieht Thomas Braun Risse in den Häusern von Arezzo. Die Schäden im Mauerwerk fallen ihm ins Auge, sobald er aus einem der Katastrophengebiete in Mittelitalien zurückgekehrt ist. An solchen Tagen denkt er: „Wenn es hier ein schweres Erdbeben geben sollte, stürzt dieses Haus ein und jenes.“

Seit August 2016 seien in Mittelitalien 220 000 Gebäude durch Erdbeben zerstört worden, sagt der Wissenschaftler vom Institut für Geophysik und Vulkanologie in Arezzo. Wohnhäuser, historische Bauten, Kirchen. „Aber es hätte noch schlimmer kommen können.“ Denn statt über mehrere Monate verteilt hätte sich die Spannung in der Erdkruste viel plötzlicher entladen können.

Italien kommt nicht zur Ruhe

Braun hat einige der am stärksten betroffenen Ortschaften besucht. Anlässlich der soeben in Potsdam zu Ende gegangenen Jahrestagung der Deutschen Geophysikalischen Gesellschaft berichtete der 53-Jährige von seinen jüngsten Eindrücken und sprach über Gefahren für das Land. Denn eins ist sicher: Italien kommt nicht zur Ruhe.

In Frankfurt am Main aufgewachsen, widmete sich Braun schon während seines Studiums der Geophysik dem Vulkanismus in seiner Heimat. Der Vogelsberg ist das größte zusammenhängende Vulkangebiet in Mitteleuropa. Die erloschenen Vulkane im hessischen Bergland waren für den angehenden Geoforscher auf lange Sicht jedoch weniger interessant als die Feuerberge in Süditalien, von denen einer, Stromboli, nördlich von Sizilien gelegen, mehrmals in der Stunde glühende Asche speit. „Wegen Stromboli bin ich damals nach Italien gezogen“, sagt er.

Wo Vulkane Gestein zu feiner Asche verdampfen und Erdbeben Millionen Tonnen Fels gegeneinander verschieben, sind enorme Kräfte am Werk. In Italien treffen die eurasische und die afrikanische Platte aufeinander. Solche tektonischen Platten liegen wie Schollen auf dem Erdmantel, sind ständig in Bewegung, reiben aneinander und verkeilen sich dabei.

Sieben Millimeter pro Jahr

Mit einer Geschwindigkeit von etwa sieben Millimetern pro Jahr treibt die afrikanische Platte nach Norden. Sie hat einen Sporn in den europäischen Kontinent hineingetrieben. Am nördlichen Ende des Sporns türmen sich in einer breiten Knautschzone die Alpen auf. Ansonsten macht dieser Sporn nur den östlichen, den adriatischen Teil Italiens aus. Seine Grenze durchzieht das Land der Länge nach: entlang des Apennin, jener Gebirgszone, in der seit August 2016 Beben auf Beben folgte.

An dieser Bruchlinie klafft Italien auf. „Wenn man sich genau auf die Nahtstelle setzt, dann stellt man fest, dass sich der adriatische und der tyrrhenische Teil voneinander entfernen“, sagt Braun und stützt sich auf eine 14 Jahre andauernde Messreihe. Mithilfe von 478 solcher Stationen, die über ganz Italien verteilt die Signale von GPS-Navigationssatelliten empfingen, ermittelten Forscher der Universitäten Siena und Bologna die Bewegungen der verschiedenen Landesteile. Ihr Fazit: Die adriatische Seite Italiens driftet in Richtung Nordosten. Und zwar durchweg schneller als die Westhälfte, die ein weniger einheitliches Bild bietet. Das Land zerreißt. Sollte sich dieser Prozess fortsetzen, würde die italienische Adriaküste im Laufe der Jahrmillionen an den Balkan andocken.

Enorme Spannungen

Die enormen Spannungen konzentrieren sich in Zonen entlang des Apennin. Dort werden Gesteinsmassen ruckartig um eine oder mehrere Armlängen gegeneinander verschoben. Seismologen haben viele solche Bruchstellen ausgemacht. „Bei neuen Erdbeben werden bereits vorgefertigte Verwerfungsflächen reaktiviert“, erläutert Braun. „Ein Beben sucht sich immer die schwächste Stelle.“ Von dort aus verlagert sich der Druck zur nächsten Schwachstelle, dann zur übernächsten. Ein Dominoeffekt.

Aufgestaute Energie

Zwar seien die gefährdeten Gegenden bekannt. „Aber wir wissen nicht, wann und wie die Energie freigesetzt wird.“ Mal bauen sich die Spannungen nach und nach über viele kleine Erdbeben ab, mal ganz plötzlich über ein großes Beben, so etwa am 23. November 1980 im südlichen Apennin in Irpinia nahe Neapel. Dort pflanzten sich die Erschütterungen gleich über drei Verwerfungen hinweg fort. Das daraus resultierende Erdbeben der Stärke 6,5 auf der Richter-Skala war in Italien das schwerste der Nachkriegszeit. Etwa 3000 Menschen starben.

Mittelitalien dagegen wurde zuletzt von neun Erdbeben mit einer Magnitude stärker als fünf heimgesucht. Die Serie begann am 24. August 2016 mit einem Doppelschlag in der Grenzregion zwischen Latium, Umbrien und den Marken. Zuerst bebte der Untergrund nahe Amatrice, eine Stunde später lag das Epizentrum bei der Nachbargemeinde Norcia. Es gab etwa 300 Tote. Amatrice verwandelte sich in ein Trümmerfeld. Norcia kam glimpflicher davon. Seit den schweren Beben in den Jahren 1979 und 1997 waren dort etliche Gebäude mit Stahlankern gesichert worden.

Lebensrettende Sekunden

Der 30. Oktober 2016 übertraf auch hier schlimmste Befürchtungen. Gegen das heftigste Beben in Italien seit 1980 war die Altstadt nicht gefeit. Die Basilika di San Benedetto aus dem 13. Jahrhundert, weitere Kirchen und Teile der Stadtmauern fielen in sich zusammen. Menschen kamen nicht ums Leben. Sie hatten ihre Häuser längst verlassen. Die Evakuierung der Bevölkerung und der Zivilschutz hätten gut funktioniert, hebt der italienische Geophysiker Stefano Parolai hervor. „Dadurch konnten in Norcia viele Menschen gerettet werden.“ Parolai, in Genua geboren, lebt seit vielen Jahren in Potsdam. Ein Foto an der Tür zu seinem Arbeitszimmer verrät: Er ist Kickboxer. Bei dem Kampfsport ist Schutzausrüstung Pflicht. Und je schneller ein Angriff erkannt und die Verteidigung eingeleitet wird, umso größer der Erfolg.

Wie schnell lässt sich ein Erdbeben erkennen? Wie rasch kann die Bevölkerung geschützt werden?

Am Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) leitet Parolai das Zentrum für Erdbeben-Frühwarnsysteme. Das GFZ hat sich bereits durch die Tsunami-Frühwarnung einen Namen gemacht hat. Auch einem Tsunami geht meist ein starkes Erdbeben voraus, das den Meeresboden ruckartig anhebt oder senkt. Seismische Stationen an geeigneten Küstenstandorten registrieren ein solches Beben, lange bevor die ausgelöste Flutwelle die umliegende Küste erreicht. In der Zeitspanne zwischen dem Eintreffen der seismischen Wellen und der viel langsameren Meereswellen – unter Umständen eine, zwei oder drei Stunden – kann ein Lagezentrum eine Tsunami-Warnung ausgeben.

Die Idee hinter einem Erdbeben-Frühwarnsystem ist ähnlich: Ruckartige Erschütterungen des Untergrundes rufen schnelle seismische Wellen hervor, Primärwellen genannt, und etwas langsamere Scher- oder Oberflächenwellen, die die Schäden in Städten und Dörfern verursachen. Die Zeitspanne dazwischen ist zwar gering, gibt Parolai zu. Aber bei einem starken Erdbeben könnten für eine nahe gelegene Stadt wenige Sekunden von Bedeutung sein, zum Beispiel um Industrieanlagen stillzulegen, Züge anzuhalten oder Operationen zu stoppen.

Ein Netz aus Sensoren

Vor einem großen Computermonitor erläutert der 49-Jährige die Komponenten eines Frühwarnsystems, das er und seine Kollegen in Zentralasien installiert haben. Dieses dezentrale Netz aus Sensoren misst nicht nur die Primärwellen eines Erdbebens. Es schätzt auch automatisch ab, welche Bodenbewegungen sich daraus ergeben und welche Schäden für die Gebäude zu erwarten sind. „Hier in Bischkek zum Beispiel, der Hauptstadt von Kirgisistan, messen wir die Vibrationen in mehreren Gebäuden“, sagt Parolai und blendet die Häuser und aktuellen Messdaten ein. „Alles in Echtzeit!“

In Japan seien solche Systeme bereits seit acht oder neuen Jahren im Einsatz. In Italien gebe es bisher nur ein experimentelles Frühwarnsystem in der Umgegend von Neapel. Das Ziel der Forscher: eine möglichst schnelle Verfügbarkeit aller relevanten Erdbebeninformationen.

Allerdings kann kein Frühwarnsystem vorsorgliche Maßnahmen wie erdbebensicheres Bauen ersetzen. Hier gibt es in Italien Nachholbedarf. Das Land habe aber auch ein großes Erbe historischer Bauten zu verwalten, sagt Parolai. „Das stellt Italien vor Probleme.“

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