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Epigenetiker behaupten, Einflüsse in der Schwangerschaft prägen ein Kind lebenslänglich.

© picture-alliance/dpa

Epigenetik: Mutter ist mal wieder an allem schuld

Angeblich hat das Verhalten der Schwangeren entscheidenden Einfluss auf das kindliche Schicksal. Aber überzogene Behauptungen der Epigenetik können Frauen schaden, sagen Kritiker.

An Selbstbewusstsein mangelt es manchen Epigenetik-Forschern nicht. Ihr Fachgebiet mag der Öffentlichkeit nicht unbedingt geläufig sein, die Aussagen der Epigenetiker sind dafür umso kerniger. Einige Beispiele aus wissenschaftlichen Pressemitteilungen zur Epigenetik: „Schlechte Ernährung im Mutterleib verursacht permanente genetische Veränderungen beim Nachwuchs“; „Epigenetik, nicht Genetik führt zu Homosexualität“; „Lebenserfahrungen drücken ihren Stempel der nächsten Generation auf“.

Jetzt gibt es öffentlich geäußerte Kritik aus der Wissenschaft. Den Epigenetikern wirft ein Autorenteam um die Wissenschaftshistorikerin Sarah Richardson von der Harvard-Universität in einem Kommentar im Fachblatt „Nature“ vor, es sich mit manchen ihrer Aussagen allzu leicht zu machen. Frauen würden oftmals zu Unrecht mit Schuldgefühlen belastet, weil sie in ihrer Schwangerschaft etwas falsch gemacht und damit das Ungeborene auf immer geschädigt hätten.

Die Epigenetik beschreibt, was die Umwelt mit den Genen macht

Aber was ist eigentlich Epigenetik genau? Der Begriff ist nicht klar umschrieben, er ist ein bisschen alles und nichts zugleich. Früher bedeutete „Epigenetik“ einfach „Entwicklung“, also das Entstehen und Heranwachsen eines Organismus. Nach einer neueren Festlegung bezeichnet Epigenetik all jene Vorgänge, bei denen die Umwelt Einfluss auf die Gene nimmt.

Epigenetische Prozesse spielen sich „oberhalb“ der eigentlichen Gene ab (epi = auf). Gene werden epi-genetisch an- oder abgeschaltet, ohne dass ihre Sequenz verändert wird. Das An- und Abschalten geschieht, indem sie methyliert werden. Ein Prozess, bei dem eine Methylgruppe aus einem Kohlenstoff- und drei Wasserstoffatomen an die Erbinformation DNS angekoppelt und das Gen auf diese Weise stillgelegt wird. Während der Text der Erbinformation selbst unlöschbar gleichsam mit Kugelschreiber verfasst ist, sind die epigenetischen Markierungen nur mit Bleistift geschrieben und können immer wieder getilgt werden. Sie werden, wenn überhaupt, nur selten von einer Generation zur nächsten übertragen. Epigenetik ist entscheidend beim Heranreifen eines Lebewesens. Beispiel Schmetterling: Raupe, Puppe und Schmetterling haben die gleichen Erbanlagen, ihre unterschiedliche Gestalt verdanken sie epigenetischen Schaltvorgängen im Erbgut. Auch andere Einflüsse etwa aus der Umwelt wie Gifte, der Lebensstil und die Ernährung können die Erbinformation über die Epigenetik beeinflussen.

Die Möglichkeit, die eigenen Gene über die Epigenetik vermeintlich steuern und so sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können, rief die Medien auf den Plan. „Warum Ihre DNS nicht Ihr Schicksal ist“ titelte etwas das „Time“-Magazin 2010; Sachbücher gingen der Frage nach, „wie Erfahrungen vererbt werden“, „wie wir unser Erbgut steuern können“ oder „wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“.

Viele Rezepte für eine "gute" Epigenetik sind altbekannt

Der einst so unverrückbar erscheinende genetische Code war über Nacht vom Beton zur knetbaren Masse geworden. Auch wenn den kühnen Thesen in der Regel eher dürftige Belege beigefügt wurden und die Rezepte – viel Sport und gesunde Ernährung – meist altbekannt sind.

Oft stehen Frauen und Schwangere im Mittelpunkt der Berichterstattung zur Epigenetik. „Großmutters Erfahrungen haben sich in deine Gene eingegraben“ meldete das US-Magazin „Discover“. „Schwangere Überlebende des 11. September übertrugen das Trauma auf ihre Kinder“, behauptete der britische „Guardian“. Eine pädagogisch-wohlmeinende Webseite (Beginbeforebirth.org) porträtierte in einem Video einen 19-jährigen Straftäter. Und fragte, ob sein kriminelles Verhalten schon im Mutterleib durch Schwangerenvorsorge hätte gebessert werden können. Im besten Fall würden solche Annahmen den Stand der Forschung großzügig auslegen, kommentiert Richardson in „Nature“.

Das Bezichtigen der Mütter hat Tradition, meinen die Autoren. Schon früher wurden Frauen beschuldigt, für die schlechte Gesundheit oder das Fehlverhalten ihrer Kinder verantwortlich zu sein. Ein unstrittiges Beispiel ist das durch Alkoholmissbrauch der Schwangeren hervorgerufene fetale Alkoholsyndrom. Zugleich seien jedoch die Risiken durch geringen oder moderaten Alkoholkonsum der Mutter übertrieben dargestellt worden, schreibt Richardson.

"Kühlschrank"-Mütter bringen Autisten hervor, hieß es früher

Noch in den 1970er Jahren wurden kaltherzige „Kühlschrank“-Mütter bezichtigt, am Autismus ihrer Kinder schuld zu sein. Und bis ins 19. Jahrhundert führten Mediziner angeborene Fehlbildungen, geistige Behinderungen und kriminelle Tendenzen auf die Ernährung der Mutter und ihr schwaches Nervenkostüm zurück.

Die Kommentatoren in „Nature“ schlagen Forschern, Journalisten und Lehrenden vor, behutsam mit der Information aus Epigenetik-Studien in der Öffentlichkeit umzugehen, die Vorläufigkeit der Untersuchungen hervorzuheben und sich vier Einschränkungen vor Augen zu halten. Zum einen sollte man nicht Studien an Tieren eins zu eins auf den Menschen übertragen (ein in der Epigenetik nicht unübliches Verfahren). Zweitens seien auch väterliche Prägungen (über das Spermium) bedeutsam.

Drittens – ein sehr wichtiger Aspekt – ist das Kind im Mutterleib einer Fülle unterschiedlichster Faktoren ausgesetzt. Gene, Lebensstil, sozioökonomische und Umwelteinflüsse spielten bei Krankheitsrisiken eine Rolle. Und schließlich habe auch die Gesellschaft einen Einfluss auf das Kind.

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