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Von der Hand des Meisters. Theodor Fontane hinterließ tausende Handschriften, die jetzt ins Internet gestellt werden sollen.

© Zenodot Verlagsgesellschaft mbH

Digitale Nachlässe von Dichtern und Denkern: Im Netz der großen Geister

Heine, Leibniz, Fontane: Immer mehr Briefeditionen stehen online. Damit können ganze Werke neu erforscht werden - und die Netzwerke der Dichter und Denker.

Er war ein manischer Briefeschreiber, vielleicht der fleißigste der Welt. Mehr als 20 000 Briefe hat der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hinterlassen. Mit rund 1 300 Zeitgenossen stand Leibniz schreibend in Kontakt, darunter Spinoza, Isaac Newton und Kurfürstin Sophie. Früher hätte man lange in der gedruckten Gesamtausgabe hin und her blättern müssen, um die einzelnen Korrespondenzen zu rekonstruieren. Seit wenigen Wochen ist nun ein Großteil der Leibniz’schen Korrespondenz der historisch-kritischen Akademie-Ausgabe im Internet einsehbar. Die frei zugängliche Datenbank an der Uni Göttingen bietet Zugang zu 10 000 Briefen. Auf der Webseite lässt sich mit wenigen Klicks gezielt nach Personen und ihren Briefen von und an Leibniz suchen.

Mit seinem Datenbankprojekt befindet sich das Leibniz-Archiv in bester akademischer Gesellschaft. Immer mehr Briefeditionen und Gesamtausgaben sind im Internet kostenlos zugänglich. Die Werke des Komponisten Carl Maria von Weber sind ebenso online wie die Briefedition des Schweizer Eisenbahnunternehmers Alfred Escher oder die Briefe von Vincent van Gogh.

Ellenlange PDFs im Netz helfen Forschern kaum weiter

Doch nicht nur die Digitalisierung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Editionswissenschaftler und Informatiker arbeiten vor allem daran, die Werke besser durchsuchbar und verknüpfbar zu machen. Denn eine Gesamtausgabe, die lediglich in Form eines ellenlangen PDFs im Netz steht, hilft Forschern kaum weiter.

Für Michael Kempe, Leiter der Leibniz-Forschungsstelle in Hannover, ist die Personen- und Korrespondenzdatenbank daher der erste wichtige Schritt auf dem Weg zu einer echten digitalisierten Leibniz-Edition. „Zunächst mussten dafür die technischen Voraussetzungen geschaffen werden, das war ein großer Kraftakt.“ Alle Metadaten, also unter anderem die Personen-, Zeit- und Ortsangaben zu jedem einzelnen Brief, mussten ins Netz übertragen und dann mit den entsprechenden Seiten der digitalisierten Gesamtausgabe verlinkt werden. Nur so lassen sich die zwei Briefe, die sich Leibniz und Spinoza 1671 geschrieben haben, wirklich mit wenigen Klicks finden.

Originaldokumente als Scans einbinden

Die Verlinkung ist aber nicht die einzige Herausforderung. Bei der Programmierung müssen außerdem Schnittstellen eingefügt werden, damit die Datenbanken in Zukunft weiter ausgebaut werden können. Denn viele weitere Inhalte und Funktionen sollen folgen. „Demnächst wird die Datenbank um eine Volltextsuche erweitert“, erklärt Kempe. Außerdem soll es irgendwann möglich sein, die Korrespondenznetzwerke zu visualisieren. „Und natürlich wollen wir Originaldokumente als Scans einbinden.“ Leibniz hat seine Briefe stets sorgfältig vorbereitet, oft sind zahlreiche Entwürfe und Konzepte erhalten. „Wenn man in Zukunft von dem editierten Fließtext direkt auf die verschiedenen Textzeugen klicken könnte, wäre das für die Forschung enorm spannend“, sagt der Historiker.

Am Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf hat man diese Zusammenführung bereits hinter sich. Im Rahmen eines fünfjährigen DFG-Projektes wurde zwischen 2002 und 2007 die Webseite www.heine-portal.de erstellt, es war eines der digitalen Pilotprojekte in den Geisteswissenschaften. Auf der Seite findet sich mittlerweile die wissenschaftliche Gesamtausgabe von Heinrich Heines Werken und Briefen, verknüpft mit digitalisierten Handschriften-, Bild- und Buchbeständen. „Ziel des Projekts war es, Heines Werke und Briefe jederzeit und überall, unabhängig von Bibliotheksöffnungszeiten und -standorten, zugänglich zu machen“, erklärt Thomas Burch vom Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in Trier, das an der Entstehung des Portals mitgewirkt hat.

Tausende Handschriften Fontanes werden vorbereitet

Dass in den letzten Jahren immer mehr Werke ins Netz gewandert sind, macht aus seiner Sicht doppelt Sinn: „Einerseits besteht ein großes Interesse daran, die Durchsuchbarkeit zu ermöglichen beziehungsweise die Vernetzbarkeit mit anderen Werken anzubieten.“ Andererseits müssten Nachlässe aus konservatorischer Sicht ohnehin digitalisiert werden. Je älter das Papier, desto häufiger ist es von Säurefraß oder anderen Verfallserscheinungen bedroht. Wenn Scans im Netz verfügbar sind, müssen die empfindlichen Originale nicht mehr zu Forschungszwecken aus dem Archiv geholt werden.

Das Potsdamer Fontane-Archiv will in den kommenden Jahren ebenfalls tausende Handschriften des Schriftstellers ins Internet stellen. „Alles ist bereits eingescannt und digitalisiert“, sagt Archivmitarbeiterin Anke Hertling. Die Digitalisate liegen als Bilddateien vor, und die Metadaten sind in einer Datenbank erfasst. Noch aber ist das eine nicht mit dem anderen verknüpft.

Marburg will die gesamte Korrespondenz Schlegels aufbereiten

Außerdem muss eine nachhaltige technische Infrastruktur für das digitale Archiv gebaut werden. Kleinere Literaturarchive haben meist keine eigene IT-Abteilung, deshalb werden externe Dienstleister eingebunden. Das alles kostet Geld. Wann Theodor Fontanes Handschriften fürs Internet aufbereitet sind, hängt deshalb auch davon ab, ob das Archiv Drittmittel auftreiben kann. „Wir sind sehr an der Veröffentlichung einer Briefedition interessiert“, betont Hertling.

Andere Projekte haben ihre Finanzierung bereits beisammen. An der Philipps-Universität Marburg kümmert sich ein Team seit drei Jahren um die digitale Briefedition von August Wilhelm Schlegel (1767–1845). Das geschieht in Zusammenarbeit mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, wo sich der Hauptteil des Nachlasses des Schriftstellers befindet. Seit Juni vergangenen Jahres ist die entsprechende Webseite im Netz, noch in einer Beta-Version. Über 4000 faksimilierte Briefe können mittlerweile eingesehen werden, 2 500 davon liegen schon als digitaler Text vor. In einigen Jahren soll die gesamte Korrespondenz Schlegels digital aufbereitet sein.

Archiviert. Die Originale (hier eine Fontane-Schrift) können besser bewahrt werden, wenn Scans vorhanden sind.
Archiviert. Die Originale (hier eine Fontane-Schrift) können besser bewahrt werden, wenn Scans vorhanden sind.

© picture alliance / dpa

Doch bis dahin ist noch viel Arbeit nötig. Viele der Schlegel-Briefe sind noch nicht einmal transkribiert, außerdem sind sie über Archive in der ganzen Welt verteilt. Die Webseite will auch für dieses Problem zukünftig Abhilfe schaffen: Über Standardschnittstellen können andere Institutionen ihre Schlegel-Digitalisate samt Metadaten einspeisen. „Unser Projekt soll problemlos mit anderen Projekten vernetzbar sein“, sagt Claudia Bamberg, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Marburg. Denn irgendwann läuft bei den meisten Digitalisierungsprojekten die Finanzierung aus. Wenn die digitalen Editionen dann nicht mit einer gängigen Software erfasst und an zentralen Speicherorten abgelegt wurden, „dann entstehen Dateninseln oder schlimmstenfalls sogar Datenfriedhöfe“, sagt Bamberg.

Die wissenschaftliche Community darf kommentieren

Die Wissenschaftler wünschen sich genau das Gegenteil. Je mehr Werke und Briefe im Internet verfügbar sind, und je besser sie dort aufbereitet und mit weiterführenden Informationen verlinkt sind, desto intensiver lässt sich mit dem Material arbeiten. Wenn Original und historisch-kritisch editierter Brief nebeneinanderstehen, kann zum Beispiel jeder Nutzer unmittelbar die Lesart des Herausgebers nachvollziehen. „Die Arbeit der Editoren wird transparenter“, sagt Bamberg. Für die Schlegel-Webseite ist zukünftig auch eine Kommentarfunktion vorgesehen, damit die wissenschaftliche Community gegebenenfalls Hinweise oder Korrekturvorschläge hinterlassen kann.

Die digitalisierten Editionen ermöglichen aber auch ganz neue Forschungsansätze. Die Korrespondenznetzwerke einer bestimmten Zeit könnten sichtbar gemacht werden, hofft Burch. Dadurch seien neue Erkenntnisse über historische Kommunikationsstrukturen und Informationsflüsse möglich. „Schlegel hat mit rund 700 Personen des literarischen und kulturellen Lebens korrespondiert“, sagt Bamberg. „Das ist ein Spiegel der gesamten Epoche.“ Bislang habe die Wissenschaft sich um diese Korrespondenzen wenig gekümmert. Auch im Falle von Leibniz sei dieser Ansatz interessant, sagt der Historiker Kempe. „Er war international vernetzt mit Fürsten, mit der politischen Obrigkeit, mit vielen Wissenschaftlern.“ Wann wurde mit wem über was gesprochen, wie haben sich Themen oder Thesen verbreitet? Die Datenbanken werden helfen, auf solche Fragen Antworten zu finden.

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